Dieter Liebig - Im Anfang war das Wort

  • »Narrenspiel am Rande des Höllenkraters«


    Wie ein DDR-Pfarrer mit Kanzel-Predigten, Romanen, Hörspielen, Filmdrehbüchern, Theaterstücken und Gedichten der Stasi trotzt.


    Drei Dinge stoßen mich ab, wenn ich durch die ersten Seiten eines Buches blättere, und oft genug lege ich es dann beiseite: 1.) Rechtschreibfehler, 2.) langatmige Schilderungen, 3.) stumpfsinnige Formulierungen.


    Nicht davon findet sich im dicken Werk des Autors. Die Einführung von Sabine Bauer-Helpert, einer Pfarrerin im Ruhestand, verzichtet bei allem religiösen Bezug auf kitschige Frömmelei, und wenn sie schreibt, dass Dieter Liebigs Texte uns auch heute Tore in die Zukunft öffnen können (Seite 8), dann ist dies kein leeres Versprechen.


    Der Autor belässt es bei einem knappen Vorwort, das dem Leser hilft, den »Deutsch-Ossig-Report 1977-1986«, wie er »An Anfang war das Wort« tiefstapelnd im Untertitel benennt, in sein umfangreiches Oeuvre einzuordnen, und kommt dann gleich in medias res, will meinen: Er zitiert, anstatt seine Herkunft eigenhändig zu beschreiben, wortwörtlich einen Ermittlungsbericht der Staatssicherheit (S. 11). Solche Dokumente tauchen auf den folgenden 500 Seiten immer wieder auf. Und zu den IM-Decknamen liefert er auch die Klarnamen.


    Mit anderen Worten: Der wehrhafte Pfarrer und Schriftsteller in Personalunion packt den Stier bei den Hörnern, kämpft mit offenem Visier – was auch bitternötig ist, hat er doch seit seinem 25. Lebensjahr nicht nur die Stasi im Nacken, sondern auch riesige Braunkohlebagger vor der Nase, die sich Stück für Stück wie im Hollywoodepos »Herr der Ringe« auf sein Barockkirchlein zubewegen. Wahrhaft teuflisch. Doch Dieter Liebig ist kein Jammer-Ossi, will nicht bemitleidet werden, sondern schildert das Dantes Inferno gleichkommende Höllenspektakel, indem er (S. 17) aus einem eigenen Roman zitiert:


    »Auf dem Ort regnete Asche, mit Schwefel vermischt ... An ihre Ohren drang Quietschen, Heulen, Rasseln, Leiern, Wummern ... Als Kontrast dazu stand nach Norden hin eine Kirche, die von außen schmucklos wirkte.«


    Es folgen Theaterstücke, mit einem Laienspieltrüppchen aufgeführt, das er dort am Rande des Höllenkraters aus der Braunkohlenerde gestampft hat, in etwas so, wie nach griechischer Mythologie das Menschengeschlecht aus Lehmklumpen geformt und gebacken wurde. Der Vergleich kommt nicht von ungefähr, greift der Autor doch in seinem literarischen Schaffen auf die Werke kulturgeschichtlicher Epochen zurück, ist ungeheuer belesen, ohne in falsche Eitelkeit zu verfallen. In seinen Tagebüchern, die neben Predigten, Theaterstücken und Stasi-Berichten das Buch so reich und abwechslungsreich machen, schreibt er (S. 123):


    »Im Radio hörte ich zufällig das Dürrenmatt-Zitat: ›Ein Stück ist dass zu Ende gedacht, wenn es die schlimmstmögliche Wendung bietet.‹ Sehr schön weit vorn formuliert, für pointiertes Reden war Dürrenmatt schon immer gut.«


    Dass die Staatssicherheit dem schriftstellernden Pfarrer bzw. pfarrernden Schriftsteller dabei stets im Nacken saß und sich (mit Erfolg) bemühte, Informanten auf ihn anzusetzen, zeigt ein Tagebucheintrag auf der gleichen Seite:


    »Gestern haben wir vor einem ausgezeichneten Publikum in Weinhübel gespielt. Da ich immer noch auf der Sucher nach einem weiteren Stück bin, kam mir der Gedanke, einen ›Traum‹ nach Günter Eich zu versuchen. In dem befindet sich ein Familienvater, der nur hinausgegangen ist, um eine Zigarette zu rauchen. Da bitte ihn die Häscher um Feuer. Er kenne doch den ... So ward er zum Judas.«


    Die äußere Situation des kleinen Kirchleins am Rande der sich stetig ausbreitenden Kohlegrube ist bedrücken. In einer Silvesterpredigt (S. 176) macht Dieter Liebig seiner Gemeinde Mut:


    »Es gilt, dass das Herz fest werde, wir stark im Glauben werden in dem Wissen, dass unsere Zeit in Gottes Händen liegt.


    Am gleichen Tag steht im Tagebuch, dass am 30. Geburtstag im Sommer sein erstes Stück Premiere haben soll. Episoden aus dem Bauernkrieg. Zwei Wochen später kommt ein Schreiben, dass die Schließung des evangelischen Friedhofs ankündigt. Unerbittlich fressen sich die Braunkohlebagger weiter. Die Realität in Deutsch-Ossig im südöstlichsten Zipfel der DDR erfüllt die dramatischen Vorgaben des Friedrich Dürrenmatt in der fernen Schweiz, damals dank Stacheldraht, Mauer und Schießbefehl unerreichbar für den schreibenden Gottesmann.


