Hanno Sauer - Moral: Die Erfindung von Gut und Böse

  • Kurzmeinung

    FrankWe
    Die Menschheitsgeschichte der Moral - erkenntnisreich aufgearbeitet
  • Der in Utrecht lehrende Philosophie-Ethiker Hanno SAUER hat ohne Zweifel einen großen Wurf gewagt: Er ist angetreten, nicht weniger als die komplette Moralgeschichte der Menschheit darzustellen – und zwar von den allerersten Anfängen bis in die pralle Gegenwart.

    An einem solchen gigantischen Projekt (sicherlich SAUERs professorales Lebenswerk) kann man sich beweisen – oder auch scheitern…


    SAUER liebt offenbar die Zahl 5 – denn er gliedert die Historie in entsprechende Entwicklungsetappen (5 000 000, 500 000, 50 000; … Jahre). Wer sich auf solche zeitlichen Dimensionen einlässt, kommt wohl nicht umhin, zusammen mit der Moralentwicklung gleich eine ziemlich umfassende Gesamtdarstellung menschlicher Kulturgeschichte zu liefern. Und da Kultur nicht loszulösen ist von den konkreten evolutionär-biologischen, klimatischen, geografischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedingungen, erhalten wir mit diesem Buch gleich einen kompletten Geschichtslehrgang dazu. Dieser lässt sich wohl am ehesten mit dem Ansatz vergleichen, den HARARI in seinem Welterfolg („Eine kurze Geschichte der Menschheit“) verfolgt hat: Beide betrachten nicht politische oder militärische Verläufe, sondern die großen und grundlegenden Entwicklungslinien des kulturellen Siegeszugs der Gattung Mensch (seltsamer Weise nimmt SAUER keinen expliziten Bezug auf HARARI).


    In den einzelnen Epochen untersucht der Autor mit großer Sorgfalt, warum welche moralischen Regeln entstanden sind bzw. sich ausbreiten und etablieren konnten. Konkret stellt sich dabei immer die Frage, warum ein (biologisch weitgehend vorgeprägter) gebändigter Egoismus (oder sogar Altruismus) einen evolutionären Überlebenswert aufwies und welche Rolle später die kulturelle Evolution bei der Entwicklung komplexerer Moralsysteme eingenommen hat.

    Wir werden im Laufe dieser historischen Entdeckungsreise mit einer Reihe von spannenden Perspektiven konfrontiert, die nicht unbedingt als Allgemeinwissen betrachtet werden könnte: Wem ist z.B. der Gedanke vertraut, dass die frühen Menschen offenbar dadurch eine Art systematische Selbst-Domestizierung betrieben haben, in dem sie besonders aggressive und unkooperative Gruppenmitglieder schlicht töteten?


    Aus Sicht von SAUER gibt es einen sehr grundsätzlichen Paradigmenwechsel in der Moralentwicklung: Evolutionär programmiert sind wir nämlich eindeutig darauf, dass wir unsere altruistischen Seiten nur für eine kleine Gruppe von Verwandten oder Stammesmitglieder mobilisieren können. Hunderttausende von Jahren war die empathische Fürsorge für die eigene Gruppe unlösbar mit der eindeutigen Ablehnung und Feindschaft gegenüber den „Anderen“ verbunden. Eine Kooperation über diese überschaubaren persönlichen Kreise hinaus ist eine Errungenschaft, die bis heute massive kulturelle und emotionale Energie kostet.

    Es wird deutlich, dass SAUER eher erstaunt ist, dass es dem Menschen überhaupt gelungen ist, Solidarität und Verantwortung über die eigene Gruppe hinaus zu entwickeln. Nur so konnten allerdings komplexe und arbeitsteilige Sozialstrukturen entstehen, die dann schließlich in den letzten paar Hundert Jahren die moderne Welt ermöglichte.

