Dennis Lehane - Sekunden der Gnade / Small Mercies

  • Kurzmeinung

    mapefue
    Rassismus, Mutterliebe und Hass, so unterschiedlich und doch so nah beieinander
  • Kurzmeinung

    easymarkt3
    Rassismus vor 50 Jahren in den USA – immer noch ein tief gehendes Thema.
  • Haben wir aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt?


    Mit - Sekunden der Gnade - :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5:

    veröffentlicht der Diogenes Verlag am 23.08.2023 einen Roman, der sicher viele begeistern und zum Nachdenken anregen kann.


    Zum Inhalt:

    Boston 1974 in den USA. In der Gesellschaft brodelt es. Die Hitze des Sommers ist schwer auszuhalten.

    Aufgrund eines Gesetzesentscheid sollen Kinder fortan in den Schulen nicht mehr aufgrund ihrer Hautfarbe getrennt, unterrichtet werden. Um eine faire Verteilung zu erreichen, sollen im nächsten Schuljahr farbige Kinder mit Bussen. in weiße Schulen gebracht werden.

    Ebenso werden weiße Schüler in vormals ausschließlich "farbigen" Schulen gemeinsam unterrichtet werden...

    Eine Entscheidung, die bei vielen Ängste & Hassgefühle schürt.

    Ebenfalls in diesem Sommer: die 17- jährige Jules Tochter von Mary Fennessy verschwindet spurlos. Ihre Mutter versucht sie auf eigene Faust zu finden. Anstatt Antworten gewinnt Mary Gewissheit, dass das Liebste ihr genommen wurde.

    Ihrem Hass und Verzweiflung folgend, will sie nun Rache üben.


    Der Autor Dennis Lehane: ist ein inzwischen mit Preisen ausgezeichneter amerikanischer Schriftsteller. Für seine Bücher wurde er immer wieder ausgezeichnet und Preise gewonnen.

    Er lebt & arbeitet in Boston/Mass. USA.


    Die deutsche Übersetzung ist von Malte Krutsch.


    Mein persönlicher Eindruck


    Erzählstil, Übersetzung, Lesefluss, Thematik und Gesamtkonzept:

    Dieses Buch war für mich das Erste von Dennis Lehane.

    Ja, ich habe von ihm vorab schon gehört gehabt, aber bisher keinen eigenen Eindruck gewinnen können. Das wollte ich mit diesem Buch ändern.


    Die deutsche Übersetzung: ist gut und flüssig lesbar. :applause:

    Die Geschichte wir in dem damals üblichen Jargon & Wortlaut wiedergegeben. Dieses lässt alles noch viel authentischer erscheinen. Natürlich ist auch der Realitätsbezug in diesem Werk ein wichtiger Faktor. Die Emotionen der Protagonisten werden sehr gut beschrieben.

    Die gesamte Erzählung nimmt mich total gefangen. :thumleft:

    Ich sehe leider so viele Analogien zu dem heutigen politischen Geschehen in den USA. Es ist erschreckend. Die Story fungiert wie ein Spiegel in dem sich die homophobe Einstellung vieler Bevölkerungsteilen im In - & Ausland zum Greifen nahe, spiegeln.


    Zusammenfassung & Fazit:

    Ein wichtiges Thema, dass viele Menschen unbedingt lesen sollten. Hier spricht eine vergangene, homophobe Zeitepoche zu uns. Wir, die wir schon wieder beginnen, Menschen, die vermeidlich anders sind, zu verurteilen und zu verunglimpfen.


    Ich vergebe überzeugte 5*Lesesterne & verbinde diese mit einer ausdrücklichen Leseempfehlung an alle, die gern über Fakten lesen & nachdenken. [-X


    Ich kann mir vorstellen, dass dieses Buch im Schulunterricht ein bewegendes Werkzeug sein kann. Sollten wir doch alle aus unseren gemeinsamen Fehlern, der Vergangenheit lernen. :-k


    ISDN: 978-3257072587

    Seitenzahl: 400

    Formate: elektr. & Taschenbuch :study:

  • K.-G. Beck-Ewe

    Hat den Titel des Themas von „Dennis Lehane - Sekunden der Gnade - Small Mercies“ zu „Dennis Lehane - Sekunden der Gnade / Small Mercies“ geändert.
  • Rassismus vor 50 Jahren in den USA – immer noch ein tief gehendes Thema.


