Amir Baitar/Henning Sußebach - Unter einem Dach

  • ... Ein Syrer und ein Deutscher erzählen


    Verlagstext

    Der Zeit-Reporter Henning Sußebach, seine Frau und deren zwei Kinder haben im Dezember 2015 das Arbeitszimmer geräumt und dem aus Syrien geflohenen Studenten Amir Baitar Obdach gewährt. Der Alltag beider Seiten ist seitdem voller Fragen: Dürfen sich die Eltern vor den Augen ihrer Kinder küssen, auch wenn der Gast das seltsam findet? Wie soll ein Muslim in einem engen Gästebad die rituelle Reinigung vollziehen? Und kann die Familie sonntags «Tatort» gucken, wenn zeitgleich auf Al Jazeera von Gräueltaten in Syrien berichtet wird? Die Eltern und Kinder staunen, als der Gast ihr Haus mit seiner Mekka-App vermisst. Und Baitar versteht nicht, dass in der Familie die Frau mit dem Auto zur Arbeit fährt und der Mann das Fahrrad nimmt.

    Baitar und Sußebach erzählen in diesem Buch, wie das Zusammenleben funktioniert. Offen und schonungslos berichten sie von Erfahrungen, Missverständnissen und Einsichten. Mal beziehen sich die Autoren aufeinander, mal sind sie ganz bei sich, mal sind sie sich einig, mal uneins. So entsteht ein Dialog voll unbequemer Wahrheiten, unerwarteter Komik und ermutigender Gedanken. Das ist amüsant, überraschend und immer erhellend. Gemeinsam machen die Autoren eine gesellschaftliche Aufgabe auf eine persönliche, sehr berührende Weise greifbar. Man bekommt eine Ahnung davon, wie sie gelingen kann, die Integration – wie „wir das schaffen“ können.

    «Ich habe manchmal auch Angst angesichts dessen, was gerade auf der Welt passiert. Ich würde lügen, wenn ich sagte, Integration sei ein Selbstläufer. Vor allem aber bin ich ernüchtert angesichts derer, die sich von ihren Sorgen lähmen lassen. Die maulen statt machen. Die vom Scheitern quatschen, während sie zum Gelingen beitragen könnten. Warum vermitteln all jene, die jetzt Angst um unsere westlichen Werte haben, genau diese Werte nicht?! Wann, verdammt, war die Chance zu einer Neuerfindung der Welt größer als jetzt?»


    Die Autoren

    Amir Baitar (Pseud.) wurde 1991 in Syrien geboren. Er wuchs in einem Dorf am Euphrat auf und studierte in der Stadt Deir ez-Zor Mathematik und Informatik, bis der Krieg eine akademische Ausbildung unmöglich machte. 2015 floh er nach Deutschland.


    Henning Sußebach wurde 1972 in Bochum geboren, seit 2001 ist er Redakteur der Wochenzeitung "Die Zeit". Seine Reportagen wurden mit den bedeutendsten deutschen Journalistenpreisen ausgezeichnet, unter anderem dem Egon Erwin-Kisch- und dem Theodor-Wolff-Preis.


    Inhalt

    Amirs gute Fee hieß Anne, eine freiwillige Helferin in Zschopau in Sachsen. Anne fand es nicht in Ordnung, dass ein Flüchtling, der in seiner Heimat Mathematik- und Informatikstudent war, tatenlos im Wohnheim hocken muss, bis über seinen Asylantrag entschieden ist. Anne setzte eine Informationskette in Gang, an deren Ende die Familie Sußebach aus einer norddeutschen Kleinstadt den jungen Mann mit dem Pseudonym Amir für einige Monate bei sich aufnahm. Die Sußebachs könnte man als deutsche Durchschnittsfamilie ansehen, berufstätige Eltern, 2 schulpflichtige Kinder, mit Eigenheim in einem gutbürgerlichen Viertel. Politik fand für die Sußebachs vorher irgendwo anders statt – bis die Fernsehbilder von Flüchtlingsströmen sie erreichten.


    Der 24-jährige Pflegesohn ist in einer Familie mit 13 Kindern aufgewachsen und flüchtete nach Europa, als das Mathe- und Informatikstudium an seiner Hochschule zur westlichen Wissenschaft erklärt und die Uni vom IS geschlossen wurde. Der Schritt in den deutschen Haushalt ist für ihn - nach traumatischen Erlebnissen auf der Flucht - ein ebenso großer Schritt wie seine Flucht aus Syrien. Girokonto, Mülltrennung, Behördenmarathon. Die eigentliche Herausforderung ist die freie Lebensweise in Deutschland, bei der jeder für sich seine Werte und Normen festlegt, selbst entscheidet, was er isst, wie er sich kleidet und wie Mann und Frau sich die Familienarbeit teilen. Unterschätzt hat die Familie sicher das Beharrungsvermögen einer Religion, die die Entwicklung unseres Planeten zur Industriegesellschaft nicht mit vollzogen hat. Henning Sußebach wird sich eingestehen, dass seine Familie ihrem erwachsenen Pflegesohn gegenüber ahnungslos und unvorbereitet war. Am Ende des Buches wird „Amir“ feststellen, dass er bis zu seinem 22. Lebensjahr noch nie etwas hinterfragt hat, weil im arabischen Raum Eltern und Religion einen strengen Verhaltenskodex vorgeben, der u. a. mit Gewalt durchgesetzt wird und von Kindern zu kopieren ist. Wenn die deutsche Kultur so funktionieren würde, hätte der Gast aus Syrien vermutlich essen müssen, was in der Gastfamilie auf den Tisch kommt – oder selbst kochen. Eine wichtige Erkenntnis der Famlie war, dass ein junger Migrant im neuen Land und in der neuen Familie eine zweite, kulturelle Adoleszenz erlebt, die die Gasteltern aushalten müssen wie bei einem pubertierenden Kind. Eine Einsicht, die viele ehrenamtliche Helfer sich ebenfalls erst mühsam erarbeiten mussten.


    Fazit

    „Amirs“ Erlebnisse bei den Sußebachs lesen sich humorvoll wie Anekdoten aus dem Leben mit einem ausländischen Aupair, aber auch sehr bewegend, weil beide Männer ihr Weltbild komplett infragestellen müssen. Wer Flüchtlinge betreut oder Deutsch als Fremdsprache unterrichtet, wird im Buch genau die Emotionen wiederfinden, die der Clash der Kulturen auslöst. Sußebach als ZEIT-Journalist kann hochemotionale Sachverhalte in kurze Texte fassen und sie mit eindringlichen Bildern unvergesslich machen – interkulturelle Bildung, symbolisiert durch die Rolle der roten Tasse oder komprimiert als Mikadospiel. Beide Erzähler hinterfragen, was genau denn nun Integration ist, ein Begriff der von Politikern noch zu oft unhinterfragt als Leerformel verwendet wird. In einem kurzen Text von kaum 200 Seiten verbirgt sich ein viel umfangreicherer, sehr berührender Inhalt, der lange nachwirkt.


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