„Narziss und Goldmund“ auf Tibetisch
Dieser feine, komplexe Roman hat mir ausnehmend gut gefallen. Und das gleich aus mehreren Gründen. Denn hier verbinden sich gekonnt gleich drei Aspekte. Zum einen ist das Buch eine detaillierte (und korrekte!) Darstellung des (überwiegend tibetischen) Buddhismus. Zweitens enthält es aber auch noch eine Romanhandlung über eine Männerfreundschaft, in einem Land, in dem das bei weitem nicht selbstverständlich ist und war. Drittens schließlich findet der interessierte Leser hier einen geschichtlichen Abriss über die Geschehnisse im Tibet des letzten Jahrhunderts, von der Feudalzeit über Mao und die Invasion der Chinesen bis hin zur Gegenwart.
Es ist schon kein kleines Kunststück, eine Romanhandlung mit Religion und Geschichte so zu verbinden, dass es angenehm zu lesen, unterhaltend, aber auch noch bereichernd ist! Die beiden Autoren sind zwar, so weit ich das recherchieren konnte, selber keine Buddhisten, befassen sich aber ausführlich mit fernöstlichen Lehren, u. a. als Meditations- und QiGong-Lehrer. Ich war naturgemäß, als Buddhistin, skeptisch, ob das alles nicht „zurechtgestutzt“ worden war. Doch nein. Ich konnte keinen Fehler in der Darstellung finden, bin aber gleichwohl der Meinung, dass das Buch für Nicht-Buddhisten eventuell ob seiner Detailfülle etwas überfordernd ist.
Es geht um die beiden Tibeter Dorjee und Sonam, die beide zunächst als einfache Hirtenjungen aufwachsen, und sich anfreunden. Schon früh bemerkt man ihre unterschiedlichen Charaktere. Dorjee ist nicht wirklich gläubig (in Tibet ein bemerkenswertes Faktum!), und träumt von Erfolg und Karriere. Sonam hingegen ist Buddhist durch und durch, und möchte am liebsten Mönch werden. Dorjee sieht in Tibet alles, was schlecht ist (Armut und Feudalherrschaft), Sonam hingegen konzentriert sich auf die kulturelle und religiöse Überlieferung. Wir begleiten die beiden ihr ganzes Leben hindurch. Dorjee wird tatsächlich reicher Kaufmann, Sonam Mönch, ja sogar ein „Rinpoche“ (ein fortgeschrittener Meister). Insofern hat mich das Buch eben doch an „Narziss und Goldmund“ von Hesse erinnert. Auch hier werden zwei Figuren eingeführt, die für zwei Aspekte der gleichen Zeit (oder der gleichen Persönlichkeit) stehen.
Das Buch ist strukturell sehr gut aufgebaut; man muss sich aber durchaus konzentrieren. Es beginnt mit dem Sterben Dorjees. Trotz seines lebenslangen Unglaubens bittet er seinen alten Freund Sonam, ihm während seiner „Übergangsphase“ das Tibetische Totenbuch, das „Bardo Thödol“, vorzulesen. Denn nach tibetisch-buddhistischer Überlieferung soll dies dem Verstorbenen helfen, entweder Erleuchtung zu erlangen, oder eine günstige Wiedergeburt. Also liest Sonam. Die rezitierten Abschnitte stammen original aus dem Tibetischen Totenbuch! Die Lesungen wechseln sich ab mit Rückblicken in die Jugend der beiden Helden. Wie sie sich kennenlernten. Wie jeder schließlich seinen eigenen Weg einschlug. Und wie die komplexe Geschichte Tibets die beiden fast entfremdet hätte – denn Dorjee hatte zwischenzeitlich durchaus mit den Chinesen sympathisiert!
Wie es endet, werde ich nicht verraten – es hat mir jedoch ein sehr warmherziges Schmunzeln entlockt!
Schön finde ich die bildhafte, eingängige Sprache. Beide Protagonisten füllen ihre „Rollen“ in diesem Buch ganz wunderbar aus. An Dorjee sieht man deutlich, wie Skeptizismus und weltlicher Erfolg den Glauben untergraben können. Zugleich ist das sehr eingängig beschrieben. Durch Dorjees Zweifel hindurch kommt der Leser dem Buddhismus näher. Denn Dorjees Glauben wird durch die Wanderung im „Zwischenreich“ durchaus auf die Probe gestellt. Aber auch Sonam wird in seiner Glaubensfestigkeit geprüft. Je länger die Begleitung seines Freundes dauert, muss er Standfestigkeit bewahren. Und durch das Erinnern an ihrer beider Geschichte fragt er sich des öfteren, wer es von ihnen wohl besser im Leben hatte.
Das Buch will in keiner Weise missionieren. Aber es bringt dem Leser eine fremde Lebenswelt sehr einfühlsam näher. Und es erlaubt ihm, seine eigenen Rückschlüsse zu ziehen. Sich zum Beispiel zu fragen, ob die internationale Gemeinschaft nicht mehr für Tibet hätte tun können. Wie man sich selber in den Wirren der Zeiten verhalten hätte. Ich habe mit Dorjee vor den Gottheiten des Zwischenreiches gezittert, aber gleichzeitig mit Sonam gelächelt. Mir sind beide gleich ans Herz gewachsen! Und ich wage durchaus nicht zu sagen, wer es nun „besser“ hatte. Ich wünsche diesem Buch noch viele Leser. Und ich werde es sicher noch mehrfach lesen.