    Dieser Roman beginnt mit einer sehr wichtigen historischen Notiz und setzt Boston im Sommer 1974 in den Mittelpunkt des rassistischen, kriminellen Geschehens mit einem irischen Arbeiterviertel, dessen Schüler der dortigen Highschool per Bus in eine Highschool mit farbigen Schülern gebracht werden sollen. Bevor entschlossener Widerstand der Weißen nicht nur in Demonstrationen ausufert, verschwindet die 17-jährige Jules, Tochter der 42-jährigen, irischen Krankenhaushelferin Mary Pat und zeitgleich vermutet die örtliche Polizei einen Zusammenhang mit dem Tod eines schwarzen, jungen Mannes. Die Hauptfigur Mary Pat nimmt eigene Recherchen auf. Im Rückblick wird ihr ärmliches Familienleben in ihrem irischen Arbeiterviertel näher beleuchtet mit kernigen Dialogen, ihr Arbeitsplatzumfeld detailliert charakterisiert, sodass die damalige Atmosphäre voller Hass, Wut, Gewalt, Drogen und Rassismus eindrucksvoll beschrieben wird. Fast nur unter Einsatz brutaler Gewalt gelangt sie, die in ihrer Trauer nichts mehr zu verlieren hat, zu weiteren Erkenntnissen, die sie der verständnisvollen, menschlichen Gegenfigur Detective Bobby Coyne zuspielt. Der kraftvolle Spannungsbogen, bereichert durch erklärende Passagen voller Emotionen und Bostoner Örtlichkeiten, kulminiert in einer harschen Brutalität mit realitätsnahen Dialogen, die berühren. Eine Gegend mit mehr Problemen als nur Rassismus. Lesenswert!

  • Im falschen Viertel


    Trotz all der enthaltenen Krimielemente, bei denen es auch ganz schön zur Sache geht, nennt sich dieses Buch schlichtweg "Roman", denn im Eigentlichen handelt es sich hier um eine ganz fundierte Milieustudie mit einem subtilen Psychogramm.


    Die Suche einer verzweifelten Mutter nach ihrer unter dubiosen Umständen verschwundenen Tochter gründet sich auf das Urvertrauen, dass die Gemeinschaft des Viertels füreinander einsteht. Diese ist umso geschlossener, als sie nicht dazu Gehörige unter Aufbietung von grenzenloser Gewalt ausschließt. Eindrucksvoll, wie Lehane hier an Einzelfällen die Wurzeln der Rassensegregation darstellt, so fest in den Menschen verankert, dass sie niemand mehr hinterfragt. Es ist lebensgefährlich, sich in ein Viertel der anderen Hautfarbe zu verirren.


    Als Mary Pat immer mehr Hintergründe aufdeckt und mehr und mehr das Vertrauen zu den mit ihr vernetzten Leuten verliert, geht sie vor wie Tisiphone, die finstere Rachegöttin. Sie kann mit Einbruchswerkzeugen umgehen und hat keine Skrupel, Männer k.o. zu schlagen. Einen Kandidaten nach dem anderen nimmt sie sich vor, um Informationen aus ihnen herauszuquetschen, die ihr schließlich den Boden unter den Füßen wegziehen.


    Historisch gut belegt, aber zeitlos in der Aussage mit authentischen Dialogen entlarvt dieser Roman die Geisteshaltung der Rassisten schonungslos und deckt auf, dass am Ende doch wirtschaftliche Interessen und Profitgier alles andere dominieren. Lehane ist hiermit wieder einmal ein atemberaubender Titel mit tiefgründiger Substanz gelungen.

    :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5:

  • Zeitgeschichtlicher Roman oder Krimi?


    Ungeheuer spannend ist dieser Roman, keine Frage.

    Der Leser wird zurückversetzt in eine brisante Phase der amerikanischen Geschichte. Ein Ergebnis der Bürgerrechtsbewegung der 60er Jahre war die Erscheinung des ‚busing‘, das den Hintergrund dieses Romans bildet.

    Im Zentrum des Geschehens steht im Boston des Jahres 1974 die irisch-stämmige Unterschicht, repräsentiert durch die zähe Mary Pat, die gewillt ist, mit allen Mitteln das Verschwinden ihrer Tochter Jules aufzuklären. Flankiert wird diese singuläre Frauengestalt durch die vielgestaltigen Vertreter eines Kleinkriminellentums wie auch der organisierten Kriminalität.

