Andreas Bernard - Die Kette der Infektionen ...

  • ... Zur Erzählbarkeit von Epidemien seit dem 18. Jahrhundert

    Klappentext/Verlagstext
    Ein völlig neuer Zugang, um u. a. die Corona-Pandemie besser zu verstehen: Der Wissenschaftshistoriker Andreas Bernard geht in seinem Buch »Die Kette der Infektionen« von der Hypothese aus, dass die Bekämpfbarkeit von Epidemien an ihre Erzählbarkeit gebunden ist. Neben dem dezidiert medizinischen Anteil am Kampf gegen Seuchen – der Entwicklung von Impfstoffen, der Erforschung von Immunität – erscheint die Frage, wie Epidemien und ihre Ausbrüche abgebildet werden, ob sie überhaupt abbildbar sind, für den Erfolg der Eindämmung zentral. Andreas Bernard macht diesen Zusammenhang, der im Hinblick auf die Corona-Pandemie seit dem Frühling 2020 immer wieder deutlich wurde, in seinen Studien zur Geschichte der Pocken, der Cholera, der Influenza, der Poliomyelitis oder der Frühzeit von Aids sichtbar. Er untersucht, inwiefern der Siegeszug der Bakteriologie im späten 19. Jahrhundert eine neue Darstellung der Ansteckungsprozesse durchgesetzt hat, deren Erzählformen und Sprachbilder heute noch gültig sind. Außerdem beschäftigt er sich mit dem Ursprung und dem Ende von Epidemien, als zwei neuralgischen Punkten der Seuchenerzählung, arbeitet die Begleitnarrative von »Immunität« seit dem 18. Jahrhundert heraus und analysiert die Bedeutung von Kommunikationsmedien wie dem Brief, dem Telegramm und den aktuellen Tracking-Apps, deren Nachrichten über die Epidemie in einen Wettlauf mit dem Voranschreiten der Krankheit treten. Andreas Bernards Buch »Die Kette der Infektionen« verbindet medizinhistorische und erzähltheoretische Forschung und schafft einen bislang kaum beachteten Zugang zur Geschichte der Epidemien, der auch einen neuen Blick auf die Corona-Pandemie der letzten Jahre ermöglicht.


    Der Autor
    Andreas Bernard, geboren 1969 in München, ist Professor für Kulturwissenschaften am »Centre for Digital Cultures« der Leuphana-Universität Lüneburg. Von 1995 bis 2014 war er Autor und Redakteur der »Süddeutschen Zeitung«. Derzeit schreibt er für das »ZEIT Magazin« und das Feuilleton der »Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung«. (… gekürzt)


    Inhalt
    Andreas Bernhard zeigt anhand der Erforschung der Pocken, Cholera, Influenza, Diphterie und der ersten HIV-Infektionen, wie Erzählbarkeit/Erklärbarkeit von Epidemien deren Bekämpfung bedingt. Dazu stellt er je ein Beispiel für Ende und Ursprung gegenüber: die offizielle Verkündung der Ausrottung der Pocken 1980 durch die WHO und den (nachträglich rekonstruierten) ersten Aids-Fall, über den im selben Jahr berichtet wurde.


    Bernard befasst sich mit dem Faktor Mensch in der Pandemiebekämpfung, wenn zwischen ersten Impfkampagnen und der endgültigen Ausrottung der Cholera Jahre vergehen, aber auch mit dem Bedürfnis einen Schuldigen zu benennen und zu bestrafen, verstärkt durch populistische wie suggestive Berichterstattung. Die Bekämpfung von Epidemien setzt voraus, dass Erreger zu isolieren, Übertragungswege zu kartieren und Bevölkerungs-Statistiken analysierbar sind. Aber erst Vermittlung der Zusammenhänge wird Verhaltensänderungen bei Nationen und ihren (dafür aufgeschlossenen) Bürgern bewirken.


    Erfolgreiche Empiriker in der Epidemiologie waren u. a. John Snow (1813-1858), der in London den Zusammenhang zwischen verseuchtem Trinkwasser und Cholera-Epidemien nachwies und Robert Koch (1843-1910), der gegen Pettenkofers (1843-1910) Miasmen-Theorie argumentierte. Am Beispiel von Thomas Manns „Tod in Venedig“ (1911 mit Bildern der Miasmen-Theorie erzählt) zeigt Kulturwissenschaftler Bernhard, wie die schreibende Zunft mit literarischem Werkzeug der Vergangenheit huldigen und Erkrankten der Gegenwart einen Bärendienst erweisen kann. Ein Cold-Case-Ermittler im modernen Krimi dagegen würde die Ermittlungen neu aufrollen und akzeptieren, dass mehr als eine Ursache denkbar ist. Venedig bot Anfang des 20. Jahrhunderts zwar feuchte Gemäuer als ungesunden Lebensraum, war aber als Hafen und Handelsplatz auch Umschlagplatz für Infektionen von Mensch zu Mensch.


    Besonders günstige Bedingungen für seine Pocken-Forschung fand Edward Jenner (1749-1823) vor, da seine Impflinge in stabilen sozialen Beziehungen lebten und sich über Jahrzehnte beobachten ließen. An Jenners Geschichte fasziniert, dass schon zu Beginn des 18. Jahrhunderts im Osmanischen Reich gegen Pocken geimpft wurde, Jenners Forschung jedoch erst 80 Jahre später einsetzte. Landärzte neigten offenbar zur Infektions-Theorie, während städtische Mediziner häufig von einmaliger Intoxikation einer Kohorte überzeugt waren. Als die Infektionstheorie sich langfristig durchsetzen konnte, war es vorbei mit dem Glauben an plötzliche Seuchen-Ausbrüche – und damit an göttliche Strafen. Mit dem Blick auf Jenner schlägt Bernard den Bogen zurück zu seinem Thema der Erzählbarkeit; denn der englische Landarzt muss ein Naturtalent der Vermarktung gewesen sein, als er Schriftsteller die Vorworte zu seinen Büchern verfassen ließ.


    Aus der Geschichte der Cholera- und Pockenforschung leitet Bernard u. a. ab, wie suggestives Storytelling bis heute das menschliche Bedürfnis nach Sündenböcken bedient (Mary Mellon und die Cholera), warum Gesellschaften sich nie zu früh mit Erfolgen brüsten sollten (Pocken) und wie das Corona-Management unseres Jahrhunderts zum Wettkampf dreier Storyteller wurde (Politik, Massenmedien, Protestgruppen), die Ursache und Wirkung unterschiedlich bewerteten.


    Fazit

    Leser:innen mit Grundkenntnissen über Snow, Koch und Jenner finden hier spannend zu lesendes Bonuswissen aus den Randzonen der Epidemiologie: es geht um Einfluss der Klassengesellschaft auf die Volksgesundheit (Hamburg), unermüdliche Forscher (Jenner und Snow) und letztlich mit der Erzählbarkeit um Glaubwürdigkeit von Experten, wie wir während der Covid-Pandemie lernen mussten.


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