Kerstin Ehmer - "Diese Freiheit bedeutet mir alles". Das Leben der Kathleen Scott

  • Zitat

    "[...]Wenn du dort in Süden unterwegs bist, möchte ich sicher sein, dass Du weißt: Wenn es ein Risiko gibt, das Du auf Dich nehmen oder aber umgehen kannst, sollst Du es auf Dich nehmen. Oder wenn es eine Gefahr gibt für Dich oder einen anderen gibt, dann sollst du Du Dich ihr stellen, genauso wie Du es getan hättest, bevor du Mich oder Doodles gekannt hast. [...] Gott weiß, dass ich Dich mehr liebe, als ich mir jemals vorstellen konnte, aber ich will, dass Du weißt, dass es nicht Deine physische Existenz ist, von der wir am meisten profitieren. Wenn es etwas gibt, was Du nur unter Einsatz deines Lebens bewerkstelligen kannst, dann tu es. Wir werden froh darüber sein. Kannst du mich verstehen?"


    Diese Worte schrieb Kathleen Scott, von der diese Biographie handelt, an ihren Ehemann Robert Falcon Scott, der diese Notiz mit auf die Arktis-Expedition nahm, von der er und seine Begleiter nicht lebend zurückkehren sollten. Sie ähneln den letzten Worten Scotts, die er im Zeltlager kurz vor seinem Tod hinterließ und die von einer Todesbereitschaft zeugten, die in Großbritannien ein starkes Gefühl von Patriotismus auslöste. Diese Worte Kathleens geben auch einen Eindruck davon, dass es sich um eine außergewöhnliche Frau handelt, die zudem einer Zeit entstammt, dessen Wertekompass sich vom heutigen unterscheidet.


    Der Vorzug dieser Biographie besteht darin, die Person Kathleen Scott in ihrer gesamten Lebensgeschichte zu Ehren kommen zu lassen, ohne den letztlich nur zwei Jahren, die sie mit Robert F. Scott in Ehe verbracht hat, das Übergewicht zukommen zu lassen. Es ist letztlich nur eine Episode ihres Lebens, wenn auch eine sehr berühmte. Kathleen Scott, geborene Bruce, ist darüber hinaus ihren eigenen Weg gegangen. Als Robin-Schülerin ist sie eine erfolgreiche Bildhauerin gewesen, die unter anderem Statuen oder Büsten von den Premierministern David Lloyd George und Neville Chamberlain sowie den Königen George V. und George VI. anfertigte. Sie reiste selber durch ganz Europa und arbeitete als freiwillige Helferin im Mazedonienkrieg. Sie zog ihren und Roberts Sohn mit der Unterstützung ihrer Familie groß, heiratete später den Politiker Edward Hilton Young, gebar einen zweiten Sohn und unterstützte Zeit ihres Lebens beide Kinder auf ihren eigenen bemerkenswerten Wegen.


    Kathleen Scotts Leben ist nicht nur ein abenteuerliches und beeindruckendes, es ist auch ein großartiger Hintergrund, um das Großbritannien des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts zu erzählen. Obgleich als Künstlerin eher konservativ, schloss Kathleen Bekanntschaften mit zahlreichen berühmten Künstlern ihrer Zeit, darunter etwa George Bernard Shaw oder Isadora Duncan. Auch mit zahlreichen hochrangigen Politikern war sie befreundet, über die der geneigte Leser auch einen kursorischen Einblick in die britische Tagespolitik und Regierungsgeschäfte erhält. Sie meldete sich zur Fabrikarbeit während des Zweiten Weltkriegs, betreute kurzweilig eine Gruppe Waisenkinder und arbeitete als ministerielle Sekretärskraft.


    Kathleen Scott verkörpert darüber hinaus die Ambivalenzen, die im Wechselspiel zwischen alten Konventionen und neuen Lebensentwürfen bestehen. So ist Kathleen Scotts weitgehend selbstbestimmtes und erlebnisreiches Leben, noch dazu das einer berufsmäßigen Künstlerin, die mit ihren Werken ihren Lebensunterhalt bestreitet, sicherlich die Ausnahme ihrer Zeit. In mancher Hinsicht ist sie, die in einem Pfarrerhaushalt des viktorianischen Zeitalters aufgewachsen ist, durchaus zurückhaltend gegenüber neuen Strömungen. So äußert sich Scott im Laufe ihres Lebens mehrmals kritisch zum Frauenwahlrecht und überrascht mit entschieden patriarchal anmutenden Standpunkten. Ohnehin schließt Kathleen nur mit wenigen Frauen in ihrem Leben Freundschaft und bewegt sich vornehmlich in männlicher Gesellschaft, dennoch bleiben selbst während ihrer Studentenzeit in Paris Affären und Liebschaften eine Rarität.


    Kerstin Ehmer greift all diese Aspekte auf und setzt ein facettenreiches und einsichtsvolles Porträt einer faszinierenden und manchmal auch provokanten Persönlichkeit und ihrer Zeit zusammen. Ihr Schreibstil ist ein nüchterner, aber nicht trockener, Ehmer hält sich vornehmlich an die Fakten, die die Quellenlage hergibt, und stellt Spekulationen, wo sie nötig sind, deutlich als solche heraus. Der eine oder andere als Kapitel angelegte Exkurs zu soziologischen Besonderheiten des Viktorianischen Zeitalters erleichtern weiter die Einordnung, da die Gepflogenheiten dieser Zeit heute bisweilen fremdartig anmuten mögen. Eine gelungene Biographie!


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