    Im Kontrast steht dazu das Leid einer schwarzen Familie, die ihrerseits ihren Sohn im diesem Wirrwarr der aufgeheizten Atmosphäre verliert, ein stilleres, verhaltener erlebtes Leid als Mary Pat herausgeschrienes Unglück.

    Die von Dennis Lehane erzählte Geschichte hat den Ehrgeiz, zwei literarische Genres zu verknüpfen: den zeitgeschichtlich grundierten Roman und den Krimi. Über weite Strecken gewinnt der Leser den Eindruck, dass die Krimihandlung gegenüber der Schilderung des historischen Hintergrunds die Oberhand gewinnt. Wie dieser Tatbestand beurteilt wird, hängt von der individuellen Erwartungshaltung bei der Lektüre ab!


    Mein Urteil: 4 Sterne

  • "Es gibt ein altes Sprichwort: Wenn man jemandem alles nimmt, hat er nichts mehr zu verlieren." (Anhang zum Buch, Interview mit Dennis Lehane)



    Die irischstämmige Mary Pat lebt mit ihrer Tochter Jules (17) in South Boston. Es ist Sommer 1974, und die Bustransfers, die der Rassentrennung entgegenwirken und Schüler aus mehrheitlich weißen Stadtteilen in Schulen mit überwiegend farbigen Schülern bringen sollen und umgekehrt, sorgen für Aufregung. Der Widerstand ist groß, auch Mary Pat engagiert sich darin. Eines Abends geht Jules mit Freunden aus und kehrt nicht nach Hause zurück. Mary Pat macht sich auf die Suche nach ihrer Tochter und stößt auf eine Mauer des Schweigens. Nach dem Tod ihres Sohnes Noel ist Jules das einzige, das Mary Pat im Leben geblieben ist, und sie setzt alles daran zu erfahren, was in dieser Nacht passiert ist. Koste es, was es wolle.


    Dennis Lehane hätte es sich leicht machen und eine Geschichte aus der Sicht einer farbigen Familie oder einer nicht rassistischen weißen Familie erzählen können, doch er wählt mit Mary Pat und ihrem Umfeld in South Boston eine rassistische Protagonistin mit kurzer Zündschnur, die den Leser/die Leserin herausfordert. Sehr eindrucksvoll beschreibt Lehane die sozialen Strukturen im Stadtteil South Boston, der überwiegend von der ärmeren weißen Arbeiterklasse irischer Abstammung bewohnt wird. Man kennt sich seit Generationen, man hilft sich gegenseitig und hält zusammen. Der Polizei und der Obrigkeit begegnet man mit Misstrauen, für Ordnung sorgen gewachsene Clanstrukturen. Solange man sich an die ungeschriebenen Gesetze der Gemeinschaft hält, ist man auf der sicheren Seite, wer ausbricht, wird geächtet, wer den Clans in die Quere kommt, aus dem Weg geräumt.


    Schreibstil und Sprache geben die aufgeheizte, explosive Stimmung im Vorfeld der Bustransfers deutlich wieder und unterstreichen Mary Pats Temperament, die auf ihrem Rachefeldzug vor nichts und niemandem Halt macht. Besonders positiv fand ich die nüchterne, klare Erzählweise, die auf lange Showdowns und Pathos verzichtet.


    Mich hat die Geschichte bis zum Schluß gefesselt, und ich habe parallel zum Buch einiges zu den Bustransfers und den damit verbundenen Aufständen nachgelesen. Dass diese Transfers in Boston bis 2013 existierten und über viele Jahre zu Unruhen führten, insbesondere in South Boston, wusste ich bisher nicht. Lehane ist es hervorragend gelungen, die historischen Ereignisse und eigene Erinnerungen mit einer spannenden und aufwühlenden fiktiven Geschichte zu verbinden, die tiefe Einblicke in die zerrissene amerikanische Gesellschaft der 1970er Jahre bietet.


    Aufgrund der Thematik, einiger gewalttätiger Szenen und des düsteren Settings ist das Buch sicher keine einfache Kost. Wer sich jedoch hierauf einlässt, kann einen echten Ausnahmeroman entdecken, den ich unbedingt weiterempfehlen möchte.


