Zadie Smith - Betrug / The Fraud

  • Kurzmeinung

    Sarange
    Interessante Themen, aber teils sprunghafte, teils langatmige Umsetzung.
  • Kurzmeinung

    Abroxas
    Cleverer Roman über den Tichbourne-Prozess, britische Schriftsteller, Abolitionismus, Geschlechterrollen, und, und, und
  • "Betrug" ist so vieles, man weiß gar nicht, wie man das Kind denn nun nennen soll. Angepriesen wird es als Zadie Smiths erster historischer Roman, was vielsagend ist, denn so eine olle Kamelle würde nicht zum Ruf der Autorin passen. Mit ihrer Darstellung des viktorianischen Englands und dem historischen Personal – vor allem des literarischen – löst sie den Anspruch ein, aber ihre unkonventionelle wie konzise Erzählweise und ihre Bereitschaft, das Genre selbst in Frage zu stellen – wie auch vieles andere – machen dieses Buch zu einer faszinierenden Lektüre.


    Worum geht's also?


    Mitte des 19. Jahrhunderts wird die englische Öffentlichkeit von einem spektakulären Gerichtsprozess in Atem gehalten. Ein Mann behauptet, Sir Roger Tichbourne zu sein, ein vor Jahren auf hoher See verschollener Erbe aus einer der reichsten Familien des Landes. Kurz vor ihrem Tod bestätigt Rogers Mutter, dass es sich um ihren Sohn handele, doch die übrige Familie und ehemalige Weggefährten sind sich sicher, dass dieser ein Betrüger sei, nicht zuletzt, da der mutmaßliche Heimkehrer neuerdings einen schweren Cockney-Akzent erlernt und sein komplettes Französisch verlernt hat, das in seiner Kindheit seine Erstsprache gewesen war. Zu seinen vehementesten Fürsprechern gehört hingegen Andrew Bogle, einem höhergestellten Sklaven aus dem (Plantagen-)Haushalt des Onkels. Jener Bogle kannte Roger Tichbourne, als dieser noch ein Dreikäsehoch war.


    Diesen Fall verfolgt auch unsere Hauptfigur, Eliza Touchet. Sie lebt im Haushalt ihres Cousins, William Harrison Ainsworth, ein fürchterlicher Schriftsteller, der nach anfänglichen Erfolgen – sein erfolgreichster Roman hat sich dreimal so oft verkauft wie Dickens' Oliver Twist! – praktisch schon zu Lebzeiten vergessen worden ist. Elizas Stellung im Haushalt ist undurchsichtig: Nachdem sie unter seltsamen Umständen früh Witwe geworden war, kam sie erst als Haushaltshilfe in Williams Haus, zwischenzeitlich hatte sie Affären sowohl mit William als auch mit dessen ersten Frau Fanny, mittlerweile ist Ainsworth zum zweiten Mal verheiratet und Eliza quasi die Hausherrin, wenn auch nicht dem Namen nach.


    Von der mittlerweile verstorbenen Fanny hat Eliza auch ihre Leidenschaft für die abolitionistische Bewegung. Es ist daher auch die Lebensgeschichte jenes Andrew Bogle, die sie am meisten an dem Tichbourne-Prozess interessiert. Und es gelingt ihr schließlich auch, den Kontakt zu diesem Mann herzustellen. Dieser ist bereit zu erzählen. In Folge dessen und im weiteren Lebensverlauf wird sich Eliza immer wieder mit der Frage auseinandersetzen müssen, ob es sich bei einstigen Gewissheiten nicht um – nun ja – Betrug handelt, ob sie nicht selber eine Betrügerin ist.


    Ja, also?


    Zadie Smith nimmt den spektakulären Tichbourne-Prozess als eine Art Prisma und fächert das Motiv in verschiedene Variationen auf, die sie elegant und geschmeidig in einer losen, wenig vom Plot vorangetriebenen Erzählung verwebt. Smiths Erzählung ist eher eine Ansammlung kurzer Fragmente (die Kapitellänge oszilliert zwischen wenigen Sätzen und einen einzigen Absatz), die wie auf einem gigantischen Wandteppich angeordnet nach und nach ein Gesamtbild ergeben, daher stören auch die zeitlichen Sprünge vor und zurück nach einer kurzen Eingewöhnungsphase nicht mehr.


    Das Faszinierende ist, dass Smith eine Vielzahl großer -ismen und ähnlich gewichtiger Themen auf diese Weise beleuchtet, ohne oberflächlich zu werden oder sich zu verrennen, darunter Rassismus, Sexualität und Identität, Sklaverei und Kolonialismus, soziale Ungerechtigkeit, Standesdünkel und Klassenkampf, Literatur, Wahrheit und Fake News. Es scheint so, als wäre es ein bisschen etwas von allem, wirkt aber nicht überladen oder überambitioniert.


