Fridolin Schley - Die Verteidigung

  • Kurzmeinung

    Maesli
    Die Rolle des Beamtentum während des Nationalsozialismus - HIntergrundinformationen zum Nürnberger Nachfolgeprozess
  • „The United States of America vs. Ernst von Weizsäcker et al.“ So lautete der offizielle Titel des im Deutschen als Wilhelmstraßen-Prozess bekannten Verfahrens, das 1948 in Nürnberg gegen führende Angehörige des Auswärtigen Amts und anderer NS-Ministerien angestrengt wurde.

    Ernst von Weizsäcker, als ranghöchster Untergebener des Außenministers Rippentorp, war angeklagt in 8 Punkten, u.a. Verbrechen gegen die Menschlichkeit: Gräueltaten gegen deutsche Staatsangehörige zwischen 1933-1939


    …, daß das Gros der deutschen Diplomatie und Ministerialbeamten in einem noch bis vor kurzem nicht vermuteten Mas direkte Verantwortung für die Vernichtung von Menschenleben, für Kriegsverbrechen, für Raub und Mord nach gemeinsamen Plan trägt, ja daß der deutsche Beamte bei der Durchführung der befohlenen Verbrechen seine Auftraggeber teilweise überbot.


    Die amerikanische Anklagebehörde übernahm den Fall allein. Der gesetzliche Status dafür war prekär, kontinentale und anglo-amerikanische Verfahrensregeln vermengten sich, vieles wirkte improvisiert und bot Angriffsfläche für die Verteidigung, vorsichtig betrat man rechtliches Neuland.

    Zu Weizsäckers Verteidiger-Team gehörte auch Richard von Weizsäcker, Jahrgang 1920, jüngster Sohn des Angeklagten und späterer Bundespräsident.

    Wenngleich der Prozess im Mittelpunkt steht, geht es doch auch um eine Vater-Sohn-Beziehung, die eine Umkehrung der Hilfs- und Schutzpflicht zwischen Eltern und Kindern projiziert.


    Die Haft hat ihn noch hagerer gemacht, das Kinn noch fliehender, die Augen wie in karstigen Höhlen versunken, akkurat gescheitelt das lichte weiße Haar, aber sein Anzug ist ihm zu groß geworden, ein aufgetragenes Kostüm, das schlapp und formlos an ihm hängt.


    Meine persönlichen Leseeindrücke

    Fridolin Schley ist ein souveräner Erzähler. Ihm gelingt die Rekonstruktion der nationalsozialistischen „Diplomatie“ aus seiner heutigen Sicht in hohem Maße, denn der Roman, der den ganzen Prozess noch einmal aufrollt, bietet eine genaue Recherche zur Doppelrolle von Weizsäckers als verdeckter Widerständler, aus dem er (Anm. von Weizsäcker) sein friedfertiges Amtsverständnis abgeleitet haben wollte. Sein Standpunkt war, dass es in weitem Umfang eine Pflicht des Beamten war, zu bleiben, gerade wegen seiner normalen funktionellen Stellung und als anständiger Beamte hatte man treu seinem Land gedient, nicht der Politik.


    Lässt sich später noch ein Weltbild des Vorher skizzieren, das das Nachher erhellt?


    Durch die Analyse der Verteidigungsstrategie führt Schley in atemberaubender Verdichtung jenen Moment vor Augen, in dem in Deutschland aus Wissenden angeblich Unwissende wurden, aus Mitverantwortlichen selbsterklärte „Briefträger in all den scheußlichen Angelegenheiten“, aus Tätern sogenannte Widerständler. Denn um was ging es in den Prozess? Stand die persönliche Ausführung eines Verbrechens im Vordergrund, oder reichte es schon, dass jemand davon wusste und nicht widersprach. War nicht ganz Deutschland so?


    Der gesamte Prozess war morsch. Verrottet von den Rachegelüsten der Sieger, ein modriger politischer Spielball, der die Deutschen eben nicht über die Verbrechen aufklären würde, sondern bloß Abwehr hervorrief.


    Besonderes Augenmerk schenkt Schley der Rolle des späteren Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker. Als Mitglied im Team der Verteidigung fiktionalisiert er die Perspektive von Richard, der Zeitlebens seine wahren Gedanken zu dieser Verteidigung nie teilen wollen. Hier stoßen – verkörpert in Vater und Sohn – das alte, schuldbeladene Deutschland und die gerade entstehende Bundesrepublik aufeinander. Eine Traumabewältigung, wie man es vielleicht heute sagen würde, und die Unmöglichkeit einer Verteidigung des eigenen Vaters.


    Vielleicht fragt er sich ob er wirklich hier ist, um seinem Vater das Leben zu retten, der Familie die Ehre, oder weil er wissen möchte, wer er überhaupt ist, wer sie beide sind, weil er etwas lernen muss, was ihm in Göttingen niemand nach Gesetzestexten aufschlüsseln kann – über die Zeit, aus der sie kommen, und die, in die sie gehen, er ist ein Lehrling, ein Satz des Vaters, der Zauberlehrling, der ich war.


    Fazit

    „Die Verteidigung“ von Fridolin Schley ist ein aufwühlender Roman, in dem das Verfahren gegen Ernst von Weizsäcker, der u.a. wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit als ranghöchster Beamter nach Außenminister Rippentorp angeklagt war. Sein jüngster Sohn Richard trug die große Bürde, im Team von Hellmut Becker seinen Vater zu verteidigen.


    Moralisch urteilen darf nur Gott.


    P.S. Meine Buchbesprechung zu Fridolin Schleys hervorragendem Roman „Die Verteigung“ zählt zu meinen bisher schwierigsten, die ich ohne Unterstützung durch die Beiträge von DeutschlandFunk (Hans von Trotha 28.09.2021) und FAZ (Julia Encke 13.08.2021) in diesem Umfang nicht hätte verfassen können.