Rudolf Lorenzen - Cake Walk oder Eine katalanische Reise in die Anarchie

  • Autoreninfo (Quelle: Goldmann): Rudolf Lorenzen, 1922 in Lübeck geboren, erlernte den Beruf des Schiffsmaklers. Er besuchte die Kunstschule und arbeitete als Grafiker und Werbeberater. Seit 1955 lebte er als freier Schriftsteller in Berlin. Zu seinem Werk gehören u.a. die Romane „Alles andere als ein Held“ und „Die Beutelschneider“ sowie zahlreiche Arbeiten für Hörfunk und Fernsehen. Sein Hörspiel „Cake Walk oder Eine katalanische Reise in die Anarchie“ wurde bisher siebenmal gesendet und bildet die Grundlage für den vorliegenden Roman. Lorenzen starb im November 2013 in Berlin.


    Kurzbeschreibung auf Buchdeckelrückseite (Quelle: Goldmann): Spanien in den letzten Julitagen des Jahres 1909. Während auf den Straßen von Barcelona ein Arbeiteraufstand tobt, der später als „blutige Woche“ in die spanische Geschichte eingehen wird, ist die illustre Gesellschaft um Marqués von Lágrima damit beschäftigt, sich selbst zu feiern. Für sie sind die Plünderungen, Proteste und Erschießungen in den Straßen nur Stoff für amüsantes Partygeplauder in den prächtigen Domizilen. Als der Aufstand sein blutiges Ende findet, feiert die noble Gesellschaft den Kindergeburtstag der kleinen Tochter des Marqués. Es wird zum Tanz, zum Cake Walk, aufgespielt. „‘Cake Walk‘ zählt zu den unterhaltsamsten und beststilisierten Totentänzen, die sich zurzeit im Handel befinden.“ (Süddeutsche Zeitung)


    Kurzbeschreibung auf Vorsatztitelblatt (Quelle: Goldmann): Ein Marqués, seine russische Frau und seine ehemalige Mätresse, ein Anarchist und ein Militärgouverneur, eine frühere Sklavin aus Kuba und ein trauriges Revuegirl aus Kopenhagen, eine amerikanische Globetrotterin, eine verlebte Infantin aus dem Hause Bourbon und ihr Liebhaber, ein Kaplan und ein Advokat, eine Jazzsängerin und eine alternde Diva, ein deutscher Baron, Mägde, Schnapsbrenner, Inspektoren und all die, die die Welt verbessern wollten und unter den Kugeln der Erschießungskommandos ihr Leben ließen, zählen zu den Protagonisten, deren Wege sich immer wieder kreuzen und die sich am Ende des Romans, der gleichzeitig das Ende der „blutigen Woche“ ist, allesamt einfinden: zum Geburtstag von Chica, der Tochter des Marqués, die gerade so alt wird wie das Jahrhundert. Vor dem Hintergrund von Krieg, Gewalt und Irrsinn, Lebensangst und Todeslust, Idealismus und Fanatismus, Anarchie und Ordnung, spielt der große Drahtzieher zum Tanz auf, dem Cake Walk, dem Totentanz, der selbst nur ein Tanz aus zweiter Hand ist, die Parodie einer Parodie.


    Deutsche Ausgaben:

    • Die deutsche Erstausgabe erschien 1999 unter dem Titel „Cake Walk oder Eine katalanische Reise in die Anarchie“ im Rotbuch-Verlag in Hamburg (585 Seiten).
    • Neu aufgelegt wurde der Roman im Juni 2001 als Goldmann-Taschenbuch Nr. 44226 im Goldmann Verlag in München (700 Seiten).


    Das zugrundeliegende Hörspiel:
    1988 verfasst Lorenzen das Hörspiel, das in der Regie von Götz Naleppa, technisch realisiert von Lutz Pahl und Ingeborg Görgner, am 19. April 1989 beim RIAS Berlin seine Erstsendung erlebte. Länge 78’30. Es sprachen: Hermann Treusch, Angela Winkler, Ulrich Wildgruber, Christine Oesterlein, Hans Teuscher, Aurelio Reinoso, Elke Petri, Sylvester Groth und Elisabeth Trissenaar.