    "Betrug" ist das Beste, was man sich von einem historischen Roman erwarten kann: Es erweckt die Zeit, aus der erzählt wird, auf konzise Weise zum Leben, verhandelt aber auf gewitzte und geistreiche Art aktuelle Themen, begnügt sich nicht mit historischem Exotismus. "Betrug" fordert und provoziert, ist aber auf erfrischende Art und Weise frech und klug.


    :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5:

  • Klappentext/Verlagstext
    London 1873. Mrs. Eliza Touchet ist die schottische Haushälterin und angeheiratete Cousine des einstmals erfolgreichen Schriftstellers William Ainsworth. Eliza ist aufgeweckt und kritisch. Sie zweifelt daran, dass Ainsworth Talent hat. Und sie fürchtet, dass England ein Land der Fassaden ist, in dem nichts so ist, wie es scheint.

    Mit ihrer Schwägerin besucht sie die Gerichtsverhandlungen des Tichborne-Falls, in der ein ungehobelter Mann behauptet, der seit zehn Jahren verschollene Sohn der reichen Lady Tichborne zu sein. Andrew Bogle, ehemaliger Sklave aus Jamaika, ist einer der Hauptzeugen des Prozesses. Eliza und Bogle kommen ins Gespräch und der Wahrheit näher. Doch wessen Wahrheit zählt?

    Basierend auf realen historischen Ereignissen ist »Betrug« ein schillernder Roman über Wahrheit und Fiktion, Jamaika und Großbritannien, Betrug und Authentizität und das Geheimnis des Andersseins.


    Der Tichborne-Fall

    Roger Tichborne (1829-1854) war der älteste Sohn (und Erbe des Adelstitels) von Sir James Doughty-Tichborne (1784-1862).


    Inhalt

    Die jung verwitwete Eliza Touchet lebte als „Haushälterin“ auf dem Anwesen ihres Cousins William Ainsworth. William, als Zeitgenosse Dickens‘ für kurze Zeit ein erfolgreicher Autor, war ebenfalls jung verwitwet, Vater von drei Töchtern und heiratete in hohem Alter das Kindermädchen Sarah. Eliza erhielt wie viele unverheiratete Frauen ihrer Generation zwar ein regelmäßiges Einkommen aus Familienvermögen, schuldete William jedoch Gehorsam und Dankbarkeit dafür, dass er sie unter seinem Dach aufgenommen hatte. Das Vermögen, das britische Grundbesitzer u. a. durch Sklaverei anhäufen konnten, verbindet Eliza, die davon profitiert, und Andrew Bogle als Nachkomme eines aus Afrika geraubten Sklaven.


    Als geistreiche frühe Betaleserin von Williams Werken kann Eliza nicht übersehen, dass ihr Cousin sich freimütig aus den Werken von Schriftstellerkollegen bedient und die Literaturszene des viktorianischen Englands offenbar von Hochstaplern wie ihm betrogen sein will. Vermutlich wäre es mit Ainsworth nicht so rapide bergab gegangen, wenn er die Intelligenz seiner angeheirateten schottischen Cousine klüger für seine Karriere genutzt hätte.


    Über 40 Jahre später ist Eliza offenbar noch nicht alt genug, um William keine Rechenschaft mehr über ihr Leben schuldig zu sein. Sie verfolgt den (historischen) Tichborne-Prozess von 1873, in dem der offiziell auf See verschollene Erbe eines märchenhaften Vermögens vor Gericht steht. Es ist schwer zu glauben, dass der angebliche Roger Tichborne so gar nichts von der Erziehung eines britischen Elite-Internats mehr an sich hat, das er als Adelsspross besucht haben muss, obwohl Zeugen seine Identität bestätigen.


    Als Leumundszeuge sagt der ehemalige Sklave Andrew Bogle aus, dessen Mutter sich auf Jamaika noch für weiße Plantagenbesitzer zu Tode gearbeitet hatte. Die britische Gesellschaft hatte Bogle und seinen jugendlichen Söhnen als Schwarzen die Tür vor der Nase zugeschlagen als der Schutz durch Andrews Herrn nach dessen Tod endete. In Rückblenden über einen Zeitraum von fast 60 Jahren erzählt Zadie Smith aus Elizas Leben in England, über Sklavenarbeit auf Jamaikas Zuckerrohrfarmen und die britische Klassengesellschaft, in der Adlige ganze Grafschaften besitzen mitsamt ihren Bewohnern. Neben Andrew Bogles Schicksal hat mich hier die Rolle der unterschätzten Cousine gefesselt. Eliza tritt als kluge Beobachterin auf, die m. A. nicht unbedingt zu erkennen gibt, ob sie von der Frauen ihrer Herkunft zugestandenen Rolle als Wohltäterin und Menschenrechts-Aktivistin überzeugt ist oder sich auch in diesen Kreisen anpasst wie an William. „In ihrem Kopf gab es einen abgeteilten Ort, an dem die Dinge zugleich wahr und unwahr sein konnten“. (Pos. 1546)


