Pirkko Saisio – Das rote Buch der Abschiede / Punainen erokirja

  • Klappentext/Verlagstext
    Pirkko Saisios preisgekrönter Roman erzählt von einer sexuellen und künstlerischen Befreiung. Ihre Protagonistin sucht in Helsinki nach der Liebe und kämpft um Selbstbestimmung - zu einer Zeit, in der Kunst und Kommunismus eine unheilvolle Allianz bilden und queere Liebe nur im Untergrund stattfindet. Die Entdeckung des Werks von Pirkko Saisio ist eine literarische Sensation.

    Die Mutter will sie zum Arzt schicken, in der Öffentlichkeit gilt ihr Verhalten als strafbar. Und dennoch: Als eine Kommilitonin zu ihr sagt »Es gibt auch Frauen, die Frauen lieben« ist das ein Befreiungsschlag. Noch fühlt sich die junge Frau aus der Arbeiterklasse fremd in den Untergrundbars Helsinkis, in denen queere Liebe und intellektuelle Gespräche Hand in Hand gehen. Erst mit der Aufnahme in das Studententheater streift sie ihre Unsicherheit ab. Doch die Eintrittskarte in die Kunst kostet sie viel. Nicht zuletzt, weil das Theater mit dem Räderwerk der kommunistischen Revolution aufs Engste verzahnt ist. In einer Reihe von Abschieden – vom Elternhaus, vom Idealismus der Jugend und von den Frauen, die sie liebt, erzählt diese unglaubliche Neuentdeckung aus Finnland von der Liebe, von Kunst und von Selbstbestimmung.


    Die Autorin
    Pirkko Saisio, geboren 1949, ist Schriftstellerin, Regisseurin, Schauspielerin und eine der bekanntesten Personen in der Kulturszene Finnlands. Ihr Roman "The Course of Life" (1975) wurde als bestes Debüt des Jahres ausgezeichnet. Insgesamt sechs Mal wurde Pirkko Saisio für den Finlandia Preis nominiert und bekam ihn schließlich für den Roman "Das rote Buch der Abschiede" (2003), das den Abschluss ihrer autofiktionalen Trilogie markierte, mit der sie ihren literarischen Durchbruch feierte. Nach zwanzig Jahren wird das aufsehenerregende Werk von Pirkko Saisio endlich weltweit entdeckt.


    Die Helsinki-Trilogie
    01. Pienin yhteinen jaettava (1998)
    02. Gegenlicht/ Vastavalo erscheint 16.3.2024 (2000) dt: 978-3-608-98724-9

    03. Das rote Buch der Abschiede


    Inhalt

    Pirkko Saisos Icherzählerin stammt aus der Arbeiterschicht und beschließt schon kurz, nachdem sie Lesen gelernt hat, dass sie Schriftstellerin werden will. Bereits als Kind der 50er wollte sie ein Junge sein und erkennt zu Beginn ihres Studiums, dass sie von anderen als lesbische Frau wahrgenommen und begehrt wird. Aus einer Rahmenhandlung, die um die Jahrtausendwende spielt, blickt die Mutter einer Tochter und inzwischen erfolgreiche Autorin rund 20 Jahre zurück. Als Studienanfängerin in Finnischer Literatur sieht sie sich damals mit einem Dreierpack an Anforderungen konfrontiert, die sie nur schwer unter einen Hut bekommt. Im Studium genügt es nicht mehr, kommunistische Ideale nur verbal zu vertreten. Die Kommission jedoch, die ihr Engagement im studentischen Agitprop-Theater überprüft, besteht allein aus Kindern wohlhabender Bürger, fällt ihr zum ersten Mal auf. Seit sie ihre lesbische Beziehung zu „Clownauge“ geoutet hat, redet ihre Mutter nicht mehr mit ihr und will unbedingt geheim halten, was in Finnland erst 1971 legalisiert wurde. Schließlich muss die Erzählerin des autofiktionalen Romans lernen, die Dinge nicht wie bisher geschehen zu lassen, sondern im Beruf, Privatleben und ihrer politischen Einstellung Position zu beziehen.


    Der Romantitel spielt mit der Bedeutung des finnischen „ero“, das für Abschied, Beziehungsende, Scheidung, Differenz stehen kann.


