Martin Kordić – Jahre mit Martha

  • Kurzmeinung

    Marie
    Der Sohn einer kroatischen Migrantenfamilie erzählt vom Erwachsenwerden. Die Liebesgeschichte ist nur EIN Faktor
  • Klappentext/Verlagstext

    Ein zärtlicher und mitreißender Roman über Machtverhältnisse und über die Frage nach dem Gleichgewicht der Welt.

    Željko, der von allen »Jimmy« genannt wird, ist fünfzehn, als er sich in Martha verliebt. Sie ist Professorin in Heidelberg, er lebt mit seinen Eltern und Geschwistern zu fünft in einer Zweizimmerwohnung in Ludwigshafen. Martha hat, was Željko sich sehnlichst wünscht: Bücher, Bildung und Souveränität. Mit Martha besucht er zum ersten Mal ein Theater, sie spricht mit ihm, wie sonst niemand mit ihm spricht. Mit Marthas Liebe wächst Željkos Welt. Doch welche Welt ist es, die er da betritt und wen lässt er dafür zurück? Wo verlaufen die Grenzen zwischen Begehren und Ausbeutung?


    Der Autor

    Martin Kordić wurde 1983 in Celle geboren und wuchs in Mannheim auf. Er studierte in Hildesheim und Zagreb. Seit über zehn Jahren arbeitet er als Lektor in Buchverlagen, zunächst in Köln, heute in München. Für seinen Debütroman „Wie ich mir das Glück vorstelle“ erhielt er den Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis sowie die Alfred-Döblin-Medaille. Jahre mit Martha ist sein zweiter Roman.


    Inhalt

    Željko/Jimmy wächst als Einwandererkind mit Eltern auf, die beide mehrere Arbeitsstellen haben. (Vater Bauarbeiter und Hausmeister, Mutter mit mehreren Putzstellen) Samstags sind seine 8jährige Schwester Ljuba und er entweder gemeinsam mit den Eltern an deren Arbeitsplatz oder sie erledigen andere Arbeiten für die Familie. Dass ein Kind samstags keine Lust zur Arbeit hat, ist nicht vorgesehen. Durch die Professorin Edita Gruber, bei der Željkos Mutter putzt, wird ihm bewusst, in welch märchenhaften Verhältnissen manche Leute leben. Als auch Jimmy eine bezahlte Arbeit bei Grubers bekommt, öffnet ihm das den Zugang zu Grubers umfangreicher Bibliothek, aus der er alles ausleihen darf, das ihn interessiert. Edita Gruber, ab jetzt Martha genannt, öffnet dem wissbegierigen Jungen kurz eine Tür in die Welt der Akademiker und Villenbesitzer, zu der er nie gehören wird – und sie wird seine Geliebte.


    Ein Schnitt führt uns Jahre später an Jimmys Studienort München, dem als Schüler weisgemacht worden war, dass gute Leistungen bei Kindern wie ihm nur „Glück“ wären. Bildungssaufsteiger*innen wie er wurden damit entmutigt, dass andere Schüler begabt wären, man selbst sei nur fleißig und hätte darum keine Empfehlung zum Gymnasium verdient. Jimmys Bruder macht eine betriebliche Ausbildung und sieht nicht ein, wieso das Studium des Jüngeren die Familie „noch ärmer machen“ sollte. Erlebnisse mit dem von Jimmy verehrten Literaturprofessor Alex Donelli wechseln im zweiten Handlungsstrang ab mit Erinnerungen an Jimmys Kindheit, die geprägt war von Respektlosigkeit gegenüber Menschen, deren Namen mit Sonderzeichen geschrieben werden.


    Jimmy muss schließlich schmerzhaft erfahren, dass er seine Herkunft nicht „weglesen“ kann, weil ihm verborgene Codes der akademischen Elite fehlen, um die gläserne Decke zu durchstoßen. Die Beziehung zu Martha blüht wieder auf, doch Jimmy muss erkennen, dass seine 40 Jahre ältere Geliebte nicht jünger wird.


