Alia Trabucco Zerán - Mein Name ist Estela / LIMPIA

  • Klappentext:

    Ein Mädchen ist tot, die Haushälterin wird vernommen. Zum ersten Mal hören alle Estela zu. Szene um Szene offenbart sie ein schwindelerregendes Kammerspiel unüberbrückbarer Klassenunterschiede.Sieben Jahre hat Estela im Haus der fremden Familie gelebt, hat tagein, tagaus für sie gesorgt. Die karierte Schürze ist zu einer zweiten Haut geworden, die dünnen Wände ihres Zimmers sind immer näher gerückt. Doch sie ist nicht die einzige Gefangene des Hauses: Im leeren Blick des Mädchens sieht Estela ihre eigene Einsamkeit gespiegelt. Jeder Versuch von Intimität zwischen Angestellter und Kind zerschellt an der ehrgeizigen Mutter und dem autoritären Vater, an der Brutalität der Verhältnisse. Auf engstem Raum ringen vier Menschen ums Überleben und rasen doch unausweichlich auf eine Katastrophe zu.


    Mein Lese-Eindruck:

    „Hört Ihr mich? Ist da wer?“

    Santiago: Ein Mädchen ist umgekommen. Das Hausmädchen sitzt in einer Zelle und erzählt einem unsichtbaren Gegenüber ihre Geschichte. Damit suggeriert der Romananfang, dass nun die Hintergründe zum Tod des Mädchens aufgeklärt werden. Estela, die Erzählerin, führt ihre Zuhörer jedoch an der Nase herum: der Tod des Mädchens bleibt nach wie vor unklar. Stattdessen erleben wir das tägliche Leben der Familie, wie Estela es als Hausmädchen wahrnahm.


    Eine schöne Perspektive! Endlich bekommt ein Hausmädchen eine Stimme, und der selbstbewusste Titel betont auch diese Absicht. Der Blick Estelas aber bleibt im Haus stecken. Die äußeren Ereignisse – v. a. Verelendung der unteren Schichten aufgrund des Klimawandels und aufgrund mangelnder staatlicher Fürsorge - werden zwar via Fernseher in die Wohnung transportiert, aber sie bleiben ohne jede Auswirkung. Estela entwickelt kein politisches Bewusstsein. Sie lässt zwar keine Gelegenheit aus, sehr reflektiert auf ihre Eloquenz und zugleich ihre Schichtzugehörigkeit zu verweisen, um damit die Vorurteile ihrer vermuteten Zuhörer bloßzustellen, aber diese gesellschaftskritischen Ansätze zünden nicht.


    Ein anderer Ansatz zündet jedoch und zeigt Wirkung. Estela gibt das Bild einer bürgerlichen Familie wieder, die gefangen ist im Leistungsdenken ihrer kapitalistisch orientierten Gesellschaft. Die Erziehung der einzigen Tochter mag dem Leser kaltherzig erscheinen, aber die ganze Erziehung hat das Ziel, die Tochter frühzeitig für die Anforderungen der Gesellschaft zu wappnen. Das Mädchen aber verweigert sich diesen Erwartungen, und dieses verzweifelte Aufbegehren führt zu einer emotionalen Annäherung Estelas an ihren Schützling. Hier gelingen der Autorin sehr schöne Szenen, wenn sie die ambivalente Haltung Estelas zur Tochter in wenigen und nur kurz aufleuchtenden Schlaglichtern schildert.


    Am diesen Stellen gewinnen die Figuren auch Tiefe, während sie sonst eher im Klischee verharren. Zum Beispiel wird die Mutter des Mädchens als gefühlskalte, leistungsorientierte und tablettensüchtige Städterin geschildert, während Estelas Mutter das Klischee der abgearbeiteten und weisen, naturverbundenen alten Frau bedient.


    Dennoch zeigen sich auch in diesen Klischees Ansätze zur Kritik an der chilenischen Gesellschaftsstruktur – aber eben leider nur Ansätze. Estela hätte zu einer Protagonistin der Klassen- bzw. Schichtgegensätze werden können, aber diese Gegensätze bleiben buchstäblich im Fernseher stecken und bilden nur eine Hintergrundfolie für das Geschehen.


    Trotz dieser Schwachstellen: die junge Autorin kann schreiben, sie ist unbestritten ein Talent, und als Leser freut man sich auf den nächsten bzw. ihren ersten Roman.


    :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5:

    :study: Edvard Hoem, Der Heumacher.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • drawe

    Hat den Titel des Themas von „Alia Zerán - Mein Name ist Estela“ zu „Alia Trabucco Zerán - Mein Name ist Estela / LIMPIA“ geändert.