    Vor dem historischen Hintergrund des Tichborne-Prozesses blättert Zadie Smith diverse Themen auf, an die man als Leser andocken kann: von Hochstapelei, Diebstahl geistigen Eigentums bis zum bissigen Blick auf Literaturszene, britische Klassengesellschaft und Wohltätigkeit der Oberschicht wird allerlei geboten.


    Fazit

    Ein historischer Roman für geduldige Leser:innen der Interesse weckt, sich mit der Zeit von Dickens und Cruikshank intensiver zu beschäftigen.


    :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5:

    :study: -- Damasio - Gegenwind

    :study: -- Naylor - Die Stimme der Kraken

    :study: -- Landsteiner - Sorry, not sorry

    :musik: --


    "The three most important documents a free society gives are a birth certificate, a passport, and a library card!" E. L. Doctorow

  • K.-G. Beck-Ewe

    Hat den Titel des Themas von „Zadie Smith - Betrug“ zu „Zadie Smith - Betrug / The Fraud“ geändert.
  • Mein Lese-Eindruck:


    „Lethe heißt der Strom des Vergessens – und genau das ist der gefährlichste Strom“, sagte Florian Illies in seiner Preisrede zur Verleihung des Ehrenpreises des Bayerischen Ministerpräsidenten. Es sei für jede Generation wichtig, in die „Stromschnellen der Geschichte“ einzutauchen, auch wenn sie unübersichtlich sind, denn jede Gegenwart sei zugleich „eine Ruine der Zukunft“. Er mahnte die Erinnerung an, weil alle Zeiten miteinander verwoben sind und warnte vor der Geschichtsvergessenheit. Wie Recht er hat!


    Und genau das, das Eintauchen in die Stromschnellen der Geschichte und das Verweben der Zeiten, genau das gelingt Zadie Smith in diesem Roman auf eine unglaublich leichte und unterhaltsame Art und Weise. Sie holt Vergangenes nach oben, sie belebt die Geschichte und legt damit den Finger auf die fauligen Stellen der Gegenwart.


    Ein historischer Roman? Das ist dieser Roman nur vordergründig. Es geht um einen historischen Prozess, der 1866 im viktorianischen Zeitalter Englands spielt: ja, das schon. Aber dieser Prozess ist eigentlich nur das Kaleidoskop, durch das die Autorin gesellschaftliche Entwicklungen und Bewegungen heranzoomt, die bis heute wirksam und nicht abgeschlossen sind.


    Das Cover und auch der Titel geben schon Hinweise. Zwei Männer stehen zwischen silbernen Löffeln. Der eine – Tichborne - wurde schon mit dem sprichwörtlichen silbernen Löffel im Mund geboren, und der andere eben nicht. Und dieser andere ist es, der seinen Teil vom Kuchen einfordert und dabei auch zum Mittel des Betruges greift.

    Tichborne, Sohn aus altem englischen Adel, war vor Jahren wegen einer inakzeptablen Liebesgeschichte mit seiner Kusine zum Kolonialbesitz der Familie nach Jamaika geschickt worden. Er war nie angekommen; vermutlich war er bei einem Schiffsunglück umgekommen.


    Der Mann, der nun behauptet, Tichborne zu sein und sein Erbe einfordert, hat keinerlei Ähnlichkeit mit dem gebildeten jungen Engländer, aber er hat einen Zeugen, der seine Identität bestätigt. Dieser Zeuge Andrew Bogle wird zu einer der Hauptfiguren des Romans: ein freigelassener Sklave aus den Zuckerrohrplantagen Jamaikas, der die Schrecklichkeiten der Rechtlosigkeit kennt, aber immer ruhig und beeindruckend würdevoll auftritt. Wieso lügt Bogle? Der Prozess fand enormen Widerhall in den unteren Klassen. Wieso engagieren sich die unteren Schichten so leidenschaftlich für einen offensichtlichen Betrüger?


