Judith Vanistendael - Penelopes zwei Leben / Penelope

  • Kurzmeinung

    Jean van der Vlugt
    Hier wird wirklich nie locker gelassen. Äußerst eindringlich! Über die unvereinbare Gleichzeitigkeit von Wahrheiten!
  • Die Autorin (Quelle: Reprodukt): Judith Vanistendael (*1974) ist Comiczeichnerin und Illustratorin. Ihre zutiefst menschlichen und bewegenden Comics wie KAFKA FÜR AFRIKANER und ALS DAVID SEINE STIMME VERLOR wurden weltweit übersetzt. Die preisgekrönte Kinderbuchreihe ROSIE UND MOUSSA (zusammen mit Michael De Cock) wurde von Dorothée Van Den Berghe verfilmt. Judith Vanistendael unterrichtet Comic an der Kunsthochschule LUCA in Brüssel und lebt mit ihrer Familie im Brüsseler Stadtteil Molenbeek.


    Klappentext (Quelle: Reprodukt): Penelope ist Ehefrau, Mutter und Chirurgin. Während ihre Tochter zu Hause in Belgien mit der Pubertät zu kämpfen hat, rettet sie Leben in einem Feldkrankenhaus in Aleppo. In der harten Kriegsrealität verliert sie Patienten, zu Hause warten ein liebevoller Ehemann und eine entzückende Tochter. Es fällt ihr zunehmend schwerer, ihre Berufung mit ihrem Familienleben in Einklang zu bringen, denn sie denkt ständig an die Toten, die sie zurückgelassen hat.


    Niederländische, französische, deutsche und englische Ausgaben:

    • Die niederländische Originalfassung trägt den Titel "Penelope" (wird machmal auch als "De twee levens van Penelope" geführt) und erschien im September 2019 bei Oogachtend in Heverlee (und bei Scratchbooks in Amsterdam). Die Gedichte auf den Seiten 102 und 108 schrieb Bernard Dewulf speziell für diese Geschichte.
    • Die französische Fassung erschien zeitgleich unter dem Titel "Les deux vies de Pénélopé" im Verlag Éditions du Lombard (Dargaud-Lombard) in Saint Gilles, Belgien. Die Übersetzung besorgte Hélène Robbe.
    • Eine englische Übersetzung erschien im Februar 2021 unter dem Titel "The Two Lives of Penelope"als E-Book und Paperback bei Europe Comics.
    • Die deutsche Übersetzung aus dem Niederländischen stammt von Andrea Kluitmann. Sie erschien im März 2021 unter dem Titel "Penelopes zwei Leben", herausgegeben von Dirk Rehm und handgelettert von Judith Vanistendael, als Hardcover bei Reprodukt in Berlin (176 farbige Seiten im Format 17 x 22,7 Zentimeter).

    Bei dem Fragment aus Homers "Odyssee" auf Seite 11 handelt es sich um die deutsche Übersetzung aus dem Griechischen von Kurt Steinmann.


    Die zehnseitige Comicreportage "Moria – Im Abseits von Europa" über Flüchtlingslager aus Lesbos von Judith Vanistendael, die im Anschluss an "Penelopes zwei Leben" abgedruckt ist, erschien erstmals am 18. April 2018 in der FAZ, übersetzt von Ruth Notowicz und Miriam Notowicz.


    Meine Einschätzung:
    Hier wird wirklich nie locker gelassen! :shock: Das ist äußerst eindringliche Literatur, in der es um die unvereinbare Gleichzeitigkeit von Wahrheiten geht. Gleichzeitig auch um die Rolle der Frau in der Gesellschaft: Wenn Männer (wie z.B. auch der Großvater der Protagonistin) einen ähnlichen Weg wie Penelope einschlagen, werden sie bewundert und belobigt. Entscheidet sich aber eine Ärztin und Mutter, ihren Beruf zur Berufung zu machen, und sich fern der Familie in Aleppo "der guten Sache" bzw. einfach dem eigenen Anspruch und dem eigenen Wollen zu widmen, dann ist es in den Augen der Gesellschaft (und der Mehrheit ihres Bekannten- und Familienkreises) keine Entscheidung für etwas, sondern immer zunächst eine Entscheidung gegen ihre Familie und die Mutterrolle. Der Moment, als sie sich während ihrer Trauma-Therapiestunde (nach der Rückkehr aus Syrien nach Belgien für einen dreimonatigen Urlaub) an ihren Großvater erinnert, dessen Verhalten ganz anders bewertet wurde als ihr eigenes, ist auch der Augenblick, als sie die Therapiestunde verlässt, weil sie glaubt, der Therapeutin nichts mehr zu sagen habe. An dem sozialen Unterbau ändert auch der Blick ins seelische Unterbewusstsein wenig.
    Das Tolle dieses Comicromans ist es, Penelope (und mit ihr dem Leser) bei aller Entschiedenheit, die sie bezüglich ihrer Berufsausübung als "Ärztin ohne Grenzen" in Krisengebieten fern der belgischen Heimat umtreibt, einen leisen Zweifel an ihrem Tun unterzumischen. Das ist wahrscheinlich der wichtigste Teil der großen Beunruhigung, die das Buch auslöst. Eine Frau, die in ihrer Reisetasche die gespenstische Erscheinung eines zusammengerollten, blutroten Kindes sieht, das offensichtlich als Heimsuchung "mitgekommen" ist, bisher noch keine Ruhe fand und jetzt derjenigen folgt, die selber keine Ruhe findet, kann man voller Rührung und Mitgefühl bei ihrem Hadern und Beharren betrachten, aber der große Erfolg des Comics ist es, wie er die Beunruhigung ihres Gemütes auf den Leser überträgt, weil dieser beim eigenen inneren Schweinehund gekitzelt wird, der lieber wegschaut, sich keine Gedanken macht und mit "Luxusproblemen" herumplagt. Tatsächlich geht es in diesem Comic nicht um Rührung, sondern um Beunruhigung: Sich dabei ertappt fühlen, dass vorschnelle Erklärungen und Zuschreibungen eben meist nicht zutreffen. Man kann seine Tochter lieben, auch wenn man monatelang im Ausland arbeitet.

