Lukas Bärfuss- Die Krume Brot

  • Kurzmeinung

    drawe
    Roman eines Scheiterns, das gesamtgesellschaftliche Ursachen hat, die vom Einzelnen nicht durchschaut werden
  • Kurzmeinung

    SimoneF
    Leider sehr einseitige Sichtweise
  • Ich war sehr gespannt auf den neuen Roman "Die Krume Brot" des Büchner-Preisträgers Lukas Bärfuss und ging mit entsprechend hohen Erwartungen an das Hörbuch heran.



    Die Protagonistin Adelina hat es schwer im Leben, sie wächst unter schwierigen Verhältnissen auf, geht im Schulsystem unter, bleibt Analphabetin, und hat eigentlich von Anfang an im Leben verloren, so der Grundtenor des Buches. Das Erbe der Großeltern und Eltern, im übertragenen Sinne sowie materiell, bestimmt ihr eigenes Schicksal, und die Traumata und Verletzungen ihrer Vorfahren setzen sich in ihr fort. Die Welt ist düster bei Bärfuss, der Mensch ist von sich selbst und seinen Möglichkeiten entfremdet, ist am falschen Platz, quält sich durch die Lohnsarbeit, um über die Runden zu kommen. Vermieter, Arbeitgeber, Geldeintreiber und Bekannte sind ohne Empathie und Moral, kalt, opportunistisch.


    Und hier liegt für mich der Schwachpunkt dieses Romans. Mir ist diese Sichtweise zu negativ. Ohne Frage ist es für jeden eine schwere und lebenslange Aufgabe, sich von seinen Eltern und deren Erbe zu lösen, doch sie ist nicht von vornherein zum Scheitern verurteilt. Adelina bleibt passiv, wirkt unreif, wenig intelligent, zeigt keine Energie, an ihrer Situation grundlegend etwas zu ändern. Sie nimmt keine Hilfe von Behörden in Anspruch, Umschulungen und Maßnahmen zur Erwachsenenbildung hätte es auch damals schon gegeben. Stattdessen lässt sie sich auf die falschen Männer ein und tritt auf jene ein, die schwächer sind als sie. Die Weltsicht ist mir zu schwarz und zu einseitig, der Plot wirkt durchsichtig und konstruiert, und einige zeitliche Abläufe passen nicht zueinander (etwas als Adelina minderjährig das Schuldenerbe des Vaters annimmt, obwohl sie noch gar nicht rechtskräftig unterschreiben kann).


    Sprecherin: Dass ungekürzte Hörbuch mit einer Laufzeit von 5 h 39 min wurde von Sandra Hüller eingelesen. Ihrer angenehmen Stimme habe ich sehr gerne zugehört, und der ruhige Vortrag passt sehr gut zum Roman.



  • Verlagsinformation:


    Der neue Roman des Büchner-Preisträgers führt ins Zürich der frühen 1970er Jahre: ein bewegendes Frauenleben am Rande der Wohlstandsgesellschaft.


    Adelina, Tochter italienischer Einwanderer, arbeitet in einer Zürcher Fabrik, als sie nach kurzem Liebesglück mit einem Kind allein dasteht. Sie verliert die Stelle, die Wohnung, kämpft ums Überleben. In der größten Not lernt sie Emil kennen, einen erfolgreichen Grafiker, der ihre Schulden bezahlt und Adelina mit der kleinen Emma bei sich aufnimmt. Außer an der Liebe fehlt es an nichts. Emil kauft ein Anwesen in den Bergen des Piemont und scheint auf gemeinsames Glück zu hoffen. Aber dann verschwindet das Kind, spurlos.


    Adelina macht sich auf die Suche, begleitet von einem schweigsamen Unbekannten. Er bringt sie nach Mailand, in eine Kommune, zu Menschen, die an die Revolution glauben und Adelina versprechen, die verlorene Tochter zu finden; sie muss nur bereit sein, sich dem Kampf anzuschließen, und mit ihren Schweizer Papieren über die Grenze gehen, auf eine gefährliche Mission.



