Verlagstext:
Karine ist in Deutschland aufgewachsen, mit armenisch-deutschen Wurzeln, in einer Familie, in der armenische Kultur intensiv gelebt wird. Während des Studiums lernt sie Frederick kennen und verliebt sich Hals über Kopf in ihn. Doch weil er während eines Familienessens nicht für Karine einsteht, als der Genozid an den Armenier*innen geleugnet wird, kommt es zum Bruch. Die fehlende Unterstützung bei der Bewältigung von Alltagsrassismus, eine gewisse Orientierungslosigkeit nach dem Studium und ein intensives Gespräch mit ihrer armenischen Großmutter sind Auslöser für Karines spontane Entscheidung, nach Armenien zu gehen und einen Job bei einer kleinen NGO anzunehmen. Sie findet sich in einem ihr völlig fremden Land wieder, das postsowjetisch, korrupt und patriarchalisch geprägt ist und in dem die Jugend nur zwei Optionen hat: entweder auswandern oder politisch aktiv werden und für Verbesserungen kämpfen. Durch ihre NGO-Kollegin und Freundin Gohar kommt Karine in Kontakt mit der politischen Gruppe »Junge Bewegung gegen Korruption«. Doch dann wird die Bewegung von einem mächtigen Oligarchen bedroht … »Aprikosenzeit, dunkel« ist ein aufwühlender und berührender Roman über die Suche nach Identität und Selbstbestimmung. Er bietet darüber hinaus einen Zugang zur Geschichte der Armenier*innen mit aktueller Perspektive.
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Meine Meinung:
Diesen streckenweise sehr traurigen und eindringlich, aber sehr erhellenden Roman habe ich v.a. gelesen, weil ich mich für das Schicksal der Armenier*innen früher im Osmanischen Reich und heute sowohl im postsowjetischen Staat Armenien als auch in der Diaspora interessiere. Die beiden Erzählstränge des Romans haben diesem Interesse entsprochen: Zum einen wird in den wiederkehrenden Kapiteln "Erinnerungen an die Wüste" von den grausamen Deportationen der Armenier*innen in die syrische und mesopotamische Wüste erzählt. Was den Menschen dort angetan wurde, ist mit Worten kaum beschreibbar. Im anderen Strang geht es um die Urenkelin von Überlebenden, Karin / Karine, die in Deutschland geboren und aufgewachsen ist und nun, nach dem gelungenen Studienabschluss und einer enttäuschenden Beziehung, nach ihrer eigenen Identität und damit verbunden nach ihrem armenischen Erbe sucht. Bei diesen Entwicklungen verknüpfen sich, auch mit Hilfe zahlreicher Rückblenden, die Erinnerungen ihrer westarmenischen Großeltern und ihr eigenes Erleben in Deutschland und im modernen Armenien miteinander, wo Karine einen Job in einer NGO annimmt und allmählich Fuß fasst, Freundschaften schließt, sich einbringt. Lediglich der Schluss war mir etwas zu pathetisch, und die Liebesgeschichte in Jerewan hätte ich in dieser Form auch nicht unbedingt gebraucht.
Man muss sich zu "Westarmenien" und "Ostarmenien" und den Geschehnissen um den Genozid im Umfeld des 1. Weltkriegs vielleicht ein wenig einlesen, aber die Autorin lässt ihre Figuren auch vieles erklären. Vor allem die unterschiedlichen Ansätze des Umgangs mit dem Völkermord auf politischer Ebene durch die heutigen West- und Ostarmenier*innen, aber auch die aktuellen Schwierigkeiten, mit denen junge Menschen in Armenien konfrontiert sind, wurden facettenreich thematisiert, sodass ich den Eindruck habe, durch diesen Roman sehr viel gelernt und nun ein besseres Gespür für die Geschichte, Situation und Befindlichkeiten von Armenier*innen erlangt zu haben. Dabei konnte die Autorin die aktuellen Entwicklungen in Bergkarabach und dabei mitschwingenden Gefahren für die Republik Armenien noch gar nicht einbeziehen. Hier schaue ich nun noch besorgter auf die politische Situation und frage mich, ob und durch wen der Schutz Armeniens ggf. gewährleistet werden wird.