    5 Sterne.

  • Ergreifend und mit historischem Bezug

    Es ist die Zeit der bewegten 70er Jahre, in den USA wird der vorherrschende Rassismus bekämpft, zunächst aber nur mit schwachen Ergebnissen. Auch in Boston brodelt es, denn ab dem neuen Schuljahr soll die Rassentrennung in den Schulen aufgehoben werden. Mit dem Projekt des 'busing' sollen weiße und schwarze Schüler per Bus an andere Schulen transportiert und somit vermischt werden, um damit die fortwährende Segregation zu bekämpfen.

    Mary Pat Fennessy lebt in einem irisch geprägten weißen Vorort Bostons und bereitet mit anderen zusammen Protestaktionen vor, denn auch ihre 17jährige Tochter Jules soll in Kürze per Bus in eine Schule der Innenstadt gebracht werden, was für eine gereizte Atmosphäre unter den Bewohnern sorgt. Für Mary Pat bedeutet ihre Tochter alles, denn ihr Sohn ist bereits durch Drogen gestorben, und ihr zweiter Ehemann hat sie verlassen. In einem Milieu, das von Armut und sozialen Missständen geprägt ist, möchte sie ihre Tochter vor allem Bösen beschützen.

    Eines Nachts jedoch kehrt Jules nicht nach Hause zurück. Nach anfänglichen Erklärungsversuchen und verbreiteten Suchaktionen muss Mary Pat schmerzlich zur Kenntnis nehmen, dass ihre Tochter nie mehr zurückkommt.

    Sie stößt auf ein korruptes und verständnisloses Umfeld, in dem die polizeilichen Ermittlungen kaum eine Chance haben. Denn auf der korrupten Seite häuft sich auch das Geld, und damit kann man bekanntlich viel bewegen und vertuschen.

    Dennis Lehane schildert gewohnt eindrucksvoll die Atmosphäre der Armut und Perspektivlosigkeit in Southie, im Süden Bostons. Und ebenso atmosphärisch ist auch die Beschreibung der Angst und Beklemmung, die sich in Mary Pat immer mehr ausbreiten, als ihr klar wird, dass sie Jules niemals wiedersieht. Nach ein paar Tagen verzweifelter Trauer und Einsamkeit beschließt sie, Rache zu nehmen für den großen Verlust. Da sie nichts mehr zu verlieren hat, ist ihre Vergeltung brutal und jegliche Empathie ist aus Mary Pat verschwunden. So gibt es einige Szenen, die mich sehr ergriffen machten und schlucken ließen. Andererseits habe ich immer wieder versucht, mich in die trostlose Situation der verzweifelten Mutter hinein zu versetzen, um sie zu verstehen. Auf diese Weise hat mich das Buch auch über das Lesen hinaus beschäftigt, denn der Inhalt ist abgrundtief erschütternd.

    Was mich sehr überrascht hat, ist meine Sympathie für die Hauptprotagonistin, die alles andere als rücksichtsvoll und vertrauenswürdig ist. Vielleicht liegt es an ihrer Entschlossenheit, mit der sie ihre Aktionen durchzieht und so ihrer geliebten Tochter einen letzten Dienst erweist.

    Dies ist ein Buch, das ich sicher noch lange in Erinnerung haben werde, ein Meisterstück der atmosphärisch dichten Beschreibung und eine Darstellung, zu was der Mensch in ausweglosen Situationen fähig ist. Meine uneingeschränkte Leseempfehlung!

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  • Das Cover ist im typischen Stil von Diogenes gehalten, was ich im Prinzip sehr mag, ein Bild in schmaler schwarzer Umrahmung auf weißem Grund. Es wirkt auf mich gleichermaßen bedrohlich wie beklemmend, ein - sehr schönes! - weit geöffnetes Auge, , dahinter auf geriffelter Oberfläche der Schatten eines Menschen, alles in braun, grün und schwarz - erinnert mich Irgendwie an Detektivgeschichten der 50er Jahre.


    Generell beschreibe ich in meinen Rezensionen nicht den Inhalt des Buches, die Personen oder die einzelnen Handlungsstränge, da dies jeder objektiv im Klappentext und auf den Websites der Verlage und Buchhandlungen nachlesen kann und dies für mich nichts mit einer Beurteilung des Buches zu tun hat.


