Gusel Jachina - Wolgakinder / Дети мои

  • Verlagstext:


    In der Weite der Steppe am Unterlauf der Wolga siedeln seit dem achtzehnten Jahrhundert Deutsche.1916 führt Jakob Bach in dem kleinen Dorf Gnadental ein einfaches Leben als Schulmeister, das geprägt ist von den Rhythmen der Natur. Sein Leben ändert sich schlagartig, als er (...)

    (Quelle: amazon.de)


    ACHTUNG: Wenn man an dem Roman interessiert ist, sollte man den Verlagstext nicht weiter lesen. Auf amazon.de gibt es, wenn man nach unten scrollt, auch noch einen weiteren Verlagstext, der dort "Klappentext" heißt. Bitte auf keinen Fall lesen, der steckt erst recht voller Spoiler!!! :roll:



    Meine Meinung:


    „Wolgakinder“ ist ein Roman, den ich nach dem Lesen erst einmal für längere Zeit „verdauen“ musste und zu dem ich auch am Anfang der Lektüre nicht sofort einen Zugang gefunden habe. Vielleicht sollte man nicht, so wie ich, einfach einen mehr oder weniger historischen Roman über das Schicksal der Wolgadeutschen erwarten, denn es ist keiner, auch wenn der Verlagstext dies m.E. nahelegt. In dieses Schema passen jedoch weder die traumhaften Parallelwelten, die Gusel Jachina im Laufe der Geschichte mehrmals aufbaut, noch die anderen fantastischen Elemente, die immer wieder eingestreut werden und das Buch in die Nähe des Magischen Realismus rücken. Damit hatte ich überhaupt nicht gerechnet und war dementsprechend zunächst ratlos, welche Richtung dieser Roman wohl einschlagen würde.


    Zum Einstieg wird der Blick mit der launigen Beschreibung der Wolga-Landschaft, des am Ufer der Wolga gelegenen Dorfes Gnadental und seiner Dorfschule zunächst vom Großen zum Kleinen hin auf den Ort der Handlung gerichtet und bleibt schließlich bei der schrulligen Gestalt des nicht mehr ganz jungen Lehrers Jakob Bach hängen, der Hauptfigur dieses Romans, dessen unspektakuläres Leben kurz beleuchtet wird. Doch so unbedeutend und banal wird es nicht mehr lange bleiben, denn ihn ereilt eine ungewöhnliche Anfrage: Er soll die Tochter eines völlig abgeschieden am gegenüberliegenden Wolgaufer liegenden Gehöfts unterrichten, und so kafkaesk dieses Anliegen auch an ihn herangetragen wird und die Fahrt zu dem seltsam verzaubert wirkenden Gehöft verläuft, so lässt der Lehrer sich doch auf den Auftrag ein.


    Hier setzt Gusel Jachina nun also an, um zum kleinen Dorf Gnadental mit seinen Verwicklungen in die historischen Zeitläufte eine magische Parallelwelt zu entfalten, in der die Zeit und der Wandel der Welt stillzustehen scheinen…


    Der Roman bietet zwar anfangs noch Hintergrundinformationen über die deutschen SiedlerInnen, die unter Katharina der Großen nach Russland eingeladen und an der Wolga angesiedelt wurden, doch im Laufe der Geschichte musste ich mir vieles selbst anlesen, um den Fortgang der Handlung überhaupt recht einordnen zu können. Einige intensive, brennglasartige und teils schwer zu lesende Kapitel über Lenin und Stalin haben mir zwar geholfen, die Wendepunkte in der Handlung nachzuvollziehen, aber dennoch brauchte ich weitere Hintergrundinformationen, um die Entwicklungen im Dorf Gnadental zu begreifen, die von Gusel Jachina zwar eindringlich beschrieben, aber nicht erklärt werden. Im Blick auf ihren Protagonisten ergibt das völlig Sinn, aber für mich als historisch nicht ausreichend gebildete Leserin hat es die Lektüre erschwert. (Wer sich also mit der Geschichte der Wolgadeutschen ebenfalls noch nicht gut auskennt, sollte sich zumindest bei Wikipedia informieren, um dem Roman gut folgen zu können.)


    Über den Fortgang der Handlung rund um den Protagonisten Jakob Bach möchte ich jetzt nicht mehr verraten und rate auch dringend davon ab, die Verlagstexte z.B. bei amazon zu lesen, da sie aus meiner Sicht viel zu viel verraten und sogar Wendungen preisgeben, die sich erst im letzten Viertel des Buches abspielen.


    Ich habe den Roman gern gelesen und war tief bewegt über das Schicksal der zunehmend gewaltsam auf sozialistisch getrimmten Wolgadeutschen, eine Hintergrundfolie des Romans, die zwar weniger in expliziten Fakten, aber dafür in stets sehr anschaulichen und bedrückenden Bildern in die Handlung eingewoben ist. Gusel Jachina hat hier Bewegungen der Geschichte eingefangen, wo Menschen in einem totalitären System gleichgeschaltet werden und dabei ihre Individualität und ihre persönlichen Lebensentscheidungen aufgeben müssen – dies gilt für die Unterdrückten dieses neuen Systems wie für die Profiteure, beängstigend festgehalten in den Bildern der Mäuse- und Fischmasken, in die die Menschen sich allmählich verwandeln. Hinter der Fassade der schönen, neuen, sozialistischen Welt finden sich Leere, Einsamkeit und Verfall.