    Inhalt:

    • Die Personen (3 Seiten)
    • Sonntag
    • Der Aufenthalt (15 Seiten)
    • Die Ankunft (11 Seiten)
    • Im Hotel (15 Seiten)
    • Der Ball (23 Seiten)
    • In den Vier Katzen (31 Seiten)
    • Montag - Dienstag - Mittwoch
    • Das Landgut (17 Seiten)
    • Auf der Terrasse (29 Seiten)
    • Im Salonwagen (29 Seiten)
    • In Zentrum und Vorstadt (35 Seiten)
    • Entr’acte (37 Seiten)
    • Gasse der Rotkehlchen (29 Seiten)
    • … Weiter bis zum Ende der Woche
    • Die Lagune (49 Seiten)
    • Aurora (27 Seiten)
    • Kaprizen (34 Seiten)
    • Auf der Festung (72 Seiten)
    • Über Land (29 Seiten)
    • Eine lange Nacht zuvor (42 Seiten)
    • Und wieder Sonntag
    • Morocha (17 Seiten)
    • Am Bahnsteig (21 Seiten)
    • Der Geburtstag (64 Seiten)
    • Ade (13 Seiten)
    • An Bord (47 Seiten)


    Mein Eindruck:
    Ja, vielleicht ist der Stoff tatsächlich eingängiger als Hörspiel: Eine zynische Gesellschaftskomödie, platziert an den Anfang des 20. Jahrhunderts, als würde hier das dekadente, sozial und wirtschaftlich sehr ungleiche spießbürgerliche 19. Jahrhundert sich im Todeskrampf dagegen wehren, endlich zu enden, als lägen hier alle Probleme begründet, die im 20. Jahrhundert noch auf Europa und die Welt zukommen.


    Aber dann muss man natürlich fragen, warum Lorenzen mit einer naturalistischen Akkuratesse auf hunderten von Seiten dieses Panoptikum der vergnügungssüchtigen, egozentrischen Schickeria ein zweites Mal nach seinem Hörspiel von 1988 ausbreitet, verteilt auf etwa 50 Figuren (so viele werden im Personenregister genannt), die eigentlich allesamt unsympathisch und meist charakterlich hohl sind. Und darauf antworte ich, dass oftmals nur die Breite der Darstellung und die Wiederholung des immer Ähnlichen die beabsichtigte Wirkung auf den Leser entfalten.


    Nach meinem Empfinden soll ich als Leser merken, es hier durch die Bank mit einer Ansammlung reiner Nebenfiguren zu tun zu haben, von denen wenige überhaupt zur Hauptfigur taugten (und wenn überhaupt sind es hier die Frauen, am ehesten die resolute US-Touristin/Abenteurerin Miss Alabama), die von Lorenzen aber niemals ernsthaft in diese Richtung geschubst werden. Und was ist aber besser geeignet, um die Hohlheit, Degeneration, Realitätsferne und Lebensuntüchtigkeit der „Stützen der Gesellschaft“ in einer bestimmten Zeit und in einem bestimmten Milieu zu beleuchten, als sie dramaturgisch am langen Arm verhungern zu lassen. Ein riesiges Ausstattungsüberangebot für ein reichhaltiges Figurenensemble und es passiert in diesen Kulissen nichts Weltbewegendes! :wink: Damit das gelingt, dürfen die Figuren noch nicht einmal als traurige Clowns und Irrende mit menschlichen Schwächen Punkte machen. Deswegen ist der Roman tatsächlich eine Gesellschaftskomödie ganz ohne Lacher und ohne Humor. Von diesen Figuren sind keine menschlichen Erkenntnisse abzuleiten. Lorenzen belässt seine Figuren mit bösem Sarkasmus und fatalistischer Menschenfeindlichkeit im Unfertigen und Spinnerigen. Es sind Menschendarsteller ohne Befähigung zum Tragischen oder Komischen, was die Lektüre für manche Leser sicherlich etwas befremdlich und unergiebig erscheinen lässt, da die Figuren gewissermaßen nur ihr immer gleiches Gehampel aufführen und in ihr immer gleiches Schwadronieren verfallen, von dem sich aber keine konkrete „Lehre“ oder Moral ableitet, wie man es gewohnt ist.


    Lorenzens ausgreifender, mitleidloser, bunter Erzählstil ist es, der mich als Leser bei der Stange gehalten hat: immer interessant, deftig und abwechslungsreich dank kurzer Szenen mit andauernden Schlaglichtern, griffigen Beschreibungen, Rückblicken und Vorausschauen. Oftmals scheint der allwissende Erzähler seine Figuren direkt anzusprechen, was experimentell-spielerisch daherkommt und die Distanz zu den Figuren überbrücken hilft.