    Martin Kordić verknüpft die Geschichte eines Bildungssaufsteigers und seiner ungewöhnlichen Liebe zur erheblich älteren Mentorin mit den Lebensbedingungen von Menschen, die sich gegenseitig an den Sonderzeichen ihrer Namen erkennen. (Es ist bezeichnend, dass „Kordić“ nicht auf allen Webseiten korrekt dargestellt wird.)


    Fazit

    Als Bildungsaufsteigerin finde ich Željkos/Jimmys Familie („deutsch, kroatisch, katholisch“) außerordentlich treffend gezeichnet. Besonders anrührend fand ich Jimmys Rückblick auf Dinge, die er als Jugendlicher zwar feinfühlig wahrnahm, deren Bedeutung ihm zu dem Zeitpunkt aber noch nicht klar sein konnte. Ein wunderbar liebenswerter Roman, der den Jugoslawien-Krieg und die NSU-Morde nicht auslässt. Die Rolle des minderjährigen Maskottchens von Bildungsbürgern lässt mich allerdings trocken schlucken. Hätte die Geschichte mit einer durchschnittlicheren Mentorin nicht ebenso gut funktioniert?

    :study: -- Damasio - Gegenwind

    :study: -- Naylor - Die Stimme der Kraken

    :study: -- Landsteiner - Sorry, not sorry

    :musik: --


    "The three most important documents a free society gives are a birth certificate, a passport, and a library card!" E. L. Doctorow

  • Auf der Suche


    Das Buch ist in angenehmer Sprache flüssig geschrieben und lässt sich schnell lesen. Es ist eher eine Selbstbetrachtung oder eine Selbstreflektion der Hauptfigur. Eine Spannung oder auch nur eine Aufregung sucht man in diesem Buch vergebens. Es ist jedoch nicht langweilig- auch wenn ich einige Aspekte des Buches eher kritisch betrachte. Thematisch war es völlig anders als erwartet. Erwartet hatte ich eine Liebesgeschichte zwischen einem (sehr) jungen Mann und einer deutlich älteren Frau. Dieser Aspekt war zwar vorhanden, nimmt aber eigentlich wenig Raum ein.


    Der Leser lernt die Hauptfigur Zeljko Drazenko Kovacevic genannt Jimmy kennen, als er 15 Jahre alt ist und seinerseits Martha kennenlernt. Sie ist in etwas im Alter seiner Mutter und eine der Arbeitgeberinnen der Mutter. Jimmy hat 2 Geschwister. Sein Vater arbeitet auf dem Bau und ist deshalb überwiegend auf Montage, so dass die Kinder ohne eine Vaterfigur aufwachsen. Die Mutter kümmert sich allein um die Kinder und hat zudem 3 Putzstellen. Deshalb ist sie ebenfalls kaum zu Hause. Die Kinder arbeiten zudem mit, da sie andernfalls die Arbeit nicht bewältigen könnte. Jimmy hat gute Noten, wird von der überwiegenden Lehrerschaft jedoch benachteiligt und ausgebremst. Seine Eltern sind ihm keine Hilfe gegen die Schule als Institution. Er hat nur ein sehr geringes Selbstvertrauen und weiß nicht, wo sein Platz im Leben ist. Er möchte gegen alle Widerstände seine intellektuellen Möglichkeiten ausschöpfen und schafft es schließlich an die Uni mittels Stipendium. Kaum ein Mensch baut über das ganze Buch hinweg eine tiefere und stabile Beziehung zu Jimmy auf. Zudem distanziert er sich tatsächlich auch von seiner Kernfamilie. Dabei bleibt offen, ob dieses bewusst oder eher unbewusst erfolgt.