    Ich habe von Dennis Lehane bisher erst ein Buch gelesen, das mir sehr gut gefallen hat, "Der Abgrund in dir", das war eine Art Psychokrimi. Insofern war ich sehr gespannt auf dieses.


    Es ist aber eine völlig andere Szenerie und Geschichte, spielt 1974 in Boston und behandelt die Probleme zwischen schwarzen und weißen Bürgern. Aber auch die Drogenszene und üble soziale Verhältnisse.


    Der Text ist großartig spannend und lebendig geschrieben, aber das Ambiente ist mehr als düster, beklemmend, hoffnungslos. Und leider ist die Thematik auch nach 50 Jahren immer wieder aktuell, teilweise mehr als je zuvor.


    Eigentlich brauchte ich so etwas gerade nicht - was nichts über die Qualität des Buches ausssagt. Im Gegenteil, es ist wirklich nach meiner Meinung ein sehr gutes Buch, wichtig unbedingt, nur beiliebe keine leichte Kost.

    Als Schullektüre für die oberen Klassen fände ich es richtig gut und diskussionswert.

  • Southie ist ein Viertel von Boston, in dem Hoffnungslosigkeit und Kriminalität herrschen, aber auch Zusammenhalt und Unterstützung. Allerdings muss man sich an die Regeln des Viertels halten. Als ein Bezirksrichter feststellt, dass schwarze Schüler systematisch benachteiligt werden, soll das Dilemma aus der Welt geschafft werden, indem weiße Schüler per Bus in ein schwarzes Viertel gebracht werden und umgekehrt. Aber Mary Pat hat andere Sorgen. Ihre siebzehnjährige Tochter Jules ist nicht nach Hause gekommen und Mary Pat macht sich auf die Suche. Doch ihre Fragen stoßen entweder auf Schweigen und Beschwichtigungen oder aber es gibt Widersprüche in den Aussagen. Doch Mary Pat lässt sich nicht einlullen. Sie macht sich auf, um die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen – ganz gleich, was es sie selbst kostet.


    Es ist eine spannende, aber auch sehr bedrückende Geschichte. Das Leben im Viertel ist hart. Auch wenn man arbeitet, ist es oft nicht möglich, seine Rechnungen zu bezahlen. So geht es auch Mary Pat. Sie ist ausgelaugt und hat nicht genügend Zeit für ihre Tochter. Aber sie liebt sie.


    Es gibt aber auch massiven Rassismus. Wenn etwas schiefläuft im Viertel, können nur die Schwarzen daran schuld sein. Auch die Drogen haben sie nach Southie gebracht und daher sind sie schuld, dass Mary Pats Sohn Noel an einer Überdosis Heroin starb, weil er das in Vietnam Erlebte nicht verkraftet hat.


    Auch wenn ich Mary Pats Vorgehen nicht gut finden kann, so kann ich sie dennoch verstehen. Sie hat alles verloren, was ihr wichtig war, daher ist es ihr auch egal, was aus ihr selbst wird. In ihr sind Hass und Gewalt und so manch einer bekommt zu spüren, wie stark sie sein kann.


    Doch am meisten hat mir der Detective Bobby gefallen. Er weiß um die Schwächen des Systems und doch setzt er alles daran, Schuldige zu überführen. Er führt einen aussichtslosen Kampf, denn überall gibt es Menschen, welche die Hand aufhalten.


    Das Finale ist drastisch, aber leider auch glaubhaft.


    Ein erschreckend aktuelles Thema und eine spannende Geschichte, die absolut lesenswert ist.

  • Dass dieses Buch keine leichte Lektüre werden würde, habe ich mir schon im Vorfeld gedacht, aber dann war es doch noch härter als erwartet. Wellen von Hass, Wut und Verzweiflung schwappen dem Leser aus den Seiten entgegen. Dazu die Abgründe von Rassismus, Gier und Menschenverachtung, Figuren, bei deren Denk- und Handlungsweisen man zwischen Mitleid, Verachtung und Entsetzen schwankt - nein, leicht zu lesen war es für mich wirklich nicht.


    Und doch ist es eine Geschichte, die fesselt bis hin zum filmreifen Showdown und dabei unglaublich authentisch rüber kommt. Rein sprachlich liest es sich relativ unkompliziert, ein bisschen schwierig wird es zeitweise durch die Fülle von Namen, Orten, samt den strukturellen und familiären Zusammenhängen, die für mein Empfinden manchmal zu ausführlich beschrieben sind. Auf der einen Seite lässt vielleicht gerade das die Atmosphäre besonders intensiv werden, bereitet aber auch eine gewisse Mühe, den roten Faden im Auge zu behalten.