    Mein Hör-Eindruck:


    „Niemand weiß, wo Adelinas Unglück seinen Anfang nahm, aber vielleicht begann es lange vor ihrer Geburt, 45 Jahre vorher, um genau zu sein, an der Universität in Graz.“


    So beginnt der Roman, und der Leser weiß: das endet nicht gut. Er weiß aber auch, dass er nun die Ursachen für das Unglück Adelinas, der jungen Protagonistin erfährt. Es beginnt mit ihrem Großvater in Triest, ein treuer Anhänger Gabriele d’Annunzios und dann auch Mussolinis und ein Feind der Slawen. Der Großvater gibt diese Überzeugungen weiter an seinen Sohn, und der wieder an seinen Sohn Mario, der der Vater Adelinas werden wird.


    Der Vater liebt seinen einzigen Sohn Mario abgöttisch, und das Unglück beginnt damit, dass er eines Tages von einem Verwandten auf dessen slawische Wurzeln hingewiesen wird. Von Stund an überzieht der Vater den jungen Mario mit Ablehnung, einer Ablehnung, die sogar so weit geht, dass er ihn in den Krieg ziehen lässt und auf seinen Tod hofft. Mario wird ein getriebener Mensch, er ist verunsichert, an keinem Ort hält er es lange aus, schließlich zieht er mit großen Hoffnungen in die Schweiz, aber in keiner Tätigkeit kann er dauerhaft Fuß fassen, trotz herausragender intellektueller Gaben.


    Mit diesen intellektuellen Gaben ist sein einziges Kind, Adelina, nicht gesegnet. Sie verlässt die Schule als Analphabetin, und da ihr Vater bei seinem Tod horrende Schulden hinterlässt, kann sie ihre künstlerischen Talente nicht entfalten. Sie muss als ungelernte Kraft arbeiten. Und so gerät sie in die Mühle des Kapitalismus, aus der sie sich nicht mehr befreien kann, erst recht nicht, als sie für ein Kind zu sorgen hat und als Italienerin in der Schweiz Restriktionen unterliegt. Immer wieder versucht sie einen kleinen Befreiungsschlag, aber sie gerät nur immer tiefer in die Fallen eines menschenverachtenden Systems, in dem sich ihre Eltern schon verloren hatten. Sie erkennt zwar ihre Abhängigkeit, aber sie kann sich nicht daraus lösen, weil sie die zugrundeliegenden Mechanismen nicht durchschaut.


    Der Autor zeichnet diese Abhängigkeiten fast quälend nach, und es ist ihm offensichtlich ein Bedürfnis, dem Leser das Funktionieren dieser Mechanismen begreiflich zu machen. Dazu wählt er eine Figur aus, Renato, der einen langen Vortrag hält. Dieser Vortrag ist, zugegeben, didaktisch geschickt aufgebaut, aber er unterbricht die Erzählung mit seinem Theoretisieren. Mir persönlich hätte es besser gefallen, wenn der Autor seine Sozialkritik ausschließlich über die Handlung transportiert hätte.


    Dennoch: Bärfuss‘ Blick auf die zeitgenössische Schweiz ist scharf und gnadenlos, und wenn man seine Biografie kennt, weiß man, dass er das selbst erlebt hat: bitterste Armut in einem reichen Land.


    Adelina lässt sich mitreißen und entschließt sich, den Roten Brigaden beizutreten und eine andere, gerechtere Welt zu schaffen. Aber sie verkennt, dass sie auch hier wieder in eine neue Abhängigkeit rutscht und lediglich instrumentalisiert wird. Schließlich erkennt sie völlig desillusioniert, dass ihr Leben immer ein Kampf sein wird:


    Wie soll es weitergehen, woher soll das Geld kommen, woher die Krume Brot? - … sie hatte nichts zu geben als einen ewigen Kampf.“


    Bärfuss erzählt in immer ruhigen Ton diese Geschichte eines Scheiterns und legt dessen Ursachen bloß. Die ruhige Stimme von Sandra Hüller mit ihrem ganz besonderen Timbre macht das Hörbuch zu einem Hör-Vergnügen.


    Ein Buch zum Nachdenken.


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    :study: Edvard Hoem, Der Heumacher.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).