Franz Dobler – Ein Sohn von zwei Müttern

  • Klappentext/Verlagstext
    Der Junge ist Adoptivkind. Doch seine Erziehung ist nicht nur Sache seiner Adoptiveltern, eines Eisenbahners und einer Hausfrau. Der New Yorker Jazz, das »Roaring Munich« der 80er prägen ihn mindestens genauso. Ein Sohn von zwei Müttern ist ein Roman, der vom Aufwachsen eines bayrischen Jungen mit persischen Wurzeln erzählt. Und von der Entwicklung eines Landes vom Provinzialismus der Nachkriegszeit zur modernen Bundesrepublik.


    Als seine Geschichte ihn einholt, ist der Junge schon ein erwachsener Mann und selbst Vater. Er sitzt im Flugzeug nach New York auf dem Weg zu seiner leiblichen Mutter, die er seit 30 Jahren nicht gesehen hat. Seine Adoptivmutter ist seit zwanzig Jahren tot, sie hat nie ein Flugzeug bestiegen. Während des scheinbar endlosen Fluges drängt seine Adoptionsgeschichte, die er immer mürrisch beiseite gewischt hat, weil er zu beschäftigt war, das Leben zu bewältigen, plötzlich an die Oberfläche. Er muss sich ihr stellen.


    Er ist ein Sohn von zwei Müttern. Oder waren es noch mehr? Ist nicht jeder auch ein Kind seiner Zeit, geprägt von einer Musik, von Lektüren und von den unzähligen Zufällen des Lebens? Franz Dobler geht der Sache auf den Grund. Er beginnt ganz am Anfang, als der kleine Junge in den späten 60ern im sogenannten bayrischen Pfaffenwinkel bei seinen Adoptiveltern abends in der Badewanne sitzt und ruft: »Ich bin ein Adoptivkind.« Der Beginn einer Geschichte, die genauso tief in das Leben des Münchner Unikats eintaucht wie in die Nachkriegsgeschichte der Bundesrepublik.


    Der Autor
    Franz Dobler, geboren 1959, lebt in Augsburg. Neben Romanen und Gedichtbänden, für die er u.a. mit dem Bayerischen Literaturförderpreis ausgezeichnet wurde, veröffentlichte er auch Erzählungen und Musikbücher. Er hat Kompilationen herausgegeben und ist Discjockey. Für sein Krimi-Debüt »Ein Bulle im Zug« erhielt er 2015 den Deutschen Krimi Preis.


    Inhalt
    Der Junge kräht fröhlich aus der Badewanne „Ich bin ein Adoptivkind!“ und schockiert damit seine Eltern. Offensichtlich hatten ihm andere Kinder schadenfroh verraten, was die Eisenbahnerfamilie ihrem jüngsten Kind bisher verheimlichte. Viel später erst wird der Junge erfahren, dass er circa 1960 von seiner ungeplant schwanger gewordenen Mutter zur Adoption freigegeben wurde, die bald darauf einen in Deutschland stationierten amerikanischen GI heiratete und mit ihm in die USA ging. Seine adoptierenden Eltern, die kurz zuvor ein Kind verloren hatten, galten in den 60ern bereits als „alte Eltern“. Zwanzig Jahre älter als die leibliche Mutter hätten sie die Großeltern des Jungen sein können.


    Nicht ungewöhnlich für die Zeit waren Erwartungen, ein aufgenommener Sohn würde beruflich und als Familienvater die Nachfolge des Vaters sichern. Generellen Vorbehalten gegen Adoption aus dem Mund von Nachbarn und Verwandten wurde nur selten widersprochen. Der Junge wächst im bayrischen Pfaffenwinkel streng katholisch und in bescheidenem Wohlstand auf. Über Kriegserlebnisse des Vaters im Zweiten Weltkrieg wird nicht gesprochen, obwohl Kriegsversehrte damals noch zum Stadtbild gehörten. Der Vater hatte Träume vom Auswandern nach Kanada aufgegeben und sich mit einer Stelle als Zugführer bei der Bahn für finanzielle Sicherheit zugunsten seiner Familie entschieden. Die Mutter kann ihre Talente nur gelegentlich zeigen, wenn sie In der Kneipe von Vaters Freund Sepp als Küchenchefin souverän große Familienfeiern ausrichtet.


    Als „der Junge“ sich in der Schulzeit als besessener Leser entpuppt, sich für Musik interessiert und Talent zum Schreiben zeigt, zweifelt er selbst daran, ob ein Konflikt mit den Eltern um seine Zukunft vereinbar ist mit der Tonspur „Dankbarkeit“ mit der er aufgewachsen ist. Eine Reise zur leiblichen Mutter in die USA konfrontiert Doblers Protagonisten mit Mitte 50 mit seinem verdrängten Konflikt, als Vater einer erwachsenen Tochter aber auch mit der Vererbung der familiären „Sprachlosigkeit“. Eine ehrenamtliche Tätigkeit im Jugendarrest, die Begegnung mit einer Selbsthilfegruppe während des Studiums und sein Buchprojekt zum Thema Adoption und Serienmörder zeigen, dass „der Junge“ sich mit seiner Biografie weniger souverän versöhnt hat, als er vorgibt. Seine Bewertung von Peter Wawerzineks autobiografischem Roman „Rabenliebe“ (2010) als große Literatur zeigt, dass er unreflektierte Opferhaltung beim gleichaltrigen Kollegen und dessen Unfähigkeit zur Versöhnung mit Geschehenem noch nicht wahrnehmen kann.


    Fazit

    Franz Dobler porträtiert eine Kindheit und Jugend in den 70ern, die sich – außer dem Einfluss der katholischen Kirche – wenig vom Aufwachsen bei leiblichen Eltern unterscheidet. Die Einfühlung des inzwischen über 50-Jährigen in die Position seiner Adoptiveltern, deren Jugend aus Wirtschaftkrise, Nationalsozialismus und Krieg bestand, fällt nur sparsam aus. Als Autor nähert sich Doblers Protagonist dem Thema Adoption mit Werkzeugen seines Berufs, u. a. mit der Lektüre von Murgia (2011), Adichie (2015), Wawerzinek (2010), Boie (1985), Didion (2012) und Swientek (1982). Mir fehlt jedoch - auch in der Literaturauswahl - die Einordnung des Recherchierten in die Biografien der Eltern und die Einstellungen der 60er Jahre.


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