Margriet de Moor: Sturmflut

  • Margriet de Moor - Sturmflut


    Inhalt (Kopie von Amazon)


    Einer plötzlichen Laune gehorchend tauschen zwei Schwestern über das Wochenende ihre Rollen. Die eine, Lidy, fährt zum Geburtstag der Patentochter der anderen, Armanda, auf die Nordseeinsel Schouwen-Duiveland. Daheim in Amsterdam kümmert sich Armanda währenddessen um Lidys Mann und die kleine Tochter.


    So weit, so unspektakulär. Doch weil das ganze ausgerechnet an jenem Wochenende vom 31. Januar auf den 1. Februar 1953 passiert, an dem die niederländische Küste von der seit Jahrhunderten schlimmsten Sturmflut heimgesucht wird, die Dutzende Deiche wegspült und beinahe die gesamte Region Zeeland verschluckt, kostet der kleine Rollentausch die 23-jährige Lidy das eigentlich gerade erst beginnende Leben. Das führt stattdessen Armanda, deren Idee der Wochenendtausch gewesen war, an der Seite von Lidys Mann und als Mutter der Tochter für sie fort. Ganz so, wie sie es sich schon zuvor in ganz kurzen Momenten insgeheim ausgemalt hatte.


    Meine Meinigung:


    Der Roman nimmt auf eine Naturkatastrophe in den Niederlanden 1953 Bezug, von der heute kaum noch etwas bekannt ist. Auch mir war nicht bekannt, dass in der Schicksalsnacht vom 31. Januar zum 01.05.1953 ganze Dörfer von der Landkarte verschwunden sind und viele, viele Menschen in den Tod kamen.


    An dem Buch gefällt mir, dass die Geschehnisse in dieser Nacht, so wie sie Lidy erlebt hat, sehr eindrucksvoll und in dunklen Farben beschrieben werden. Man spürte förmlich das Wasser auf einen zukommen.


    Auf der anderen Seite war mir die Geschichte um die verhängnisvolle Verabredung zum Tausch der Verabredungen zu seicht und vorhersehbar. Schon zu Anfang war klar, dass Armanda den Ehemann von ihrer Schwester Lidy insgeheim auch liebte und fast wie selbstverständlich die Rolle der Mutter für die kleine Tochter übernahm und kurz nach der formellen Toderklärung der Schwester auch ihren Schwager heiratete. Hier hätte ich mir etwas mehr Spannung erhofft.

    :flower: Das Leben findet immer einen Weg und blüht pötzlich da wieder auf, wo man es am wenigsten erwartet.


  • In der Nacht auf den 1. Februar 1953 kam es durch das gleichzeitige Auftreten einer normalen Springflut und eines zusätzlichen Jahrhundertsturms zu einer katastrophalen Sturmflut, die in den südlichen Provinzen Hollands, Zeeland, Zuid-Holland und Nord-Brabant 1853 Menschen das Leben kostete. Ganze Landstriche verschwanden innerhalb von Stunden für immer von der Landkarte. 70 000 Menschen mussten evakuiert werden. 200 000 Nutztiere ertranken in der Flut, 3000 Wohnungen und 300 Höfe wurden vollständig zerstört oder weggeschwemmt. Insgesamt wurden damals 200 000 Hektar Ackerland überflutet und durch das Salzwasser für eine lange Zeit unfruchtbar gemacht. 10% der niederländischen Ackerfläche war damit verloren.
    Für die Niederlande bedeutete dieses Unglück knapp acht Jahre nach den furchtbaren Leiden, die dieses kleine Land durch Nazi-Deutschland erleben musste, eine nationale Katastrophe, die bei den Menschen, die sie damals miterlebt haben, bis heute eine tiefe Wirkung hinterlassen hat.
    Nach dieser Sturmflut unternahmen die Niederlande bisher nicht für möglich gehaltene Anstrengungen, daß ein solches Unglück nie mehr geschehe. Gigantische Sperrwerke und eine immer ausgeklügeltere Deich- und Entwässerungstechnik wurden ausgedacht. Heute, angesichts drohender Erhöhung der Meeresspiegel durch die sogenannte Klimakatastrophe ist das Thema so aktuell wie nie.


    Ob es auch solche Gedanken waren, die Margriet de Moor bewogen haben, nach einem erfolglos gebliebenen Versuch vor einigen Jahren, sich erneut dem Thema dieser Sturmflut zuzuwenden, wissen wir nicht.
    Tatsache ist, daß ihr mit "Sturmflut" ein Roman gelungen ist, der das Schicksal zweier Schwestern und ihrer Familie geschickt verknüpft mit einer dramatischen und an Spannung nicht zu überbietenden Schilderung eines Geschehens, dessen Beschreibung allein schon großes schriftstellerisches Können voraussetzt.