    Erzählt wird dieser dritte Band ihrer Trilogie, die an Tove Ditlevsen erinnert, aus wechselnder Perspektive, in Episoden und innerhalb von Rückblicken nicht immer chronologisch. Der Wechsel in die dritte Person der Erzählerperspektive wie auch die Zeitsprünge hinterlassen aus meiner Sicht überflüssige Leerstellen und wirken für den gebotenen Inhalt zu kompliziert.


    Fazit

    Ein aufschlussreiches Dokument der Zeit zwischen den 80ern und Nullerjahren, zu deren Beginn Hautfarbe und sexuelle Orientierung angeblich keine Rolle spielten, gesellschaftliche Aufsteigerinnen wie Saisios Erzählerin sich jedoch einer straff geordneten Hierarchie gegenüber sahen.


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    :study: -- Damasio - Gegenwind

    :study: -- Naylor - Die Stimme der Kraken

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    "The three most important documents a free society gives are a birth certificate, a passport, and a library card!" E. L. Doctorow



  • Mein Lese-Eindruck:


    Pirkko Saisio macht es ihrem Leser nicht leicht. Ihr Buch ist ein Erinnerungsbuch, und so springt sie zwischen den Zeiten hin und her, analog zu ihrer Erinnerung. Sie beginnt zwar in der Gegenwart, aber reiht dann ihre Erinnerungsfetzen aneinander und überlässt dem Leser die Gesamtschau.


    Diese Gesamtschau ist jedoch faszinierend. Vor dem Auge des Lesers entsteht das Bild Helsinkis in den 60er und 70er Jahren, penibel beschreibt die Autorin die Wege, die Örtlichkeiten, die Lage der elterlichen Wohnung und vor allem die Kirche, zu der sie eine besondere Beziehung entwickelt.

    Hier in Helsinki wuchs die Autorin auf, in einem Mietshaus im Arbeiterviertel, in einer kommunistischen Familie, in deren Regalen ausschließlich die Bücher von Stalin und Lenin standen. Damit sind schon die Konstituenten genannt, die das Leben der Autorin bestimmen: ihre Religiösität und ihre kommunistische Ausrichtung. Die Liebe zum Buch, zur Literatur und allgemein zur Kunst führt sie von ihrer Familie weg. Sie ist die Erste ihrer Familie, die studiert. Noch entscheidender ist aber ihre Homosexualität, die im Finnland der 70er Jahre noch unter Strafe stand und die zum Bruch mit ihren Eltern führt: „Und so trennt Mutter mich mit einem Seziermesser von meinem Hintergrund."


    Das ist nicht der einzige Abschied, den die Autorin thematisiert. Im Zentrum steht der quälende Abschied von ihrer großen Liebe Havva, der ihr Leben aus den Fugen geraten lässt. Noch heute unterteilt sie ihr Leben in die Zeit vor und nach dieser Liebesbeziehung. Kleinere Abschiede gruppieren sich um dieses Zentrum herum. Es sind nicht nur Abschiede von Lebenspartnerinnen, sondern auch der Abschied von beruflichen Plänen und die Neu-Ausrichtung hin zur Schauspielerei, zur Regie und zum Schreiben.

    Durch diese Abschiede wird das Buch sehr dicht. Der Leser begleitet Pirkko Saision zu ihren sozialistisch-revolutionären Agitprop-Theatervorstellungen, und er bekommt einen Eindruck vom Leben einer jungen lesbischen Frau im Finnland der 70er Jahre. Die Art und Weise, wie sie ihre sexuelle Identität literarisiert, besticht durch die Selbstverständlichkeit und auch Leichtigkeit, mit der sie sie erzählt. Ihre oft szenische Erzählweise, die an ein Drehbuch erinnert, wirkt lebhaft, pointiert und kraftvoll, aber immer poetisch.


    Wie eingangs gesagt: Pirkko Saisio macht es ihrem Leser nicht leicht. Sie springt nicht nur zwischen den Zeiten umher, sondern auch zwischen den Erzählinstanzen. Mal erzählt ein Ich, dann wieder eine Sie. Damit schafft die Autorin zwar kunstvoll Nähe und dann wieder Distanz zu ihrer Figur, aber dieser Wechsel führt immer wieder zu Kohärenzproblemen und damit zu Verständnisproblemen.


    Fazit: Ein lesenswertes Zeitdokument, sprachlich beeindruckend!


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    :study: Edvard Hoem, Der Heumacher.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).