Klappentext
1828 - Robin Swift, den ein Cholera-Ausbruch im chinesischen Kanton als Waisenjungen zurücklässt, wird von dem geheimnisvollen Professor Lovell nach London gebracht. Dort lernt er jahrelang Latein, Altgriechisch und Chinesisch, um sich auf den Tag vorzubereiten, an dem er in das Königliche Institut für Übersetzung der Universität Oxford - auch bekannt als Babel - aufgenommen werden soll.
Oxford ist das Zentrum allen Wissens und Fortschritts in der Welt. Für Robin erfüllt sich ein Traum, an dem Ort zu studieren, der die ganze Macht des britischen Empire verkörpert.
Denn in Babel wird nicht nur Übersetzung gelehrt, sondern auch Magie. Das Silberwerk - die Kunst, die in der Übersetzung verloren gegangene Bedeutung mithilfe von verzauberten Silberbarren zu manifestieren - hat die Briten zu unvergleichlichem Einfluss gebracht. Dank dieser besonderen Magie hat das Empire große Teile der Welt kolonisiert.
Für Robin ist Oxford eine Utopie, die dem Streben nach Wissen gewidmet ist. Doch Wissen gehorcht Macht, und als chinesischer Junge, der in Großbritannien aufgewachsen ist, erkennt Robin, dass es Verrat an seinem Mutterland bedeutet, Babel zu dienen. Im Laufe seines Studiums gerät Robin zwischen Babel und den zwielichtigen Hermes-Bund, eine Organisation, die die imperiale Expansion stoppen will. Als Großbritannien einen ungerechten Krieg mit China um Silber und Opium führt, muss Robin sich für eine Seite entscheiden ...
Meine Meinung
Wow, also ich fand diese Geschichte sehr beeindruckend! Die Autorin hat eine Menge Themen mit eingeflochten - über die Sprachen, ihre Ursprünge, Zusammenhänge und Entwicklungen, Kolonialherrschaft, Monopole und Ausbeutungen auf verschiedenen Ebenen. Aber auch das Erwachsenwerden, Freundschaften, die Hoffnung auf Integration und Anerkennung... Dabei wirkte es nie überbordend durch die unmerkliche Entwicklung, die sich langsam ausbreitet und immer mehr Raum einnimmt - und diese ganzen Themen sozusagen mit sich trägt.
Es beginnt im Jahr 1829 in Kanton - China. Wir begegnen Robin, als er 11 Jahre alt ist, und den Tod seiner Mutter erleben muss. Gleichzeitig seine Rettung nach England, Oxford, wo er im hoch anerkannten "Turm Babel" die Sprachwissenschaften studieren darf.
Das Besondere: es gibt Magie - und zwar durch Worte. Und das fand ich eine geniale Idee und eine faszinierende Verbindung. Silber ist das Handelsgut, mit dem die Magie gewirkt wird und durch die Buchstaben, die man darin einprägt.
Dabei geht es vor allem um die Übersetzungen, um die Herkunft der Worte und was sie bedeuten bzw. die verschiedenen Bedeutungen und das, was dazwischen liegt und nicht so wirklich greifbar ist. Denn natürlich ist nicht jedes Wort direkt übersetzbar; oder hat verschiedene Substanzen, die erst durch den Kontext sinnvoll werden. Ich möchte nicht zu viel verraten oder vorgreifen, jedenfalls fand ich die Gedanken hierzu sehr spannend und gerade die Einblicke in die Etymologie total interessant!
Dazu kommt natürlich auch die Rolle von Robin und seinen Studienkollegen, die in "Babel" ein hartes Lernpensum durchmachen müssen, um selbst in Zukunft vielleicht sogar auch das Magiewirken mit Silber erlernen zu dürfen.
Die Arbeit der Übersetzer ist in England sehr gefragt und während man Robin im Laufe der Seiten gut kennengelernt hat, kommen jetzt auch seine Freunde Ramy, Letty und Victoire dazu, die alle mit ihren unterschiedlichen Sprachen dazu beitragen sollen, wichtige Handelsnetze mit entfernten Ländern zu stärken.
"... Immerhin sind wir hier, um das Unbekannte bekannt zu machen, das Andere vertraut. Wir sind hier, um mit Worten Magie zu wirken."