    Eine wirklich starke Geschichte, aufwühlend und schmerzhaft, nicht zuletzt wegen der bitteren Erkenntnis, dass sich in den vergangenen 50 Jahren nicht wirklich viel geändert hat.

  • REZENSION – Das amerikanische Reizthema der Rassentrennung sowie die in vergangenen Jahren wieder zunehmende Segregation an US-Schulen bilden den Hintergrund zu dem im August beim Diogenes Verlag erschienenen Roman „Sekunden der Gnade“ des amerikanischen Schriftstellers Dennis Lehane (58). Zwar wurde bereits 1954 nach der Klage einer afroamerikanischen Mutter die Rassentrennung an den Schulen der Vereinigten Staaten grundsätzlich aufgehoben (Brown gegen das Board of Education), doch waren es erst drei Jahre später die „Little Rock Nine“, die neun schwarzen Schüler aus Little Rock (Arkansas), die unter starkem Schutz der Nationalgarde die „weiße“ Little Rock Central High School besuchen durften.

    Um die unterschiedlichen sozialen Milieus in den Schulen zusammenzuführen, richteten in den nachfolgenden Jahren viele Städte – meist auf Druck der Bundesregierung und der Gerichte – spezielle „Busing-Programme“ ein: Schüler aus überwiegend von Schwarzen bewohnten Innenstädten wurden mit Bussen in die Schulen der vorwiegend von Weißen bewohnten Vorstädte gefahren und weiße Kinder und Jugendliche in die von Schwarzen besuchten Schulen der Innenstädte. Im September 1974 wurde Boston, Heimatstadt des 1965 in der vom Arbeitermilieu irischer Einwanderer geprägten Vorstadt Dorchester geborenen Autors Dennis Lehane, zu einem Widerstandszentreum weißer Vorstadtbewohner gegen das vom Bürgermeister angeordnete „Busing“. Lehane schreibt im Nachwort: „Ich habe die ganze gewalttätige Show hautnah miterlebt.“ Die Einwohner setzten sich vor allem aus rassistischen Gründen gegen diese Integrationsmaßnahmen zur Wehr, gaben allerdings vor, das Absinken des Bildungsniveaus an ihrer Schule zu fürchten. Hören wir nicht auch in Deutschland nach Anstieg der Schülerzahlen aus Flüchtlings- und Einwandererfamilien verstärkt gerade dieses Argument?

    Vor diesem sozialpolitischen Hintergrund des Jahres 1974 spielt der Roman „Sekunden der Gnade“ in einer Bostoner Vorstadt: Die Weißen sind in Aufruhr und leben in Angst vor den schwarzen Jugendlichen. „Weeze würde sich im Grab umdrehn, wenn sie an der South Boston High School eine Horde Darkies durch denselben Gang laufen sähe wie ihre Enkeltochter.“ Eines Nachts kommt die 17-jährige Jules Fennessy nach einem Treffen mit Freunden nicht nach Hause zurück. In derselben Nacht kam ein schwarzer Junge ums Leben, als er von vier weißen Jugendlichen vor einen einfahrenden Zug gestoßen wurde. Haben beide Vorfälle etwas miteinander zu tun? Gehörte Jules zu dieser Gruppe? Ihre Mutter Mary Pat sucht sie in der Nachbarschaft und fragt überall bei Freunden und Bekannten nach ihr. Zunächst will ihr niemand etwas sagen. Doch dann erfährt sie, dass Jules in mafiösen Verbrecherkreisen verkehrt hat. Schließlich muss sie erkennen, dass man ihr, die schon einen geliebten Mann und ihren ältesten Sohn verloren hat und vom zweiten Mann verlassen wurde, nun auch noch das Letzte genommen hat, was ihrem Leben Sinn gab: Ihre Tochter wurde von ihrem verheirateten Liebhaber ermordet. Doch Mary Pat, die schon in ihrer Kindheit wie ein Junge zu kämpfen gelernt hatte, gibt sich nicht geschlagen. In tiefem Schmerz nimmt sie Rache. Dabei schreckt sie auch vor Mord nicht zurück. Schließlich hat sie nichts mehr zu verlieren.