    Das Buch handelt von Tidy, der älteren und von Armanda, der jüngeren Tochter einer angesehenen Arztfamilie. Tidy ist verheiratet mit Sjoerd, einem Bankangestellten mit großen Karriereaussichten und hat eine kleine Tochter, Nadja, die sie früh geboren hat. Armanda ist noch Jungfrau, wartet ungeduldig auf den Richtigen und ist Patentante eines 7-jährigen Mädchens in Zieriksee, einer kleinen Stadt auf Duiveland (von der Flut später besonders hart betroffen).
    Armanda soll am 1.2.1953, so wie jedes Jahr an diesem Tag ihr Patenkind zum Geburtstag besuchen, hat aber keine Lust und will lieber auf eine Party von Sjoerds Halbschwester gehen. Sie überredet Tidy, an ihrer Stelle auf die Insel zu fahren.


    Tidy lässt sich darauf ein. Sie fährt halt gerne Auto. Während sie, schon bei heftigem, orkanartigem Sturm, auf der Geburtstagsfeier neue Leute kennenlernt, unter anderem den Deichgrafen Simon Cau, amüsiert sich Armanda auf der Party mit Sjoerd. Es prickelt zwischen ihnen. Der Ehebruch lieht in der Luft.


    Und nun komponiert Margriet de Moor einen Roman, der einen Spannungsbogen zieht zwischen dem Überlebenskampf von kaum einem halben Dutzend Menschen (unter ihnen Lidy und Simon Cau) in der Nacht zum 1.2.53 und den beiden folgenden Tagen und dem Leben der Familie nach der Katastrophe. Sie wechselt zwischen beiden Orten und den Menschen hin-und her. Verrinnen dort in der Flut zwischen den einzelnen Szenen manchmal nur Minuten, und wird so die spannende Frage lange offen gehalten, ob Tidy gegen alle Wahrscheinlichkeit überleben wird, springt die Handlung hier zunächst in Tagesschritten, dann in Monaten und zuletzt in Jahrzehnten bis zum letzten Dialog der beiden Schwestern in Armandas Altersheim.


    So bewahrheitet sich der Satz, den Armanda innerlich an Lidy richtet am Tag, als deren vermutliche, bei Bauarbeiten für einen Deich im Schlick gefundenen sterblichen Überreste bestattet werden, an ihre Schwester richtet: " Viel zu viel von dir hat sich in mir angehäuft, Lidy. Deinetwegen konnte ich nie die sein, die ich war."


    Margriet de Moor hat extrem sorgfältig recherchiert für diesen Roman, um besonders die das Buch dominierenden Szenen um Lidy und ihre zufällige Schicksalsgemeinschaft von dem Tod Geweihten zu schildern. Besonders der augenfällige Gegensatz, wie hier innerhalb von Stunden alle früheren Bindungen hinfällig werden, und dort die Menschen noch nach Jahrzehnten mit der zwiespältigen Bindung an Lidy und der Tatsache des anfänglichen Tausches nicht wirklich abschließen können.


    Ein Buch, das nur zu empfehlen ist.

  • Auch ich möchte eine eindringliche Empfehlung für diesen Roman der niederländischen Erzählerin aussprechen. Als geradezu meisterhaft empfinde ich die Komposition der Handlung: Die Kapitel, in denen von Armanda und Lidy erzählt wird, wechseln einander ab, doch streben die erzählten Zeiten in den beiden Handlunssträngen stark auseinander - im Falle von Armanda stark gerafft, im Falle von Lidy, welche auf der Insel Schouwen-Duiveland im Angesichts der drohenden Flutkatastrophe um ihr Überleben kämpt, sehr gedehnt und detailliert erzählt.
    So kommt es, daß in Amsterdam, wo etliche Monate nach der Flut eigentlich keine Hoffnung mehr besteht, daß Lidy noch lebend gefunden wird, Sjoerd seine Frau offiziell für tot erklären läßt, um die Ehe mit Armanda, Lidys Schwester, eingehen zu können, während im nächsten Kapitel Lidy sich nach dem Bruch der Deiche mit einer Handvoll Schicksalsgenossen auf den eisigen Dachboden eines Bauernhauses retten kann und gleichzeitig die Wassermassen an die Hauswände schlagen und das aufschwimmende Mobiliar unter die Erdgeschoßdecke drücken.
    Während für Armanda die Jahre vergehen, eigene Kinder geboren werden, die Eltern sterben, sich Armanda von Sjoerd trennt und Lidy Jahre und Jahrzehnte später nur noch ein ferne Erinnerung, eine Leerstelle in Armandas Leben ist, werden wir als Leser Zeugen, wie scheinbar gleichzeitig sich die Ereignisse auf dem Dachboden zuspitzen: auch hier wird ein Kind geboren, ergeben sich im Angesicht des drohenden Endes fürsorgliche Beziehungen zwischen den wildfremden Menschen.
    Der Leser ahnt aufgrund der geschilderten, Jahre später stattfindenden Ereignissen um Armanda, daß es für Lidy kein gutes Ende nehmen kann, trotzdem wünscht er, daß das Ganze doch noch einen guten Ausgang nehmen möge, trotzdem wünscht er, Armanda möge ihren Irrtum, das Leben ihrer Schwester weiterzuführen, einsehen, denn im nächsten Kapitel ist Lidy ja schließlich noch am Leben.
    Der Höhepunkt dieser Handlungskomposition ist schließlich das Ende von Lidys Überlebenskampf, nachdem der Bauernhof, auf dessen Dachboden sich die Gesellschaft befindet, von seinen Fundamenten gespült wird, in den Fluten versinkt und Lidy als einzige Überlebende auf einem Türblatt Richtung offene Nordsee treibt, während nur eine Seite weiter, im darauffolgenden Kapitel, geschildert wird, wie 30 Jahre später, ausgerechnet bei den Bauarbeiten für die Sperrwerke zum Schutz der seinerzeit überfluteten Küste, die sterblichen Überreste Lidys gefunden werden.
    Die Unausweichlichkeit von Lidys Schicksal erhält so eine beängstigende Dringlichkeit, denn der Leser erfährt und erahnt es bereits weit im Voraus. Gleichzeitig erkennt er, daß Armandas Lebensentwurf, Lidys Platz an der Seite von Sjoerd einzunehmen, nicht funktionieren kann, denn die Leerstelle, die sie zu besetzen wünscht, ist in der Erfahrung des Lesers gar keine, schließlich ist Lidy, bedingt durch die Zweigleisigkeit der Handlung, immer noch präsent.
    Ich für meinen Teil muß einmal mehr feststellen, daß es in der niederländischen Literatur immer noch große Entdeckungen zu machen gilt - von Margriet de Moor werde ich mir mit Sicherheit weitere Bücher zulegen.