Zitat Seite 122
Die Autorin vermittelt hier einen sehr guten Blick auf das Zwischenmenschliche dieser Freundschaft. Was sie in Worte fasst kann man äußerst gut nachempfinden und wirkt berührend und intensiv, anschaulich und nachvollziehbar. Sie alle sind wissbegierig und genießen das Leben auf dem College, wollen dazugehören und streben nach Anerkennung... und doch bekommen sie zu spüren, dass sie trotz all ihrer Leistungen eine gewisse Grenze nie überschreiten werden.
Sie sind keine Engländer und auch wenn sie die Diskriminierungen abschütteln und ignorieren, sind sie ihnen immer bewusst - was wahrscheinlich auch dazu führt, dass ihr Zusammenhalt immer absoluter wird.
Babel war der einzige Ort, an dem seine Talente etwas zählten. Babel bedeutete Sicherheit. Und vielleicht war die Institution moralisch fragwürdig, ja - aber war es falsch, überleben zu wollen?
Zitat Seite 197
Dass der schöne Schein trügt ist Robin recht bald bewusst, doch will er wirklich seine privilegierte Stellung aufgeben? Was ist es ihm wert, zu seinen Überzeugungen zu stehen - wie sehr fühlt er sich seinem Gönner verpflichtet? Und wie sehr seinem Land?
Ein Wink mit dem Zaunpfahl an alle, die den Kopf in den Sand stecken oder einfach die Augen verschließen - was wir ja alle mehr oder weniger tun, denn wir haben ein gutes Leben, das wir nicht so einfach aufgeben wollen. Wenn man allerdings genauer hinschaut, egal auf welche Missstände, bewegt sich etwas im Denken und Fühlen und verändert, nicht nur uns selbst sondern auch all unsere weiteren Entscheidungen.
Ebenfalls mit einbezogen wird der Fortschritt. Die Effizienz im Gegensatz zur Arbeitslosigkeit, die sich ausbreitet und die Kluft zwischen Arm und Reich vergrößert. Man findet hier viele Parallelen zur Gegenwart und bekommt auch viel Stoff zum Nachdenken.
Die Geschichte, werden manche sagen, plätschert lange vor sich hin, aber ich habe jeden Schritt von Robins Werdegang mit Interesse verfolgt und war von seinem Blickwinkel auf die Welt total gebannt. Auch von seiner Entwicklung, die sich erst langsam durchsetzt und dann rasant umschlägt, ist sehr berührend und aufwühlend!
Wut war ein Zustand der Ohnmacht. Wut nahm einem die Kontrolle über sich selbst. Sie ergriff von einem Besitz, machte einen rasend, bis man außer sich war. Wut war ein Zustand der Unfreiheit, den man anschließend mit Gewalt zu beenden versuchte.
Zitat S. 439
Ich wusste nicht, wohin mich diese Geschichte führen wird und war erstaunt über die Ernsthaftigkeit aller konsequenten Fortführungen der Motive, die hier eine Rolle spielen und diese auch in unsere Gegenwart übertragen kann. Ein großartiges Werk, das noch lange nachhallen wird!
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Zum Abschluss möchte ich sagen, dass ich es einerseits gut finde, dass die Autorin direkt als erstes darauf hinweist, was sie an dem historischen Oxford in ihrer Geschichte geändert hat. Um den Beschwerden von Lesern vorzubeugen, die das ankreiden, wenn es Unstimmigkeiten zu den historischen Überlieferungen gibt.
Andererseits: Es ist historische --> Fantasy! Natürlich dürfen da nach meiner Ansicht Änderungen vorgenommen werden, solange sie nicht völlig an den Haaren herbeigezogen sind, zur Geschichte passen und für den Verlauf stimmig sind.
Außerdem sind die Fußnoten hier ein gewichtiger Teil der Authentizität, denn es wirkt immer so, als belege R. F. Kuang mit ihren kleinen Ergänzungen das wahre Potenzial. Hier hätte ich gerne gewusst, was davon tatsächlich wahr ist und was die Geschichte ausschmückt
Mein Fazit: 5 Sterne
Weltenwanderer