    Dass die Stasi auf der Suche nach Spitzeln in seinem Umfeld erfolgreich war, zeigt der Bericht von IM Maus (S. 231). Dieter Liebig dreht den Spieß um, nennt nicht nur den Klarnamen des verräterischen Nagetiers, sondern zitiert die gesamte Tonbandabschrift der Kreisdienststelle der Staatssicherheitsdienstes in Görlitz. Thema des Gesprächs in der Privatwohnung des Informellen Stasi-Mitarbeiters war eine Generalprobe zum neuen Theaterstück »Der Turm«.


    Wenn der Autor in diesem autobiografischen Report sich selbst erklärt und jenes Unbegreifliche, das letztendlich die Kreativität jedes Künstlers ausmacht, so zitiert er aus einem eigenen Brief (S. 294), und das in jenem ihm eigenen Stil, der Bilder im Kopf des Lesers aufblitzen lässt::


    »Ich kenne einen Bassgitarristen, der alles, was erhört, in Noten fasst. Mein Tun ist ähnlich gelagert. Ich kann nur das, was ich mir beigebracht haben, setze mir begegnende Stoffe in Stücke um. Entscheidend ist also das Verhältnis zum Stoff.«


    Als Kurzvita zitiert Dieter Liebig auch einem Brief an die Zeitschrift »Theater der Zeit«, die sein Stück »Nonnenmacher« abdrucken will:


    »Mein Verfahren waren Landarbeiter, meine Mutter ist in der LPG tätig, mein Vater Arbeiter ... 1980 wurde ich Pfarrer der Kirchengemeinde Deutsch-Ossig im Energiezentrum Hagenwerder. Der Ort selbst steht auf Braunkohle.«


    Was es bedeutet, auf Kohleflözen zu wohnen, die in unmittelbarer Nähe abgebaggert werde, lässt er uns Leser in einem Romanzitat wissen(S. 333):


    »Plötzlich erstarb das Singen der Vögel, das Summen der Bienen. Die Schafe standen vollkommen regungslos das, als würden sie das Atmen unterlassen ... Das Geräusch war nicht klar zu definieren. Es handelte sich um ein Grunzen, Schnauben, Brüllen, als würde alle Tiergattungen zur Schlachtbank getrieben. Da gab es einen Schlag wie von einer überdimensionalen Uhr ... eine gewaltige Rutschung abgegangen. Zig Tonnen ... sind vom Granit abgerissen ... Daraus folgte, dass das Kohleflöz gehoben wurde und mit Luft in Berührung gekommen war. Durch die Reibung hatte es sich entzündet.«


    Man muss schon ein harter Bursche sein, um das auszuhalten. Als Sohn eines Waldarbeiters hat der Autor gelernt, handfest zuzupacken. Und weil er in Halle und Leipzig neben dem Theologiestudium das Theaterhandwerk erlernte, setzte er seine Erfahrungen in einem Hörspiel um, frei nach Iwan Turgenjews »Aufzeichnungen eines Jägers«. Das folgende Zitat stammt aus seinem Brief von 1984 (S. 336) an Radio DDR II. Ein Jahr später wurde Liebigs Hörspiel ausgestrahlt.


    »Ich werde, vor allem von kirchlicher Seite, immer wieder gefragt, wie sich beide Berufe, der des Pfarrers und der des Schriftstellers vereinbaren lassen. In beiden geht es um das Wort. Beide kommen von Menschen her und gehen auf den Menschen zu. Das verbindende Element ist daher die Ethik. In solchen Stücken wie ›Der Wildhüter‹ reflektiere ich Begegnungen. ... Mein Vater war Forstarbeiter ... Das Leben im Wald war, als es sich noch in der natürlich Ordnung vollzog, war hart. Für das Harzen der Kiefern mussten im Winter die Lachten für die Schnitte vorbereitet werden, durch sogenanntes Röten. Es galt, stundenlang bei schwerer Arbeit im Schnee zu knien. Wenn der Wind aus Westen kam, trieb er einem die abgehobelte Rinde ins Gesicht, wenn er aus Osten kam, gefror einem der Schweiß auf dem Rücken.«


    Conclusio: Dieter Liebig, der auf Jahrzehnte kreativen Schaffens zurückblicken kann, als Pfarrer sein Kirchlein verteidigte, als Bürgerrechtler von der Kanzel gegen Umweltzerstörung (Totenmesse für die Natur, S. 413 ff.), Militarismus und den Unrechtsstaat DDR predigte, ebenso mit Gedichten, Romanen, Hörspielen, Filmdrehbüchern und Theaterstücken, dem das Kunststück gelangt, sein 1986 (just als er sein Mittelalter-Theaterstück »Ratgeb« vollendet hatte, S. 478 ff.) abgebaggertes Kirchlein inmitten einer Plattenbausiedlung wiederauferstehen zu lassen, der nach der Wende als Landrat im Kreis Görlitz dem zaghaften Pflänzchen der Demokratie zum Wachsen verhalf, den jetzt in 2023 drei neue Projekte unter der Feder hat, ist kein Jammer-Literat, der sein Leid beklagen und dafür bedauert werden will. Er ist ein Dramatiker im Sinne Dürrenmatt – und uns Leser weiß er zu vergnügen.

  • ArsAstrologica

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  • Squirrel

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