Luna Ali – Da waren Tage

  • Klappentext/Verlagstext

    Aras nimmt die syrische Revolution zunächst aus der Entfernung wahr, geboren in Aleppo, aufgewachsen in Deutschland, ist er 2011 im ersten Semester seines Jurastudiums. Doch mit der Entgrenzung der Gewalt in Syrien wird der Konflikt mehr und mehr zum Teil seines Alltags. Im Hörsaal und in der Ausländerbehörde, beim Praktikum in Jordanien oder als Gast einer politischen Talkshow erlebt er den Jahrestag der Revolution jedes Jahr aufs Neue als Wechselspiel zwischen Realität und Imagination.

    In ihrem eindrucksvollen Debütroman erzählt Luna Ali, wie sich die Ereignisse in Syrien in das Leben, das Handeln und die Sprache ihres Protagonisten einschreibt. Und so stellt »Da waren Tage« drängende Fragen über die Bedeutung politischen Handelns und kollektiven Begehrens in unserer Gegenwart.


    Die Autorin
    Luna Ali, geboren 1993 in Syrien, studierte Kulturwissenschaften und ästhetischen Praxis in Hildesheim, Literarisches Schreiben am Deutschen Literaturinstitut und Anthropologie an der Universität Leipzig. Sie arbeitete als Autorin u. a. an Produktionen an den Schauspielhäusern Düsseldorf, Dortmund, Hannover sowie in Berlin. 2023 erhielt sie das Arbeitsstipendium für deutschsprachige Literatur der Berliner Senatsverwaltung. Sie lebt mit ihren fünf Mitbewohner*innen in Berlin.


    Inhalt

    Haare, Bartwuchs, Hautton – Aras kann jedes Mal darauf wetten, im Bahnhofsgebäude von der Polizei kontrolliert zu werden. Der junge Jura-Student ist mit Mutter und seiner jüngeren Schwester Lamia aus Syrien nach Deutschland geflüchtet und sollte sich aktuell um seine Hausarbeit kümmern. Sein Maileingang ähnelt eher dem eines beruflich selbstständigen Familienoberhaupts; denn in seinem Umfeld muss ständig etwas für Migranten übersetzt, erklärt oder organisiert werden. Aras hilft, weil Dinge erledigt werden müssen, aus politischem Engagement und familiärer Verpflichtung. Es ist ein Zustand dauernder Verantwortung, mit Schuldgefühlen, wenn etwas nicht klappt. Das Übersetzen aus dem Arabischen zwingt Aras zur Auseinandersetzung mit der Tonlage einer Hochsprache und der Sozialisierung seiner Mutter, die als Künstlerin aus wohlhabender Familie in kein Flüchtlingsklischee passt.


    Im Studium eignet er sich deutsche Kultur und Sprache gerade an in der Auseinandersetzung mit Recht als Mittel zur Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Ordnung im Umgang mit Außenseitern. Bereits als politisch aktiver, sportlicher Schüler verwischte Aras das Bild, das Leute sich von „Seinesgleichen“ machten. In den 2010er Jahren nimmt Luna Alis Protagonist in Talkshows und Panels die Rolle eines Kulturvermittlers zum Thema Flucht wahr, hat nach Regieanweisungen das Vorbild des erfolgreich Integrierten darzustellen und die einfachsten Dinge zu erklären. Nicht provozieren lassen, keine Hintergründe erklären, keine Überforderung der Zuhörenden durch arabischen Eigennamen, lautet die Regieanweisung für ihn. Als Jurist soll Aras präzise argumentieren, die Fachsprache beherrschen, sich als Aktivist und ehrenamtlicher Helfer jedoch auf einen Grundwortschatz beschränken. Fragesteller zeigen selten Geduld genug, seine Antwort anzuhören und stehlen ihm zunehmend Lebenszeit.


    Aras Auseinandersetzung mit drei Sprachen (in der Familie wurde auch Kurdisch gesprochen) lässt ihn schließlich im Experiment den deutschen Satzbau zu einer Yoda-Sprache umkehren und darin einen Bedeutungswandel suchen. Lamias Studium der Sozialen Arbeit und sein eigenes Praktikum in der deutschen Botschaft in Jordanien (wodurch Syrien gezwungenermaßen wieder Thema für ihn wird) zeigen die Geschwister, keiner Kultur mehr zugehörig, in einer Zwischenwelt. Am Ende wird Aras begreifen, dass für seine Vorfahren diese deutsche „Individualität“ und „persönliche Freiheit“ nicht gesetzlich geschützt war und ihnen nur ein Familienverband Schutz bieten konnte.


    Fazit

    Luna Alis Debütroman zeigt einen jungen Einwanderer, der bereits in Deutschland aufgewachsen ist, im Übergang in den Beruf. Seiner Mutter z. B. die Deutschen erklären zu müssen und seine ehrenamtliche Betreuung einer neuen Einwanderer-Generation zwingen ihm Verantwortung auf, die ich als zu große Last empfunden habe. Sein Begreifen deutscher/europäischer Kultur auf dem Weg über die Rechtsprechung hat mich zur Auseinandersetzung damit gezwungen, wie Muttersprache unser Denken und unsere Haltung steuert. Aras Dekonstruieren des Deutschen zeigt Luna Ali in einem Kapitel in einer Art konkreten Poesie durch um 90° gedrehten Text. Sie mischt Wörter wie ein Kartenspiel neu. Am Ende lässt sich ein Absatz wie im Origami-Objekt "Himmel und Hölle" (auch Pfeffer und Salz genannt) falten, schließen, wieder öffnen, neue Sätze kombinieren und so neue Sichtweisen liefern.


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