Ludwig Tieck -Wilde Geschichten

  • Kurzmeinung

    drawe
    Frühe Geschichten, die schon das ganze Spektrum von Tiecks Erzählkunst abdecken
  • Klappentext:


    Er galt als »König der Romantik«, brachte Deutschland mit seinen Übersetzungen Shakespeare und Cervantes nahe, war genialer Entdecker, Förderer, Vorleser – doch seine eigenen frühen Erzählungen, in denen er Wahnsinn, Raserei, Furcht und Schrecken literaturfähig macht, gilt es erst noch zu entdecken.


    Schon als Junge war Tieck ein Bücherfresser par excellence. Und seine eigene Phantasie schlug wilde Volten. Der Fremde, Der Psycholog, Liebeszauber, Der Runenberg und ähnlich heißen seine frühen Geschichten, die freilich kaum jemand kennt. Ein großer Fehler, sagen Jörg Bong und Roland Borgards – und liefern zu Tiecks 250. Geburtstag eine brillante Auswahl davon. Sie erzählen zudem in kurzen Zwischentexten vom Genie ihres Erfinders.


    Tiecks Erzählungen haben bis heute nichts von ihrer mitreißenden Intensität verloren. Denn sie haben es in sich: Tieck entwickelt darin Arten des Erzählens, die bis heute bestimmend geblieben sind, von der Literatur über das Kino bis zur Netflix-Serie, im Dreiklang von Comedy, Horror und Fantasy.



    Mein Lese-Eindruck:

    Kaum zu glauben: eine Werksammlung von Ludwig Tieck, dieses begnadeten Romanschreibers, Novellendichters, Lyrikers, Dramaturgen etc. und Übersetzers, steht immer noch aus. Umso schöner, dass Jörg Bong und Roland Borgards sich entschlossen haben, dem Meister ein besonderes Geschenk zu seinem 250. Geburtstag zu machen: die Herausgabe von 11 seiner frühen Geschichten.


    Tieck war ca. 20 Jahre alt, als er diese Geschichten schrieb und hatte sich nach Studienabbrüchen dazu entschlossen, das Schreiben zu seinem Beruf zu machen und davon zu leben. Liest man diese frühen Geschichten, mag man weder das junge Alter des Schreibers glauben noch das Alter der Geschichten: diese Erzählungen sind wunderbar erfunden und sie lesen sich schwungvoll und frisch.


    Die Herausgeber haben unterschiedliche Geschichten hier versammelt, die ich mit größtem Vergnügen gelesen habe. Schon diese frühen Erzählungen spiegeln die ganze Bandbreite von Tiecks Erzählkunst wieder. So lässt er einige seiner Geschichten alltäglich beginnen, z. B. ein Mann macht eine Reise und kommt in einer Stadt an, und in dieses Alltäglich-Bürgerliche schleicht sich nun das Fantastische. Eine kleine Beobachtung von etwas Merkwürdigem und Ungewöhnlichen kann das Einfallstor für Unheimliches und Schauerliches sein. Andere Geschichten wiederum vermengen die Realität mit Elementen einer Anderwelt, in der sich Raum und Zeit aufheben und neue Gegebenheiten schaffen.


    Sehr originell, fast schon modern, ist auch Tiecks Technik des mehrperspektivischen Erzählens, das er an einer Geschichte vorführt. Hier spricht einerseits ein verliebter, aber etwas linkischer Beamter, und auf der anderen Seite spricht eine lebenlustige junge Frau, der er den Hof macht und sie mit seiner Unterhaltung zu Tränen langweilt, die er aber wiederum für Tränen der Rührung hält. Mit dieser unterschiedlichen Sicht auf ein- und dasselbe Vorkommnis irritiert Tieck den Leser, der sich vor Widersprüche gestellt sieht und plötzlich die Relativität der Wahrheit erkennt.


    Besonders beeindruckend sind Tiecks Naturbeschreibungen, die sich nicht in der reinen Beschreibung erschöpfen, sondern immer ein Spiegelbild der seelischen Befindlichkeiten sind und Stimmungen wie Freude, aber auch Angst und Wahnsinn spiegeln. Tiecks Natur ist eine symbolische Seelenlandschaft. Die Wiedergabe von Gefühlen und Stimmungen zieht sich durch die ganzen Geschichten hindurch, und hier zieht Tieck alle Register: von Freude und Übermut angefangen bis hin zu Angst, Zweifel an der Realität, Schwindel, Wahnsinn, Grausen und Selbstverlust.


    Der Band ist originell gegliedert, indem auf jede Geschichte ein Kapitel der Herausgeber folgt, überschrieben mit „Tieck lesen“. In diesen kurzen Zwischenkapiteln weisen die Herausgeber auf literaturgeschichtliche Zusammenhänge hin (z. B. Tiecks Loslösung vom erbaulichen Erzählen der Aufklärung), sie erläutern Schreibtechniken Tiecks, sie bieten Interpretationsansätze an und verbinden die Geschichten miteinander.


    Ein großes Lesevergnügen!


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    :study: Edvard Hoem, Der Heumacher.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).