    Die Beziehung zu Martha, die sich nicht wirklich entwickelt, sondern eher pulsiert, ist schwer zu greifen. Es scheint keine tatsächliche Liebesbeziehung zu sein. Es vermittelte eher auf mich den Eindruck, als ob Martha mit Zeljko spielt und teilweise auch ausnutzt. Er scheint neben der Suche nach körperlicher Nähe, besonders auf der Suche nach einem Vorbild zu sein, das ihm hilft an der Uni und allgemein im Leben einen Platz zu finden und anzukommen. Diese Suche erstreckt sich auch auf einen Professor, der ihn auch eher auszunutzen scheint.


    Es ist ausdrucksstark und nachvollziehbar geschrieben, wie Zeljko durch sein Leben taumelt und seine eigentlichen Ziele gar nicht beschreiben kann. Er ist oft unzufrieden, auch wenn er sein Ziel erreicht hat. Seine Zerrissenheit tat mir in der Seele weh. Das Werk ist über weite Strecken melancholisch.


    Es ist ein ungewöhnliches und ergreifendes Werk, ohne viel Herzschmerz. Der Klappentext ist leider schlecht gewählt und weckt (zumindest bei mir) falsche Erwartungen.


    Insgesamt spreche ich eine Leseempfehlung aus.

    :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5:

  • Was ist Heimat?


    Eine Anziehung, die keiner richtig erklären kann: Martha Gruber, 40 Jahre und Professorin - Željko alias Jimmy, 15 Jahre, dessen Familie aus der Herzegowina stammt und dessen Mutter bei Frau Gruber putzt. Jimmy erledigt während der Sommerferien einige Arbeiten in Haus und Garten. Bei Grubers gibt es eine riesige Hausbibliothek, Jimmys Familie besitzt nur zwei Bücher. Für den Jungen liegt hier der Unterschied zwischen seiner Familie und den Grubers, nicht in Haus, Pool und Auto. Der Zugang zu Bildung scheint ihm die universelle Lösung zu sein.

    "Ganz gleich, wie viele Arbeitsstellen meine Eltern noch annehmen würden - hier sah ich alles, was ich von ihnen nie würde bekommen können. Hier in diesem Raum, das dachte ich damals, lag das verborgen, was die Voraussetzung dafür sein musste, ein kluger Mensch zu sein." (S. 52)

    Als die Ferien vorbei sind, trennen sich die Wege der beiden. Jimmy beginnt nach dem Abitur ein Studium in München. Hier trifft er auf den umschwärmten Literaturprofessor Alex Donelli und wird durch einen Zufall sein Assistent. Er wird Martha wieder begegnen. Eine Reise in die Herzegowina und illegale Geschäfte stehen ihm bevor, ehe er endlich glücklich werden wird - anders als er es sich gedacht hatte.

    Mir haben die ersten 110 Seiten wahnsinnig gut gefallen. Wie Jimmy über sein Leben reflektiert, die Zukunft, seine Familie, was es heißt "nicht deutsch" zu sein, das war in Verbindung mit der Sprache ganz großartig zu lesen. Der Roman ist in der Ich-Perspektive des Protagonisten im Rückblick verfasst, deswegen spricht und reflektiert der 15-Jährige wie ein Erwachsener. Als Martha erneut in "Jimmys" Leben tritt, hat sich der "Sound" der Geschichte irgendwie geändert und ich habe diese Passagen nicht mehr mit der gleichen Begeisterung gelesen. Die intime Beziehung der beiden empfand ich als - sagen wir mal - irritierend. Zum Ende hin hat es mir dann wieder besser gefallen, obwohl die Handlung nach dem ersten Drittel eher episodenhaft wurde und ich auch nicht mit allem etwas anfangen konnte. Was sollte z.B. die Szene im Heizungskeller? Die Stringenz ging für mich teilweise verloren und auch ein bisschen die Leichtigkeit.

    Dennoch ist das Buch lesenswert. Es gibt so viele schlaue Sätze, die zum Nachdenken anregen. Über das Leben im Allgemeinen, über Glück und wie man sich fühlt, wenn man keine richtige Heimat mehr hat.

