Ulrike Edschmid - Ein Mann, der fällt

  • Die Autorin (Quelle: Suhrkamp): Ulrike Edschmid, 1940 in Berlin geboren, aufgewachsen in der Rhön, studierte Literaturwissenschaft sowie an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin und arbeitete eine Zeitlang als Lehrerin in Frankfurt. Bei Suhrkamp erschienen u.a. „Frau mit Waffe“ (st 3307), „Nach dem Gewitter“ (st 3481), „Die Liebhaber meiner Mutter (Broschur, 2016) und „Das Verschwinden des Philip S.“ (st 4542). 2013 erhielt sie den Grimmelshausen-Preis, 2014 den Cotta-Preis und den Preis der SWR-Bestenliste für ihr Lebenswerk. Ulrike Edschmid lebt als freie Autorin in Berlin.


    Klappentext (Quelle: Suhrkamp): Ein heißer Tag im Juli 1986. Beim Renovieren einer Berliner Altbauwohnung stürzt ein Mann von der Leiter und bleibt bewegungslos liegen. Seine Rettung ist ein Wunder – wie das Abenteuer, das folgt. Mit dem Unfall, der dem Aufbruch zweier Menschen in die gemeinsame Zukunft ein Ende gesetzt hat, beginnt etwas Neues: die Erforschung eines unbekannten Kontinents, des eigenen Lebens. Die belebte Gegend um das Haus in Charlottenburg verändert sich rasant. Ein Neonazi schießt auf den serbischen Kioskbesitzer an der Ecke und verschanzt sich in der Umgebung. Frauen, die für eine iranische Widerstandsgruppe arbeiten, Roma-Flüchtlinge aus dem zerfallenden Jugoslawien, russische Mafiosi gehen in den benachbarten Lokalen ein und aus. Der Widerstreit von Anteilnahme und Abgrenzung, erzwungener Langsamkeit und sensibler Zeitgenossenschaft grundiert die Geschichte einer großen Liebe, die Ulrike Edschmid dicht und lakonisch erzählt. Jahrzehntelang bleibt die Wohnung im Eckhaus Beobachtungsstation und Zufluchtsort, ausgesetzt und geschützt zugleich. Draußen wird das Leben nicht nur schneller, sondern lauter, roher, gewalttätiger. Dann leert sich das Haus. Am Ende bleibt das Paar – und der lebenslange Versuch, standzuhalten.


    Deutsche Ausgaben:

    Die deutsche Originalausgabe erschien im Jahr 2017 unter dem Titel „Ein Mann, der fällt“ als Hardcover mit Schutzumschlag im Suhrkamp Verlag in Berlin (188 Seiten), 2019 neu aufgelegt als Suhrkamp-Taschenbuch Nr. 4936 ebendort.


    Mein Eindruck:

    Ulrike Edschmids Stil ist so reduziert, dass er Sentimentalität in keiner Sekunde aufkommen lässt, was ich als Grundlage für einen autobiografischen Rückblick für fast unerlässlich halte, um einen überpersonalen Rahmen aufzumachen, in den ich mich als Leser mit eigenen Erinnerungen an die erzählte Zeit einpassen kann. Ansonsten ist man ja nur gerührt oder erschüttert ob des individuellen Schicksals der Autorin und ihres Mannes, bloß dass ihre Berichte ansonsten gar nichts mit einem selbst „machen“. Aber so erweckt Edschmids Schreibstil in mir als Leser ein Gefühl anstatt mir eines vorzusetzen. Und plötzlich ist dann ein Bezug zu den Personen des Buches da, ganz ohne, dass man selbst Erfahrungen mit Querschnittslähmung und langsamer Rehabilitation haben muss, um andocken zu können: die Rückeroberung der Teilhabe am Alltag als Kampf mit dem eigenen Körper und gegen alle Erinnerungen an Lebendigkeit, Wünsche und Zukunftsaussichten.


    Wie Edschmid nebenbei die Geschichte ihres Westberliner Wohnumfeldes über die Jahre von Mitte der Achtzigerjahre nach dem Terroranschlag vom 11. September erzählt, finde ich ganz großartig. Nebenbei? Oder doch im Mittelpunkt!? Wie das Wohnumfeld an Bedeutung gewinnt, wenn die eigene Reichweite durch Krankheit und Verletzung eingeschränkt ist. Wie die Veränderung der multikulturellen Mieterschaft durch Ausverkauf des Kiezes und Gentrifizierung den eigenen Blick auf das Dasein und die Nachbarn verändert. Nächtliche Ruhestörung durch Restaurantbesucher, wenn die eigene Wohnung der einzige Ort ist, wo man ausruhen kann, weil jeder Schritt nach Draußen ungeahnte Kraftanstrengungen bedeutet - wo man früher vielleicht selber als letzter im Lokal laut gelärmt hat.


    Der nüchterne Stil, der auch ganz ohne wörtliche Rede auskommt, verstrickt mich als Leser mit dem Leben wildfremder Menschen, deren Wohl und Wehe mir dabei wichtig wird. Im Grunde ist der Roman ein Buch über das Werden: das Älterwerden und das Sesshaftwerden. Ein sehr menschliches, faszinierendes Buch: Ohne Wertungen und Deutungen des Handelns der Figuren, sehr präzise und erbarmungslos, nie aufgeregt und laut im Tonfall, was die Momente, wenn verstörende Momente in den Alltag einbrechen und die Ruhe und Gelassenheit bedrohen, nur umso stärker wirken lässt. Wie ein Unglück den Blick auf das Leben verändert. Wie man sich mit Langsamkeit gegen alle Widerstände aufmacht. :thumleft:

    White "Die Erkundung von Selborne" (115/397)

    Kellendonk "Buchstabe und Geist" (83/170)

    Figura/Mizielińscy "Wölfe" (89/262)


    :king: Jahresbeste: Gray (2024), Brookner (2023), Mizielińscy (2022), Lorenzen (2021), Jansson (2020), Lieberman (2019), Ferris (2018), Cather (2017), Tomine (2016), Raymond (2015)

    :study: Gelesen: 59 (2024), 138 (2023), 157 (2022), 185 (2021), 161 (2020), 127 (2019), 145 (2018), 119 (2017), 180 (2016), 156 (2015)70/365)
    O:-) Letzter Kauf: Kuhl "Helenes Familie" (23.04.)