Anne von Canal - Whiteout

  • Kurzmeinung

    Pasghetti
    Schwieriger Schreibstil, doch ein gewisser Sog nicht abzusprechen; Ende für mich nicht ausreichend (Geschmackssache)

  • Zum Produkt:

    192 Seiten

    Verlag mare

    erschienen am 29. August 2017

    inzwischen 3. Auflage


    Klappentext (Quelle: amazon)


    Es ist eine E-Mail mit nur einer Zeile, die Hannas Welt ins Wanken bringt: ihre einst beste Jugendfreundin ist tot.
    Mit Fido hatte sie in den 80ern alles geteilt: Träume, Pläne, Zigaretten – bis die Freundin eines Tages unerwartet und ohne Erklärung den Kontakt abbrach und nie wieder auftauchte. Die erschütternde Nachricht von Fidos Tod erreicht Hanna, die mittlerweile als Glaziologin arbeitet, ausgerechnet während einer wichtigen Antarktisexpedition. Sentimentalitäten kann Hanna sich hier keinesfalls erlauben. Doch in der endlosen Weite des Eises kehren die Erinnerungen und auch die ungeklärten Fragen nach Fidos Verschwinden mit Macht zurück. Hanna verliert die Kontrolle.
    Als die Spannungen im Forscherteam zunehmen und ein Schneesturm den Erfolg ihres Projektes gefährdet, wird die Zeit im Eis endgültig zur Zerreißprobe.


    Mein Leseeindruck


    Die äußere Handlung ist in einem einzigen Satz erzählt und steht bereits im Klappentext.


    Hanna befindet sich fernab jeder Zivilisation in einer unwirklichen Landschaft: der Antarktis. Dort will sie mit ihrer Gruppe dem Eis Bohrkerne entnehmen, d. h. der Geschichte des Eises und damit des Weltklimas auf den Grund gehen. Durch die Nachricht wird sie jedoch mit ihrer eigenen schmerzhaften Geschichte konfrontiert, die in assoziativen Rückblenden aufgerollt wird.


    Was ist ein Whiteout? Dazu wikipedia, gekürzt:

    Ein Whiteout ist ein meteorologisches Phänomen, das vor allem in Polargebieten und im Hochgebirge auftritt. … Das gesamte Blickfeld scheint gleichmäßig hell zu sein. Das hat ein Verschwinden des Horizontes zur Folge; Boden und Himmel gehen nahtlos ineinander über. Auch Konturen oder Schatten sind nicht mehr erkennbar und der Beobachter hat das Gefühl, sich in einem völlig leeren, unendlich ausgedehnten grauen Raum zu befinden.


    In ähnlicher Weise verschwimmen in diesem kleinen Roman die Grenzen von Vergangenheit und Gegenwart.

    Hannas Versuch, 300 m in die Tiefe zu bohren und dem Eis Informationen zu entlocken ist eine Metapher für ihren Versuch, in der eigenen Vergangenheit zu bohren, eigene Erinnerungen zutage zu fördern und begreifen zu können, wieso die geliebte Freundin sang- und klanglos, ohne Abschied, sie von einem Tag auf den anderen verließ, trotz aller gemeinsamen Zukunftspläne – ein Verlust, unter dem sie immer noch leidet, den sie tief in sich begraben hatte und den sie auch jetzt sich nicht erklären kann, so wie sie auch die Eisbohrungen nicht beenden kann. Der Leser muss sich, wie Hanna auch, mit diesem offenen Ende abfinden.


    Die unwirtliche Landschaft und der Schneesturm – sehr anschaulich beschrieben – werden zum Symbol ihrer eigenen Gemütslage. Der Autorin gelingen wunderschöne und poetische Bilder. Wie sie das kalte Familienleben ihrer Freundin beschreibt, wie sie das Sterben eines Schwans im Eis nicht verhindern können, wie das Nasenbluten ihres Kollegen Erinnerungen an die gemeinsame Konfirmation hervorruft und wie die Autorin hier die Farbe Rot in das ausschließlich weiße Umfeld integriert, und vor allem, als sie sich erinnert, wie sie ihre Schatten beobachtet hat: ihre Schatten verschmelzen miteinander, „ein Schatten und eine Seele. Es war so einfach“ (S. 115).


    Alle Erinnerungen sind schmerzhaft, und Hanna leidet immer noch am Verlust ihrer Seelenverwandten, spricht sie ständig an, beschwört die gemeinsame Vergangenheit und sucht nach Erklärungen. Ungemein poetisch ist auch das Schlussbild mit den drei Sonnen, ein Bild für die gemeinsame Jugend und zugleich den Abschied.


    Hannas Leitgedanke ist Stephen Hawking entlehnt: „Die Vergangenheit sagt uns, wer wir sind, ohne sie verlieren wir unsere Identität“ (S. 75).

    Und so ist dieser Roman eine wunderschöne Geschichte über Freundschaft und Liebe, Vergangenheit und Gegenwart, über Identitätssuche, über Erinnerungen („Alles, an das wir uns erinnern, ist erfunden“), über Vergänglichkeit, Abschied und Tod.


    Das hört sich sperrig an, ist es aber nicht. Der Roman besticht durch seine ausdrucksstarke Sprache, er liest sich leicht, aber hat einen langen Nachhall.


    Fazit:

    ein kleiner, aber dicht erzählter Roman, der in poetischen und eindringlichen Bildern sein Thema vorführt.


    :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5:

    :study: Edvard Hoem, Der Heumacher.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).