    Und es gibt viele witzige Sätze in diesem Roman, der über weite Strecken sehr unterhaltsam ist und ich fand Jimmy und seine weitverzweigte Familie sehr sympathisch und ich habe mit ihnen mitgefühlt. Der Autor hat seine Figuren ganz liebevoll gestaltet und die Geschichte ist gespickt mit gut beobachteten Details. Die Lesewut, die nur durch die Altpapiercontainer gestillt werden kann, der Besuch beim BIZ, die Arbeit an der Uni und mit Donelli, die Begegnung mit der Reinigungsfrau bei CBM etc.

    Jimmy versucht sein Glück (und seinen Weg heraus aus der Zwei-Zimmer-Wohnung seiner Familie) zu finden, aber er findet es nicht mit Martha und er findet es nicht mit Donelli. Dieses Beziehungsgeflecht, wer hier was von wem will und wer wen möglicherweise ausnutzt, fand ich sehr gelungen kreiert.

    Ich möchte noch viel mehr schreiben, um die vielen Aspekte des Buches anzusprechen, das sollte aber bis hier her genügen, um neugierig zu machen, oder?

  • Meine Meinung:


    An dem Buch kommt man nach Erscheinen nicht vorbei. Sei es eine Lesung in der Lieblingsbuchhandlung, oder gelesen und besprochen als Bestseller-Challenge im Bücherpodcast eat.READ.sleep.


    Mich hat es vor allem interessiert weil es in meiner Ecke spielt. Daher habe ich es mir geholt und gelesen.


    Erinnert mich vom Stil her an Sasa Stanislav : Herkunft, was vielleicht weil begründet darin liegt, dass beide Autoren Landmänner sind. Vielleicht auch weil bei Protaginsten, in einem ist es Autobiografisch, im anderen Autofiktional sich Deutsche Sprache nahezu selbst angeeignet haben.


    Während es in Stanislav es wirklich nur um sein Leben geht, Anekdoten aus dem Leben erzählt werden, läuft die Geschichte in Jahre mit Martha zum Ende etwas aufgeklärter und kritischer in Bezug auf Ausländersein in Deutschland ab. Das fand ich am Ende sehr gut. Man hat ein gutes Gespür bekommen, wie es sein muss von einer anderen Kultur, Hautfarbe, Sprache zu integrieren, seinen Platz zu finden, sich zu positionieren. Was bedeutet es zu sein Ausländer in Deutschland ? Man bekommt ein Gespür dafür wie zerrissen sich Menschen mit Migration fühlen, die tief mit ihrer Heima verwurzelt sind, aber doch im „Gastland“ integriert sind oder sein wollen.


    „Wer waren wir? Wer waren wir in Deutschland? Wer wollten wir sein?“ (S. 250)


    „Wir repräsentierten Ausländer in Deutschland. Wir repräsentieren Ex-Jugoslawen in der Vorderpfalz. Wir repräsentieren Kroaten in der Vorderpfalz. Wir repräsentieren Menschen aus Bosnie-Herzegowina. Wir repräsentierenden Verein“ (S. 254)


    Aber worum geht es in dem Buch eigentlich?


    Ich-Erzähler Željko Draženko Kovacevic, ist ein bildungshungriger Protagonist, der mit seinen Eltern wegen dem Krieg in Jugoslawien nach Deutschland kommt. Seine Mutter geht Putzen und so lernt Željko, der sich von allen Jimmy nennen lässt, Martha Gruber kennen, eine deutlich älteren Heidelberger-Universitäts-Professorin. Zwischen beiden entspinnt sich eine Liebesgeschichte, die ich sehr kritisch gesehen habe. Nicht nur der Altersunterschied auch, die Abhängigkeiten und generell hat mich die Geschichte nicht berührt.


    Dieses Buch hat seine Stärken, aber wirkt etwas überladen, denn es enthält neben der Migrations-, eine Liebesgeschichte, eine Coming-of-Age-Geschichte.