Susanne Schwager - Das volle Leben. Frauen über achtzig erzählen

  • Ein gelungener Versuch, mit Kunstsprache dem Erzählten näher zu kommen.


    Oral History als akademische Studienarbeit ist im Grunde unlesbar. Wort für Wort, Stammelei und Ähs und Öhs inbegriffen, werden in schriftlicher Form Tonbandprotokolle von Gesprochenem aufgezeichnet. Ein schier unleserliches Kauderwelsch, das im Alltag fast jeder von uns spricht, wenn er nicht als Politiker oder Callcenter-Agent etc. perfekte Rede trainiert hat.


    Zeitungen und Rundfunkanstalten redigieren solche Texte in aufwendiger Weise und legen sie vor Veröffentlichung den Interviewten zur Freigabe vor. Fernsehsoaps wie »Gute Zeiten schlechte Zeiten« habe Storyliner, die die »Futures« der Erzählstränge skizzieren, Drehbuchautoren für die einzelnen Folgen, und engagieren für das auf dem Bildschirm gesprochene Wort spezielle »Dialogschreiber«. Manuskripte von Theaterstücken habe ihr eigenes Bühnendeutsch, sei es nun Shakespeare, Goethe oder Brecht. In Kinofilmen existiert wiederum eine eigene Sprache, welche dem Zuschauer die Illusion geben soll, die Helden auf der Leinwand würden »ganz natürlich« sprechen.


    Susanne Schwager lässt in »Das volle Leben« Frauen über achtzig selbst zu Wort kommen. Großformatige Porträts zu Beginn jeden Kapitels verstärken die Illusion, hier würden beispielsweise eine stinkreiche Schlagerdiva, eine bettelarme Zigeunerclan-Urahne, eine Schauspielerin gutbürgerlicher Herkunft oder eine energische Kämpferin für Frauenrechte, die sich vom ärmlichsten Immigrantenverhältnisse in einem abgelegenen Schweizer Bergdorf bis nach New York und in die hohe Politik hochkämpfte, und andere mit uns am Küchentisch sitzen und aus ihrem Leben erzählen.


    Die Autorin bedienst sich hierbei einer ganz speziellen Kunstsprache, die statt mit wörtlicher Rede die literarische Technik der erzählten Rede anwendet – und das derart feinsinnig, dass sich eine faszinierende Palette gelebten Lebens zum wahren Lesegenuss entfaltet.