    Wie der Umgang mit aktuellen Herausforderungen zeigt, ist diese moralische Schwelle – die inzwischen auch die Verantwortung für zukünftige Generationen umfassen müsste noch längst nicht von allen Menschen erreicht.


    SAUER nähert sich dem komplexen Thema „Moral“ nicht nur von der historischen Seite: Sein Spektrum reicht von der Darstellung philosophischer Grundpositionen bis zur modernen sozialpsychologischen Forschung bzw. Verhaltensökonomie (mit ihren spieltheoretischen Experimenten über Egoismus und Kooperation). auch mit der Frage, ob es allgemeingültige „Moralische Wahrheiten“ gibt, setzt sich der Autor auseinander.


    Kommen wir vom Inhalt zur Form – die ich als mein persönliches Leseerlebnis darstellen möchte: In der ersten Hälfte des Buches breitete sich so etwas wie eine Begeisterung aus für die Vielfalt der Perspektiven und die didaktische Klarheit der Darstellung. Ich fühlte mich sicher geführt durch einen Experten, der mich durch ein unwegsames Gelände manövrierte.

    Je näher mich SAUER an die Gegenwart führte, desto stärker war eine Tendenz spürbar, die sich von einer neutral-sachlichen Darstellung hin zu einem – ich formuliere es mal deutlich- subjektiv gefärbten Stil entwickelte, um dann bei moralischen Gegenwartsfragen gelegentlich in ein Schwadronieren umzukippen. Mir waren letztendlich einige Erläuterungen und Stellungnahmen zu selbstgewiss bzw. selbstverliebt und zu apodiktisch – so als hätte der Autor auf alle aktuellen Konfliktpunkte die eine richtige Antwort im Köcher.

    Eine weitere Kritik betrifft die Lust des Professors an eloquenten Formulierungen. Bei allem Verständnis für eine Hochsprache, die sich an ein wissenschaftlich interessiertes und vorgebildetes Publikum richtet: SAUER haut am laufenden Meter Sätze heraus, in denen das eine Fremdwort zu viel (also das vierte oder fünfte) aus einem perfekt formulierten Satz eine selbstdarstellerische Zumutung macht. Schade – das hat so eine Koryphäe ganz sicher nicht nötig.


    Damit kein Missverständnis entsteht: Selbst mit diesen kleinen Mängeln (wenn man sie überhaupt als solche empfindet), ist dieses 5-Sterne-Buch noch mindestens ein 4-Sterne-Buch und jedem Leser/jeder Leserin zu empfehlen, der/die moralischen Herausforderungen der Gegenwart einmal auf dem gut ausgeleuchteten Hintergrund der Menschheitsgeschichte betrachten möchte.


    :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertungHalb:

  • FrankWe

    Hat den Titel des Themas von „Hanno Sauer - Moral“ zu „Hanno Sauer - Moral: Die Erfindung von Gut und Böse“ geändert.
  • Hanno Sauer, der Autor des sowohl für den Deutschen als auch den NDR Sachbuchpreis nominierten Buchs „Moral – Die Erfindung von Gut und Böse“ lehrt an der Universität Utrecht Philosophie und Ethik. Beste Voraussetzungen also, um sich auf 400 Seiten an einer Geschichte der Moral abzuarbeiten. Dabei ist der Aufbau des Buchs recht konservativ: Historisch bei den ersten Menschen(ähnlichen) startend, arbeitet er sich über die Zeitachse in mehreren Kapiteln durch verschiedene Entwicklungsschritte von vor 5 Millionen Jahren bis vor fünf Jahren. Dies soll plausibel machen, wie sich menschliche Gesellschaften entwickelten und veränderten und fortan so etwas wie „Moral“ herausbildeten, um das Zusammenleben überhaupt möglich zu machen und im folgenden zu organisieren.