    Vor diesem (nur verschwommen dargestellten) Hintergrund verläuft das Leben des Lehrers Jakob Bach, dessen tragische und verschrobene Art, halb innerhalb und halb außerhalb dieses Systems zu handeln und dabei so aufopfernd, verworren und herzzerreißend vergeblich zu lieben, mich schier verzweifeln ließ. Der Roman bietet ein Kaleidoskop menschlicher Gefühlsverwirrungen, bei denen ich den Protagonisten immer wieder gern kräftig geschüttelt hätte – doch gebracht hätte das am Ende wohl auch nichts, dem Sog der historischen Entwicklungen konnte niemand entkommen. Insofern bot das Buch doch auch Züge eines historischen Romans über die knapp hundert Jahre zurückliegenden Anfänge diverser sozialistischer Sowjetrepubliken – einer Epoche der Weltgeschichte, deren letzte Jahrzehnte und deren Ende ich miterlebt und mich entsprechend gefesselt und persönlich angesprochen gefühlt habe.


    Allerdings musste ich mich, wie oben bereits erwähnt, zunächst mit den für mich unerwarteten magischen Elementen anfreunden. Ich lese gern Bücher des Magischen Realismus, erwarte dann aber, dass die fantastischen Züge sinnvoll und notwendig in die Handlung integriert sind. Bei diesem Roman war das für mich nicht immer nachvollziehbar. Gleiches gilt für die überaus zahlreichen Anspielungen auf andere Werke der Literatur (u.a. „Faust“, „Der Meister und Margarita“ und diverse Märchendichter) oder die möglicherweise vorhandene Symbolik der für die Figuren gewählten Namen – auch so etwas macht mir, wenn ich es bemerke, normalerweise Freude und erweitert entsprechend den Interpretationsraum; hier jedoch habe ich mich allzu oft gefragt, welche Funktion die Anspielungen denn nun haben sollen, außer, dass sie da sind. In dieser Hinsicht bin ich sehr gespannt auf andere Rezensionen zum Buch, die mir diese Aspekte hoffentlich noch näher erschließen, und freue mich auch bereits darauf, das Buch irgendwann noch einmal zu lesen. Danke an serjena für den interessanten PN-Austausch während der Lektüre, ich bin gespannt auf deine Rezi! :winken:


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  • Was für ein spannendes Thema! Nach deiner wunderbaren Rezension, Sarange, habe ich alles über das Buch gelesen, einschließlich sämtlicher Spoiler, die mich ja nicht schrecken. Es steht jetzt auf meiner Liste der zu kaufenden Bücher.


    Wer sich noch weiter für das Thema interessiert: Dieses Buch hat eine sehr bewegte Geschichte, fast hätte es sozusagen nie das Licht einer Buchhandlung erblickt. Großartige Lektüre. Wenn ich nicht so faul wäre, hätte ich damals nach dem Lesen eine Rezension geschrieben.


    Zitat Amazon:

    Ein untergegangenes Stück deutscher Geschichte erstmals als Buch: Der von Stalin verbotene große Roman über die Russlanddeutschen, das Epos der autonomen deutschen Wolgarepublik (1918–1941) – »Wir selbst«, das für Jahrzehnte verschollene Lebenswerk von Gerhard Sawatzky.

    Gerhard Sawatzkys großer Gesellschaftsroman »Wir selbst« erzählt von einer untergegangenen Welt, nämlich der Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik der Wolgadeutschen. Diese wurde 1918 – u.a. auf Betreiben Ernst Reuters – gegründet, bis zu ihrem Ende 1941 ein höchst wechselvolles Schicksal erfuhr. Sein Autor, Gerhard Sawatzky, der als wichtigster Literat der Wolgadeutschen galt, wurde verhaftet, zu Zwangsarbeit verurteilt und starb in einem Lager in Sibirien, das Buch wurde verboten und vernichtet. Doch Sawatzkys Witwe gelang es, bei der Deportation nach Sibirien unter dramatischen Umständen das Urmanuskript zu retten. In einer deutschsprachigen Zeitschrift in der Sowjetunion wurden – allerdings bearbeitet und zensiert – in den achtziger Jahren Teile des Buches abgedruckt. Carsten Gansel hat nun das Urmanuskript in Russland aufgespürt. »Wir selbst« erzählt in häufigen Szenenwechseln zwischen Land und Stadt aus der Zeit zwischen 1920 bis 1937 vor allem von einem jungen Liebespaar, Elly Kraus, der Tochter einer wohlhabenden Fabrikantenfamilie, die als Kind auf der Flucht vor der Roten Armee allein in Russland zurückblieb, und von Heinrich Kempel, dessen Kindheit auf dem Land während des Krieges von Hunger und Entbehrung geprägt ist, und der schließlich Ingenieur wird. Auch wenn Sawatzky schon beim Schreiben die Angst vor stalinistischen Säuberungsaktionen im Nacken saß und er manches unterschlug bzw. beschönigte – sein Buch ist ein höchst bedeutendes Zeitzeugnis, das zudem durch Carsten Gansels umfangreiches Nachwort über Sawatzky, die Geschichte des Manuskripts und die deutsche Wolgarepublik ergänzt und erschlossen wird.

    Zitatende

    signed/eigenmelody

    Dear Life,

    When I said "Can my day get any worse?" it was a rhetorical question, not a challenge.

    -Anonymous