Wolfgang Templin - Revolutionär und Staatsgründer: Jósef Piłsudski

  • Wolfgang Templin ist vielen heutzutage nur als DDR-Bürgerrechtler bekannt. Dass er zugleich ein exzellenter Kenner der modernen osteuropäischen Geschichte ist und sich stark in Polen engagiert hat, ist eine Überraschung.


    Er kennt die Sprache und die Leute so gut, wie nur wenige deutsche Schriftsteller, ist vollkommen frei von sentimentalen Erinnerungen an so genannten »deutschen Ostgebiete«, die man westdeutschen Schriftstellern wie Siegfried Lenz und Günter Grass verzeihen mag. Auch verzichtet er auf klischeehafte Verniedlichung der Polen, wie es dem Kabarettisten Steffen Möller zu eigen ist, der auf seine Weise sicherlich viel zur deutsch-polnischen Verständigung beigetragen hat.


    Seine Biografie des polnischen Staatenlenkers Józef Piłsudski endet mit einem kleinen Kapitel namens »Hoffnungszeichen«. Jedoch, als es im März 2022 erschien, hatte Russland bereits die Ukraine überfallen und Polen wurde zum Frontstaat der Nato. Warschau liefert Panzer nach Kiew und leistet humanitäre Hilfe, hat Millionen ukrainischer Flüchtlinge großzügig aufgenommen.


    Warum jetzt eine Biografie lesen über einen polnischen Politiker, der vor fast einem Jahrhundert starb? Und überhaupt, was geht uns schon polnische Geschichte an. Wir Deutschen fahren als Tanktouristen oder zum billigen Ostseeurlaub rüber. Mit dem Euro in der Tasche bedient man uns zuvorkommend, ohne dass man uns Deutsche mit dieser vertrackten polnischen Sprache konfrontiert. Es sind nette Leute dort drüben, als billige Erntehelfer und Putzfrauen gern bei uns gesehen. Oder die Geschichte Polen studieren, ist das nicht ein bisschen zu viel verlangt?


    Der Autor, obwohl fachlich versiert und der Sprache unseren östlichen Nachbarn mächtig, verzichtet aufs Dozieren und Belehren, auf endlose Schachtelsätze und Fußnoten – er ist nicht eitel. Zudem wendet Wolfgang Templin einen literarischen Trick, mit dem britische Historiker eine breite Leserschaft für sich gewinnen: In Mäandern wie bei einem sich gemächlich dahin schlängelnden Flusslauf mit vielen Seitenarmen schmückt er die Biografie des Vaters der Zweiten Polnischen Republik mit Anekdoten und Reiseerzählungen, die uns Leser über die Baltischen Staaten ins tiefste Sibirien führen, wo Piłsudski von einer Wahrsagerin aus der Hand gelesen wird. In die Schweiz, nach London und Paris, in ein Psychiatrie-Gefängnis in St. Petersburg, dem unser Held verkleidet als Gentleman mit Frack und Melone verkleidet entkommt, nach Lemberg und Krakau, wo die Toleranz der österreichischen K.u.K. ihn aufatmen lässt.


    Das Buch zeigt am Beispiel des »Kommandanten«, wie man den knorrige Polen nannte, wie sich die Sozialdemokratie in Osteuropa entwickelte. Konspirative Parteiarbeit unter Lebensgefahr und Konflikte mit Rosa Luxemburg, seiner Gegenspielerin, die als Salonkommunistin die Unterwerfung polnischen Arbeiter unter russische Parteifunktionäre forderte.


    Piłsudski war aufgeklärter Intellektueller und zugleich Pragmatiker. Er trat für religiöse Toleranz ein, auch gegenüber Juden, besiegte in einem waghalsigen Militärmanöver die Russen und zwang sie zum Friedensvertrag. Sein großes Ziel, eine Wiederauferstehen der Rzeczpospolita, als Polen, Litauen und die Ukraine ein Staatenbündnis eingingen, scheiterte. Jedoch wird dem Leser nach 450 Seiten unterhaltsamer Biografie klar, wieso es jetzt in 2022 zu solch einer starken Solidarität der drei osteuropäischen Staaten bei Widerstand gegen Russlands Invasion gekommen ist.


    Entlang der Lebensgeschichte eines legendären Polen Wechselwirkung ost- und westeuropäischer Politik vom ausgehenden 19ten bis weit ins 20ste Jahrhundert erzählt.