    Dabei ersetzt Vanistendael nicht einfach eine überholte Wahrheit durch eine besser passende Wahrheit, sondern zeigt beide sich überlappend, durchscheinend übereinandergelegt. Was sich sogar in der Gestaltung des aquarell-getuschten Comics niederschlägt, wenn Schemen durchscheinen bzw. über eine Szene drübergemalt scheinen: Mal sind es sich bewegende Menschen in einer Straßenszene, mal ist es der Penelope verfolgende, sie nicht loslassende Geist des toten Flüchtlingsmädchens, das sie nicht retten konnte.
    Das Verhalten der Figuren (und das Ensemble ist recht groß: Penelopes Mann Otto, ihre Mutter, ihre Schwester Maia und vor allem ihre Tochter Helena) scheint bestimmt durch das Tragen gesellschaftlicher Masken: Der fürsorgliche moderne Vater, der zurücktritt und sich um die Familie kümmert, der aber auch als Dichter angehimmelt wird, die korrekte Schwester, die alles richtig machen will, und "wegen der Kinder" nicht auf das Fremdgehen ihres Mannes reagiert, die Mutter, die eben nicht abwesend sein sollte, wenn ihre pubertierende Tochter zum ersten Mal ihre Periode bekommt. Die Schwierigkeiten hat sich auf die schulischen Nöte ihrer Tochter zu konzentrieren, die sich mit dem lateinischen Ablativ abplagt, während in ihrem Kopf das Leiden von Flüchtenden und syrischen Kriegsopfern herumspukt. Insofern ist auch die Beunruhigung der Protagonistin über eine Skulptur bei einer Kunstausstellung bezeichnend: ein Kopf mit einem Loch statt eines Gesichtes, wie als Erkenntnis der wesentlichen Leere des Daseins, die von vielen nur mittels einer Maske kaschiert wird. Wer sich damit nicht zufrieden geben kann, muss eine Entscheidung treffen, die einen von der Umwelt zunächst trennen wird, aber einen hoffentlich näher zu sich selbst führt, um die Leere - oder eher Gleichgültigkeit - zu füllen. Insofern zeigt der Comicroman eine Zerrissenheit auf, die jedem Leser bekannt sein dürften, selbst wenn er sich nicht zwischen Beruf und Familie entscheiden muss. Aber mit gesellschaftlichen Zuweisungen, wie man sich zu verhalten habe, um einer bestimmten Rolle zu genügen, sollte eigentlich jeder vertraut sein.


    Dieser Comic packt einen, um einen nicht mehr loszulassen. Die größte Rührung, die sich bei mir einstellte, hängt wahrscheinlich mit dem langsamen Herausdrängen der Ferngereisten aus dem Alltag zuhause zusammen: Keiner holt sie mehr vom Flughafen ab. Sie ist für keine Aufgaben mehr vorgesehen. Alles läuft auch ohne sie. Aber darum alles über den Haufen werfen?! Harte, illusionslose Kost! :( Viereinhalb :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertungHalb: Sterne.

    White "Die Erkundung von Selborne" (115/397)


    :king: Jahresbeste: Gray (2024), Brookner (2023), Mizielińsky (2022), Lorenzen (2021), Jansson (2020), Lieberman (2019), Ferris (2018), Cather (2017), Tomine (2016), Raymond (2015)

    :study: Gelesen: 59 (2024), 138 (2023), 157 (2022), 185 (2021), 161 (2020), 127 (2019), 145 (2018), 119 (2017), 180 (2016), 156 (2015)70/365)
    O:-) Letzter Kauf: Kuhl "Helenes Familie" (23.04.)

  • Die niederländische Originalfassung trägt den Titel "Penelope" und erschien im September 2019 bei Oogachtend in Heverlee (und bei Scratchbooks in Amsterdam).

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  • Die französische Fassung erschien zeitgleich unter dem Titel "Les deux vies de Pénélopé" im Verlag Éditions du Lombard (Dargaud-Lombard) in Saint Gilles, Belgien. Die Übersetzung besorgte Hélène Robbe.

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  • Eine englische Übersetzung erschien im Februar 2021 unter dem Titel "The Two Lives of Penelope"als E-Book und Paperback bei Europe Comics.

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