Abstoßende Protagonisten = abstoßenes Buch?

  • Hallöchen, ihr Lieben. :winken:


    Vor etwa einer Stunde habe ich mit dem unten aufgeführten Buch begonnen.

    Der Hauptprotagonist ist (zumindest bisher) einer der abstoßendsten Charaktere, die mir literarisch jemals begegnet sind. :puker: Er ist nicht einfach nur "sympathisch vertrottelt" wie ich es nach dem Klappentext angenommen hatte, sondern vollkommen weltfremd, strunzdumm, pathologisch egoistisch und grob fahrlässig.

    Ich musste gerade echt eine Pause einlegen, weil mein Puls während des Lesens in gruselige Höhen gestiegen ist. :evil:

    Dieser Kerl widert mich wirklich extremst an und ich verspüre während des Lesens eine ungeheure Wut und Abneigung.


    Ist das ein Zeichen dafür, dass dieses Buch sehr gut geschrieben ist - weil es einen solchen Gefühlssturm in mir auslösen kann?

    Oder ist dieses Buch eher schlecht, weil es mich während des Lesens tatsächlich richtig tief abstößt und mir daher eigentlich nur negative Gefühle beschert?

    Wie seht Ihr das?


    Ich persönlich finde, dass es schon irgendwie einen Unterschied zwischen dem (durchaus erwünschten) wohligem Gruseln bei Horrorbüchern und einem waschechten Widerwillen gibt.

    Seht Ihr das auch so? Und wie schlägt sich so etwas in Eurer Bewertung nieder?


    Der Knackpunkt ist halt, dass ich bei einem "Mord-und-Totschlag-Splatterbuch" abstoßende Gefühle erwarte und sie ja im Prinzip auch von vorne herein haben wollte, denn andernfalls würde ich keine Lektüre aus so einem Genre wählen.

    Aber wenn einem als Leser solche abstoßenden Gefühle vollkommen unerwartet begegnen, sind sie ja im Prinzip nicht erwünscht und somit eher negativ zu sehen, oder?


    Was meint Ihr dazu?

  • Kommt drauf an. Ist es wichtig, dass der Charakter abstoßend ist? In dem von dir verlinkten Roman ist es das. Ich kenne das Buch nicht, aber allein der Klappentext gibt zwei Dinge vor, nämlich erstens dass der Mann ja als Ekel auftreten soll, dann aber gezwungenermaßen selber zurechtkommen muss und sich allmählich bessert, sowie zweitens dass die Figuren hier etwas überzeichnet sind.


    Grundsätzlich kann man mit solchen Figuren recht interessante Sachen machen, wenn man es schafft, sie so zu schreiben, dass sie den Leser nicht kalt lassen. Ein extremes Beispiel: Ich denke da eher an einen Film namens "Der freie Wille". Der Hauptcharakter (gespielt von Jürgen Vogel) ist ein verurteilter Vergewaltiger, der nach der Haftentlassung versucht, sein Leben auf die Reihe zu kriegen und einen Rückfall zu vermeiden versucht. An der Figur wird nichts beschönigt, zum ekeln ist der Typ, aber dennoch wirft der Film tiefsinnige Fragen auf, die mit einem Wohlfühlsetting voller sympathischer Figuren so nicht drin wäre.


    Andersrum: Wenn ich einfach nur einen netten Wohlfühl-Roman lesen will, darf es nur einen abstoßenden Charakter geben, nämlich den intriganten Widersacher, der am Ende seine verdiente Niederlage erleidet (oder man verträgt sich am Ende doch). Aber die Hauptcharaktere müssen insgesamt sympathisch sein. Da ist dann aber der miese Charakter der Figuren nicht der Gegenstand des Buches, er ist eher ein schriftstellerischer Unfall.

  • Der Hauptprotagonist ist (zumindest bisher) einer der abstoßendsten Charaktere, die mir literarisch jemals begegnet sind. :puker: Er ist nicht einfach nur "sympathisch vertrottelt" wie ich es nach dem Klappentext angenommen hatte, sondern vollkommen weltfremd, strunzdumm, pathologisch egoistisch und grob fahrlässig.

    Also wenn ich den Klappentext lese, erwarte ich genau das arrogante, nicht lebensfähige Macho-A... das du beschreibst. Ein Typ, der sein Leben lang alles hintergetragen bekommen hat und nun völlig überfordert ist und natürlich erstmal seiner Frau die Schuld geben muss, die sich einfach ins Bett legt und nicht mehr für ihn sorgt.

    Aber es besteht ja Hoffnung, dass er sich relativ schnell zu dem vertrottelt tolpatschigen Typ entwickelt, den du dir vorgestellt hast.

    Ist das ein Zeichen dafür, dass dieses Buch sehr gut geschrieben ist - weil es einen solchen Gefühlssturm in mir auslösen kann?

    Oder ist dieses Buch eher schlecht, weil es mich während des Lesens tatsächlich richtig tief abstößt und mir daher eigentlich nur negative Gefühle beschert?

    Wie seht Ihr das?

    Ich glaube, das kann man nicht so pauschal sagen. Ich hab schon Bücher gelesen, in denen mich Typen aufgeregt haben, die eigentlich sympathisch sein sollten, aber für mich komplett am Sympathieträger vorbeigegangen sind. Das würde ich dann eher unter in meinen Augen schlechtes Buch verbuchen.

    Wenn aber ein Charakter als Widerling angelegt ist und ich mich genau über den dann tierisch aufregen muss / kann, dann hat der Autor ganze Arbeit geleistet und ein gutes Buch abgeliefert. Spontan fällt mir das Beispiel "Der Untertan" ein - was hab ich mich über Diederich Heßling aufgeregt, ich wollte das Buch am liebsten in die Ecke feuern, aber ich hab doch immer wieder weitergelesen und konnte am Ende Heinrich Mann nur bescheinigen, einen großartigen Roman geschrieben zu haben.

    Gelesen in 2024: 9 - Gehört in 2024: 6 - SUB: 626


    "Wenn der Schnee fällt und die weißen Winde wehen, stirbt der einsame Wolf, doch das Rudel überlebt." Ned Stark

  • Ich finde nicht grundsätzlich, dass ein Buch mit einem Widerling ein schlechtes Buch sein muss. Es kann zumindest (in Krimis) spannend und unterhaltsam sein, wenn "die Guten" versuchen, den Widerling zur Strecke zu bringen.

    Allerdings bevorzuge ich im Allgemeinen Romane mit differenziert dargestellten Charakteren und mag keine Schwarzweißmalerei, wie sie nicht selten in sehr einfach gestrickten "historischen" Romanen auftreten.

    "Books are ships which pass through the vast sea of time."
    (Francis Bacon)
    :study:
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