    Wer dagegen eine historische Abhandlung des blutigen, von anarchistischen und radikalrepublikanischen Kräften unterstützten Volksaufstandes der „Semana Trágica” im Juli 1909 erwartet, als sich das Volk dagegen wehrte, seine Söhne als Soldaten für einen spanischen Kolonialkrieg in Marokko auf den Kriegsschiffen verschwinden zu sehen, kurz nachdem Spanien schon seiner Kolonien in der Karibik verlustig ging, chronologisch aufbereitet, vielschichtig die unterschiedlichen politischen Akteure des Aufstandes und seiner Niederschlagung beleuchtend, der wird enttäuscht. Der sehr nihilistische Blick des Romans liegt im Grunde nur auf den gehobenen Schichten, für die der Arbeiteraufstand nur eine pittoreske Anekdote am Rande ist, über die man während ihrer Tanz-Soireen die Nase rümpft.


    Jeder anarchistische Impetus verbleibt unerzählt am Rand als reines Schreckgespenst des umstürzlerischen Bombenwerfers, wie es durch die Köpfe der Mächtigen zieht. Und im Grunde erscheint der Anarchismus Lorenzen wohl auch kein zielführendes gesellschaftliches Modell zu sein, der Ordnung ohne Herrschaft anstrebe, wo aber Herrschaft und Chaos benötigt würden. Und derweil überzieht Europa - jede Landschaft, alle Orte, seine Bürgerhäuser, Ballsäle und Kerker - ein Leichentuch aus Granit, das das Land und die Geschichte bald für immer bedecken wird. Gemeinsinn und Menschenfreundlichkeit sind Fremdworte für Lorenzen. An keiner staatlichen oder kirchlichen Autorität lässt er ein gutes Haar. Für ihn ist die Menschheit zum Untergang verdammt.


    :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertungHalb:


    Der Cakewalk ist übrigens ein aus den USA stammender Gesellschaftstanz im Zweivierteltakt, gerne gespielt zu Ragtime Music, der in Europa Anfang des 20. Jahrhunderts in zwei Schüben zum Modetanz wurde, wenn auch nicht unbedingt gut beleumundet. Er stammt ursprünglich von afroamerikanischen Sklaven, die sich bei Festen auf den Plantagen über das hochnäsige Stolzieren ihrer weißen Sklavenhalter lustig machten. Manchmal wurde um den Preis eines Kuchens auf den Plantagen ein Tanzwettbewerb ausgelobt.

    White "Die Erkundung von Selborne" (115/397)

    Kellendonk "Buchstabe und Geist" (83/170)

    Figura/Mizielińscy "Wölfe" (89/262)


    :king: Jahresbeste: Gray (2024), Brookner (2023), Mizielińscy (2022), Lorenzen (2021), Jansson (2020), Lieberman (2019), Ferris (2018), Cather (2017), Tomine (2016), Raymond (2015)

    :study: Gelesen: 59 (2024), 138 (2023), 157 (2022), 185 (2021), 161 (2020), 127 (2019), 145 (2018), 119 (2017), 180 (2016), 156 (2015)70/365)
    O:-) Letzter Kauf: Kuhl "Helenes Familie" (23.04.)

  • Die deutsche Erstausgabe erschien 1999 unter dem Titel „Cake Walk oder Eine katalanische Reise in die Anarchie“ im Rotbuch-Verlag in Hamburg (585 Seiten).

    White "Die Erkundung von Selborne" (115/397)

    Kellendonk "Buchstabe und Geist" (83/170)

    Figura/Mizielińscy "Wölfe" (89/262)


    :king: Jahresbeste: Gray (2024), Brookner (2023), Mizielińscy (2022), Lorenzen (2021), Jansson (2020), Lieberman (2019), Ferris (2018), Cather (2017), Tomine (2016), Raymond (2015)

    :study: Gelesen: 59 (2024), 138 (2023), 157 (2022), 185 (2021), 161 (2020), 127 (2019), 145 (2018), 119 (2017), 180 (2016), 156 (2015)70/365)
    O:-) Letzter Kauf: Kuhl "Helenes Familie" (23.04.)