    Es geht hauptsächlich um die Frage der Gerechtigkeit, daher auch das Thema eines Gerichtsverfahrens. Diese Frage wird verknüpft mit dem Problem der persönlichen Unfreiheit, und auch dieses Thema wird mehrfach aufgefächert in Abolitionismus, in weibliche Selbstbestimmung u. a. Einen zweiten wichtigen Verknüpfungspunkt sehe ich in dem, was wir heute Pauperismus nennen: der unverschuldeten Armut, die der Betroffene nicht selber ändern kann. Auch diesen Punkt fächert die Autorin auf und lässt in der Handlung verschiedene soziale Unruhen der Vergangenheit und der erzählten Zeit anklingen und Gesetze, die die Reichen reicher und die Armen weiter ärmer gemacht haben.


    Sie klagt niemals an, sie berichtet nur, aber dennoch wird die nach wie vor ungebrochene Macht der alten privilegierten Schichten deutlich.


    Und genau hier liegt auch der eigentliche Grund für den Prozess: da fordert einer der dauerhaft und chancenlos Entrechteten Gerechtigkeit ein. Der Versuch misslingt, der „Überbau“, wie Marx es nennen würde, ist mächtiger. Er wird wegen Betrug verurteilt.

    Der Betrug liegt aber nicht im Betrugsversuch eines Einzelnen, sondern hier sind ganze Generationen betrogen worden: um ihre persönliche Freiheit, um den wirtschaftlichen Lohn ihrer Arbeit und um beides.


    Das Buch ist nicht leicht zu lesen. Die Autorin zerhackt die Handlung in unzählige kleinere Kapitel Vermutlich will sie damit die Erscheinungsweise der viktorianischen Romane als Fortsetzungsromane imitieren. Aber diese ständigen Sprünge zwischen den Zeiten, den Personen und den Schauplätzen, die Vielzahl an Querverbindungen fordern den Leser heraus. Auf der anderen Seite verleiht die Autorin den erzählten Fragen damit aktuelles Leben. Ob das der zementierte Gegensatz Arm-Reich ist, Ausbeutung im weitesten Sinn, Menschenrechte, Frauenbild, Rollenzuschreibungen, Fake News, Populismus etc. – alles hat einen Bezug zu heute.


    Und der Leser erkennt, dass die erzählten Probleme nicht in den gefährlichen Fluss Lethe gefallen sind, sondern nach wie vor existieren. Und Zadie Smith legt leicht und elegant ihren Finger darauf.


    :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5:

    :study: Edvard Hoem, Der Heumacher.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Ich bin bei diesem Buch wohl Geisterfahrerin: Mehr als drei Sterne kann ich leider nicht vergeben.


    Die Autorin greift sehr interessante Themen auf - den Tichborne-Fall, um den der Roman sich vordergründig dreht, die furchtbaren Lebensumstände der Sklav*innen auf Jamaika, den abgeschmackten, arrogant-scheinheilig um sich selbst kreisenden Literaturbetrieb im England des 19. Jahrhunderts, die Industrialisierung, "Menschenrechte" für Männer, viel dringender nötige Frauenrechte angesichts erstickender Abhängigkeiten... Aber die Umsetzung hat mir über weite Strecken nicht gefallen. Einerseits zu sprunghaft; ständig werden bei den ohnehin schon sehr kurzen Kapiteln die Zeitebenen gewechselt. Und dann wieder zu langatmig; bis endlich mal die Familienverhältnisse geklärt sind, sämtliche Autoren von Ainsworth über Dickens bis Thackeray eingeführt sind und mindestens einmal ihr Fett wegbekommen haben und etliche zunächst noch unverständliche Andeutungen auf den Tichborne-Fall gemacht sind, ist fast die Hälfte der gut 500 Seiten... eben nicht dahingeflogen, sondern mühsam eine um die andere umgeblättert, uuumgeblättert, uuuuuuumgeblättert... Mehrmals war ich kurz davor, die Lektüre abzubrechen. Schade, bei einer deutlichen Straffung wäre das bestimmt ein Buch gewesen, das ich gern gelesen hätte. So hat es meine Geduld trotz der interessanten Thematik leider überstrapaziert.


    Aber immerhin hat es ein schönes Cover. :lol:

    :study: I. L. Callis - Doch das Messer sieht man nicht

    :study: Nadia Murad - Ich bin eure Stimme

    :musik: Asako Yuzuki - Butter (Re-???)

    :montag: Rita Mae Brown - Für eine Handvoll Mäuse (Mrs. Murphy Bd. 21)





  • sondern mühsam eine um die andere umgeblättert, uuumgeblättert, uuuuuuumgeblättert...

    :lol:


    Beim Lesen war das für Dich wahrscheinlich nicht lustig, aber die Beschreibung ist herrlich.