Madeleine Thien - Jene Sehnsucht nach Gewissheit

  • Madeleine Thien - Jene Sehnsucht nach Gewissheit (Certainty)


    Madeleine Thien, eine junge kanadische Autorin, 1974 geboren, legt mit "Jene Sehnsucht nach Gewissheit" ihr Debut vor. Thiens Eltern stammen aus dem asiatischen Raum, diesen kulturellen Hintergrund verarbeitet sie sehr stark im Roman.


    Eine Familiengeschichte über zwei Generationen: Gail und ihr langjähriger Lebensgefährte Ansel sind Ende 30 und die Protagonisten der jüngeren Generation. Ansel ist Lungenspezialist, Gail macht Reportagen für das Radio; eines ihrer letzten Projekte ist ein vom Schreiber verschlüsseltes Kriegstagebuch, das aber selbst für ihn unlesbar geworden ist, da er nach dem Krieg den Code vergessen hat. Die Recherchen hierfür führen sie in die Niederlande, wo sie nicht nur die Vergangenheit des Offiziers, sondern die ihres Vaters Matthew zu enträtseln versucht.
    Matthew wuchs in Nordborneo auf, wo er zusammen mit seiner Freundin Ani nach einer kurzen unbeschwerten Kindheit den Krieg durchleben muss. Traumatische Erlebnisse müssen beide Kinder verarbeiten und als sie sich Jahre später wiedersehen, ist die alte Vertrautheit schnell wieder da. Doch Matthew soll nach Australien, um zu studieren und beide müssen entscheiden, wie ihr Leben weitergehen soll.


    Thiens Figuren erleiden Verluste: sie verlieren geliebte Menschen, sie verlieren ihre Heimat, sie verlieren oder zweifeln an der Liebe und ihren Beziehungen. Der Roman lebt nicht nur von den erzählten Geschichten, er lebt von den Figuren, ihren Emotionen.
    Über drei Kontinente hinweg belebt Thien den Roman mit zahlreichen Nebencharakteren, einem kanadischen AIDSkranken begegnet der Leser ebenso wie einem malaiischen Fischer. Sie erzählt unchronologisch, springt in Raum und Zeit, es werden zahlreiche Rückblenden verwendet, es wird aus der Perspektive verschiedener Figuren erzählt. Das klingt kompliziert, ist aber wunderbar klar zu lesen. Und es passt zu den Figuren, für die die Vergangenheit immer Teil ihres Lebens bleibt, die sich mit Fotos, Tagebüchern und Tondokumenten beschäftigen.
    Ich bin an diesen Roman absolut ohne Erwartungen herangegangen und wurde sehr positiv überrascht, von der vielseitigen Handlung und Erzählweise, von der emotionalen, bilderreichen Sprache.
    Eine Entdeckung!


    Katia

  • Wo kommen wir her ? Wer waren meine Vorfahren, welche Geschichte haben sie erlebt und was hat sie mit mir zu tun ? Welche Kräfte, mir bewusste und noch mehr meinem Bewußtsein nicht zugängliche, wirken aus der Vergangenheit auf mich ein ? Besonders aus den Teilen der Vergangenheit, die unklar, mit Schuld beladen und dunkel sind. Seit der Psychoanalyse Sigmund Freuds wissen wir, dass Vergangenes so lange in der Psyche wieder kehrt, bis es bearbeitet und bewältigt ist. Aus der Familietherapie kennen wir aus den von Bert Hellinger entwickelten Familienaufstellungen, so umstritten sie auch sein mögen, die enorme Kraft von Familiensystemen auf das Leben der Menschen.


    In der Regel leben wir ohne rechte Erinnerung an unsere Familienvergangenheiten. Fotoalben zu erstellen, sie zu beschriften und sie zusammen mit seinen Kindern immer wieder anzuschauen und die dazu passenden Geschichten und Anekdoten zu erzählen, diese Tradition mutet im Zeitalter der Digitaltechnik antiquiert an. Der Rezensent allerdings hält an dieser Tradition fest, seit er selbst im späten Lebensalter Vater eines kleinen Sohns geworden ist.


    Die Autorin des vorliegenden Buches "Jene Sehnsucht nach Gewissheit", eines beeindruckenden Erstlingswerkes, hat sicher viele biographische Erfahrung in ihren Roman eingearbeitet. Sie versucht zu schreiben in einer "Sprache, in der deine Mutter dich liebte" und ihr gelingt dieses Kunststück auf das Allerbeste. Sie schreibt mit einer Hingabe und gedanklichen Tiefe, die den Leser das ganze Buch über fesselt und sehr bewegt. Das Buch erzählt von der verzweifelten Suche nach menschlichen Grundwahrheiten mitten in einer sehr persönlichen Trauerarbeit.


    "In der Zeit, die die Zukunft hätte gewesen sein sollen" (mit diesen Worten beginnt das Buch), suchen die Hinterbliebenen einer plötzlich verstorbenen Rundfunkjournalistin nach einer Neuorientierung in einer Welt, die ihnen sinnlos geworden ist.
    Madeleine Thien gelingt es, sehr sensibel sich in die Gefühlswelt von Trauernden hineinzudenken mit einer Sprache, wie ich sie so schon lange nicht mehr gelesen habe. Sie schafft es in Seelenlandschaften vorzudringen, von denen man glaubt, dass sie für Sprache kaum einen wirklichen Zugang haben.


    Sie durchdringt Schicht für Schicht die Vergangenheit der einzelnen Figuren. Das Leben der verstorbenen Journalistin und deren Wunsch nach Aufklärung in Familie und Beruf wird genauso aufgearbeitet wie das Leben der hinterbliebenen Eltern, deren Auseinandersetzung mit dem Tod der Tochter vor allem in die eigene Vergangenheit führt.


    Ihre Figuren, und wohl auch sie selbst bewegt "die Hoffnung, dass unser Wissen uns zu guter letzt erlösen wird, dass wir finden, das bleibt, auch noch im unendlichen, ungewissen Jenseits."


    Wer je einmal an einer Familienaufstellung teilgenommen und sich selbst eingebracht hat, wird bestätigen, dass in diesem Rückblick, dem Nachgeben der "Sehnsucht nach Gewissheit" ein Versöhnungs- und Erlösungspotential liegt, das etwa die christlichen Kirche noch gar nicht hinreichend begriffen haben.


    Einstein, mit dem Madeleine Thien ihr Buch einleitet, wusste davon:
    "Denn für uns überzeugte Physiker ist die Unterscheidung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nur eine Illusion, wenn auch eine hartnäckige.“