    Denn am Anfang standen, das ist Sauer offenbar wichtig, kleine familiäre Gruppen oder Sippen bis zu 150 Mitgliedern. Für Sauer scheint diese Kleingruppe so etwas wie der idyllische Urzustand zu sein, denn in diesen Gruppen gibt es: Kooperation. Kooperation erlaubt, größere Tiere zu jagen die Aufteilung von Arbeit. Allerdings funktioniert Kooperation eben auch nur in solch kleinen Gruppen. Sie war der Startschuss zum Siegeszug des Menschen, doch mit den ersten größeren Gesellschaften brauchte es eine Möglichkeit, Kooperation durchzusetzen: nämlich die Strafe.


    Hanno Sauer arbeitet sich durch die Menscheitsgeschichte und verfolgt dabei unsere moralische und kulturelle Evolution. Aufgeschrieben und logisch hergeleitet erweckt so etwas immer den Eindruck einer logischen Entwicklung hin zum Besseren oder zum Ideal (hin zu unserem jetzigen Ist-Zustand). Doch, wie gesagt: Für Sauer sind die kleingruppen-organisieren Urmenschen ein früher Idealzustand: Es herrschte große Gleichheit innerhalb der Gruppen (allerdings auch durchaus Agression nach außen als Abgrenzung zu anderen Gruppen) und als damaliger Mensch hatte man deutlich mehr Freizeit als ein Vollzeitarbeiter im heutigen kapitalistischen Hamsterrad. Mit den ersten Großgesellschaften und Großreichen kam dann erstmals auch die wachsende Ungleichheit, die wir – besonders ab dem 20. Jahrhundert – versuchen zu bekämpfen und zu überwinden.


    Darum beschreibt er in den letzten Kapiteln genau diesen Kampf. Es geht um Idenitätspolitik, Wokeness, Cancel Culture und effektiven Altruismus. Manches davon führt nicht weit, weil er nicht über eine schlichte Definition des Begriffs hinausgeht. Anderen Begriffen beziehungsweise politischen Strömungen widmet er ein ganzes Kapitel und schafft es dabei fast gänzlich, sich auf einen deskriptiven und interpretatorischen Duktus zu beschränken, ohne seine eigene Agenda zu pushen oder sich sonstwie (politisch) zu positionieren. Für Sauer gilt nur folgendes: Die Motive hinter diesen Trends sind wichtig. Ungleichheit und Diskriminierung zu überwinden sind – auch im Hinblick auf seine bis zu diesem Zeitpunkt beschriebene Kulturevolution – die essenziellen Punkte unserer modernen Gesellschaften. Nachdem tausende Jahre Menschheitsgeschichte zu immer mehr (sozioökonomischer) Ungleichheit geführt haben, ist es die Aufgabe unserer Zeit, endlich zu (mehr) Gleichheit zu finden. Die Versuche, dies zu erreichen, beschreibt Sauer. Ob diese Versuche den gewünschten Erfolg haben werden, wagt auch er nicht zu prognostizieren. Aber darüber kann vielleicht in 100 Jahren der nächste Philosophie-Professor schreiben …


    Sauer schreibt gefällig und hat durchaus ein Talent dafür, wissenschaftliche Zusammenhänge auf ein allgemein verständliches Niveau herunterzubrechen. Damit wird „Moral“ gut lesbar und auch die Fußnotenfrequenz ist überschaubar. Wer sich also für das Thema interessiert, sich aber nach einem langen Arbeitstag nicht mit anstrengendem Wissenschafts-Sprech und einer hohen Fremdwortdichte herumschlagen möchte, der wird bei Sauer fündig. Sein Anspruch ist durchaus, über die reine Wissensvermittlung hinaus, lesbar und unterhaltsam zu schreiben. Naturgemäß werden für die meisten wohl die letzten Kapitel die spannendsten sein, weil er hier von einer weit entfernten Vergangenheit in die jüngere Geschichte und sogar in unsere aktuelle Gegenwart springt und uns „die Welt erklärt“. Das tut er fundiert, allgemein verständlich und – immer gern gesehen – unaufgeregt. Eine Empfehlung.