    „Sekunden der Gnade“ ist aus mehreren Gründen interessant: Einerseits beschreibt der aus eigenem Erleben sachkundige Autor sehr plastisch das soziale Miteinander, die Gefühlswelt der Bewohner sowie den Lebensstandard der weißen Arbeiterschicht: „Bess ist ein zweifarbiger 1959er Ford Country. Sein Heck hängt durch wie ein alter Hundearsch … und den Auspuff halten nur zerfranstes Metzgergarn und schieres Glück.“ Zum Anderen erfährt man viel über die gesamtpolitische Stimmung zu jener Zeit in den USA sowie über das politische Bemühen schulischer Integration von Schwarz und Weiß. Drittens verbindet Lehane dies in einer spannenden Handlung, geschrieben in lockerer, oft bildhafter Sprache, die schon allein das Buch zu guter Lektüre macht.

    Im abschließenden Nachwort warnt Dennis Lehane: „Rassismus ist ein widerwärtiges, krebsartiges Vorurteil, das von den Eltern an die Kinder weitergegeben wird. Eine Seuche, die demjenigen, der sie in sich trägt, ebenso viel Schaden zufügt wie seinen Opfern.“ Blickt man sich heute auf den Straßen unserer Großstädte um, erschrickt man, wie aktuell leider dieser Roman trotz seines historischen Hintergrunds ist.

  • „Sekunden der Gnade“, englischer Titel „Small Mercies“, ist ein erbarmungsloser Thriller, der 1974 in Boston spielt, als die sg. Buskrise, gerade erst in der Stadt ausbrach, im Englischen besser als „bussing“ beschrieben. Zwiespältig die Bezeichnung Thriller oder Krimi, eher ein betäubendes Sittenbild der amerikanischen rassistischen Gesellschaft.


    Es geht nicht um die „Letzten Tage von Pompeji“, sondern um die letzten Tagen des Sommers 1974 in South Boston, um eine alleinerziehende, zweifach geschiedene Mutter im irisch dominierten Stadtteil „Southie“ von South Boston. Mary Pat Fennessy, kam nie aus den öffentlichen Wohnsilos, den „Projects“ hinaus, sie ist 42, hat zwei Jobs und kommt immer noch nicht über die Runden, ihr Sohn starb nach seiner Rückkehr aus Vietnam an einer Überdosis Drogen. Eines Nachts bleibt Mary Pats 17-jährige Tochter Jules lange unterwegs und kommt nicht nach Hause. Am selben Abend wird ein junger Schwarzer unter mysteriösen Umständen tot in einem U-Bahnschacht gefunden.

    Die beiden Ereignisse scheinen vorerst keine Verbindung zu haben. Mary Pat, angetrieben von der verzweifelten Suche nach ihrer vermissten Tochter, beginnt mit Nachforschungen in ihrem Viertel, im Bekanntenkreis ihrer Tochter und tritt dabei dem kriminellen König von South Boston, Marty Butler auf die Zehen.


    „Sekunden der Gnade“, ist zwar Fiktion, aber sie basiert auf tatsächlichen Ereignissen, wie dem Entscheid des US-Bezirksrichters W. A. Garrity vom 21. Juni 1971, dass der Bostoner Schulausschuss im öffentlichen Schulwesen „schwarze Schüler systematisch benachteiligt“ habe. Abhilfe sollte schaffen, Schüler aus überwiegend weißen Stadtvierteln mit Bussen in überwiegend schwarze Stadtviertel zur Schule zu bringen, um die Rassentrennung an den öffentlichen Highschools aufzuheben – eben das „bussing“.


    Dennis Lehane, neun Jahre alt, fuhr in diesem Sommer 1974 mit seinem Vater nach South Boston und hat die Protestbewegung gegen die Einführung von Schulbustransporten zur Aufhebung der Rassentrennung als Augenzeuge miterlebt. Bereits damals wusste Lehane, dass er einmal etwas über das „bussing“ schreiben wollte.


    In diesen simplen, unscheinbaren Gesprächen und Texten steckt eine ungeheure Sprengkraft, die einen erschaudern lässt. „Sekunden der Gnade“, eine brutale Darstellung von Kriminalität und Macht, und ein unbestechliches Porträt des dunkelschwarzen Herzens des amerikanischen Rassismus.

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