  • Inhalt

    Die Schwestern Lidy und Armanda sind Anfang 20, Armanda wohnt noch im Haushalt der Eltern, Lidy mit Ehemann Sjoerd und Tochter Nadja nur ein paar Häuser weiter. Während düster wirkende Andeutungen und eine Hochwasserwarnung im Radio ein nahendes Orkantief ahnen lassen, fährt Lidy zu einem Kindergeburtstag auf der niederländischen Insel Schouwen, die kleine Nadja wird von den Großeltern und von ihrer Tante betreut. Lidy nimmt den Wetterumschwung und das auffällige Verhalten von ein paar flüchtenden Hasen zwar wahr, Überflutungen sind jedoch an der niederländischen Küste so alltäglich, dass sie sich nicht weiter sorgt. Der Roman wird aus der Perspektive des allwissenden Erzählers zeitlich versetzt erzählt. Während auf einer Erzählebene die Angehörigen in Amsterdam von der Jahrhunderflut erfahren, Lidy vermisst melden und schließlich für tot erklären lassen, folgt die andere Ebene Lidy noch immer auf ihrer Flucht vor dem Wasser. In Amsterdam heiratet Armanda Sjoerd, nun offiziell Witwer, in den sie als junges Mädchen ebenso verliebt war wie Lidy, und wird Nadjas Stiefmutter. Das Kind weiß, das es eine Mama und eine Mutter hat. Solange Lidys Leiche trotz intensiver Suche nicht gefunden wird, wäre es theoretisch denkbar, dass sie irgendwo in den Niederlanden noch lebt und sich an ihre Familie in Amsterdam nicht erinnern kann oder will. Jahrzehnte vergehen, Lidy und Sjoerd sind inzwischen Eltern von zwei weiteren Kindern, Nadja ist erwachsen und berufstätig. Erst am Schluss erfährt man als Leser, was Lidy in dieser Winternacht 1953 passierte.


    Fazit

    Die unglücklichen Folgen des Rollentauschs der beiden Schwestern haben auf mich wie eine "unerhörte Begebenheit" gewirkt. Sjoerd und Armanda leben nach Libys Verschwinden eine Ehe auf Abruf, im Ungewissen darüber, ob Liby wirklich durch die Sturmflut ums Leben gekommen ist. Das nicht unkomplizierte Verhältnis der Schwestern ist unter diesen Bedingungen kaum zu klären. Bis zum letzten Kapitel habe ich der Aufklärung von Libys Schicksal entgegengefiebert. Spannung erzeugt Margriet de Moor mit eingeschobenen Wetterbeobachtungen. So sorgen sich die Leser schon frühzeitig um Liby, während die Romanfiguren die heraufziehende Katastrophe noch mit routiniertem Blick auf die nahenden Wassermassen ignorieren. Mit welchen Mitteln die Autorin die Beunruhigung ihrer Leser erreicht, wirkt nicht weniger spannend als die Ereignisse an der niederländischen Küste. Mit den ambivalenten Gefühlen der Angehörigen einer vermissten Person konnte ich mich leicht identifizieren und fand den Roman mitsamt seinem historischen Hintergrund spannend und raffiniert angelegt.


    :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5:

    :study: -- Damasio - Gegenwind

    :study: -- Naylor - Die Stimme der Kraken

    :study: -- Landsteiner - Sorry, not sorry

    :musik: --


    "The three most important documents a free society gives are a birth certificate, a passport, and a library card!" E. L. Doctorow