Der Historiker Pieter Judson bietet eine lesenswerte
Gesamtdarstellung der Geschichte der Habsburgermonarchie zwischen 1740 und
1918. Dabei stellt er weniger die Politikgeschichte oder gar die Dynastie in
den Mittelpunkt, sondern blickt auf die gesellschaftliche, wirtschaftliche und
kulturelle Entwicklung dieses äußerst heterogenen Staatswesens.
Judsons Buch sollte aber nicht nur als eine nüchterne und
kompetente Darstellung der historischen Fakten gelesen werden. Im Mittelpunkt
steht die Wiederlegung von zwei Thesen, die die Forschung zur
Habsburgermonarchie lange Zeit dominierten. Erstens geht es um die
vermeintliche Rückständigkeit. Seit der Zeit Metternichs sei die politische und
wirtschaftliche Entwicklung von staatlicher Seite eher behindert als gefördert
worden. Die Donaumonarchie sei quasi mit angezogener Handbremse in die Moderne
hineingefahren. Judson verweist hingegen auf Wachstum von Handel, Industrie und
urbanen Zentren in einem der größten Binnenwirtschaftsräume Europas. Auch die
Zensur sei weniger effektiv gewesen als angenommen. Bedeutender seien regionale
Ungleichzeitigkeiten zwischen der Ost- und Westhälfte des Reiches gewesen.
Zweitens geht es um die Identitätsfrage des Reiches. Hier
ist die Mehrheit der Historiker nach wie vor der Ansicht, dass der
Vielvölkerstaat der Habsburger spätestens seit der zweiten Hälfte des 19.
Jahrhunderts ein Auslaufmodell gewesen sei. Identitätsstiftend seien nunmehr
die irridentischen Nationalbewegungen gewesen, deren Zentrifugalkräfte vom
Reich nicht mehr kompensiert werden konnten. Judson hält dagegen, dass sich in
der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sehr wohl ein Reichsbewusstsein ausgebildet
habe. Weder die Revolution von 1848 noch die Krise von 1866 vermochten das
Habsburgerreich zu sprengen. Auch in der Folgezeit hätten die
Nationalbewegungen eher Autonomiekonzepte vertreten als die Auflösung des
Reiches angestrebt. Gerade die Unterschichten hätten das Reich als Schutzmacht
gegen die regionalen Eliten betrachtet. Mit dem Blick auf die Sozial-,
Wirtschafts- und Kulturgeschichte gelingt es Judson in der Tat, zu zeigen, dass
es durchaus Gegengewichte zu den innen- und außenpolitischen Zentrifugalkräften
gab. Seine These, die Habsburgermonarchie hätte auch den Ersten Weltkrieg bei
einer günstigeren militärischen Entwicklung überleben können, ist allerdings
spekulativ. In der Relativierung der Nationalismen schießt Judson zuweilen über
das Ziel hinaus. Der unverdiente Ruf der Habsburgermonarchie als
„Völkergefängnis“ ist gewiss revisionsbedürftig. Angesichts der ethnischen Heterogenität
der Territorien erwies sich die nationalstaatliche Neuordnung Ostmitteleuropas
nach dem Ersten Weltkrieg als die schlechtere Alternative. Die Sprengkraft des
ethnischen Nationalismus, die heute die Europäische Union gerade aus östlicher
Richtung zu spüren bekommt, lässt sich aber nicht einfach mit der Konstruktion
eines Gegenmythos von Österreich-Ungarn als „multikulturellem Musterstaat“
beheben. Wenn man einen Blick in die nostalgische Österreich-Literatur eines
Hermann Bahr, Joseph Roth und Ödön von Horváth wirft, stellt man zudem fest,
dass dieser Gegenmythos nicht gerade neu ist.
Mit 40 Abbildungen und 7 Karten ist das Buch reich
illustriert, wobei man allerdings Tabellen zur Bevölkerungsstatistik vermisst.
Für Historiker wird es sich schnell zum Standardwerk entwickeln, und
insbesondere die Thesen vom Reichsbewusstsein bieten vielversprechende neue
Ansatzpunkte für die Forschung. Die Kompaktheit der Darstellung und die
literarische Qualität machen das Buch aber auch für breitere Leserkreise
attraktiv.