Die Meerjungfrau und die Kurtisane
Eine
Meerjungfrau ist ein gefährlicher Fang. Genauso wie eine Kurtisane.
Diese Erfahrung muss eines Tages Jonah Hancock, ein gut situierter,
etwas korpulenter Kaufmann mittleren Alters, machen. Bislang ist Jonah
Hancock seinen Weg ehrlich und stringent gegangen. Aber seit dem Tod
seiner Frau und seines Sohnes, dessen Geist er manchmal begegnet, ist er
einsam. Er sehnt sich nach jemandem, mit dem er sein Leben teilen kann,
vergräbt sich statt sich auf die Suche zu begeben, in seine Arbeit. Als
endlich der Kapitän seines sehnlichst erwarteten Frachtschiffs Calliope
eintrifft, folgen der anfänglichen Freude nicht nur Ernüchterung,
sondern auch Entsetzen. Denn Captain Jones hat das Schiff verkauft. Für
eine Meerjungfrau. Eine tote Meerjungfrau. Was bitteschön soll er, Jonah
Hancock, seriöser Geschäftsmann mit tadellosem Ruf, mit solch einer
wilden Kreatur?
Jonah Hancock lässt sich überreden, die
Meerjungfrau auszustellen, und tatsächlich entpuppt sich dieses über
alle Maßen hässliche und groteske Wesen – wie von Captain Jones
vorausgesagt – als wahre Goldgrube. Die Menschen stehen Schlange, um es
zu sehen, bezahlen dafür, und die Truhen von Jonah Hancock füllen sich.
Die
Ausstellung ruft Beth Chappell auf den Plan, ihres Zeichens Betreiberin
eines erstklassigen Bordells. Sie überredet Jonah Hancock, ihr die
Meerjungfrau zu leihen, und der Kaufmann lässt sich darauf ein.
Anlässlich
der Präsentation der Meerjungfrau im Haus von Mrs. Chappell mit
Aristokraten und Politikern begegnet Jonah Hancock der Kurtisane
Angelica Neal. Einst hat Angelica für die Wirtin gearbeitet, und diese
lässt nichts unversucht, Angelica zur Rückkehr zu bewegen. Nach dem Tod
ihres Gönners, eines Herzogs, ist Angelica darauf angewiesen, einen
neuen Mann zu finden, der sie versorgt. Denn ihre Unabhängigkeit von
Beth Chappell möchte sie nicht aufgeben.
Jonah ist von der
üppigen, temperamentvollen Schönheit begeistert. Gleichzeitig wird sein
bürgerliches Empfinden von unanständigen Szenen im Bordell auf Tiefste
erschüttert. Er verlässt das Haus angewidert, fordert die Meerjungfrau
zurück und verkauft sie.
Angelica kann er hingegen nicht
vergessen und bemüht sich um sie. Diese hat sich zwischenzeitlich dem
adligen, aber mittellosem George Rockingham zugewandt, wird allerdings
von jenem fallengelassen, als es darum geht, ihre Auslagen und Schulden
zu zahlen. Wie soll sie diesem Dilemma entkommen? Jonah Hancock ist
rettend zur Stelle. Er erhält eine Ehefrau, Angelica die gewünschte
Absicherung und ein respektables Leben. Das ist ihre Chance auf Glück.
Doch existiert ein solches für Angelica wirklich? Es ist gefährlich, aus
seiner Welt gerissen zu werden. Das gilt für eine Kurtisane als auch
für eine Meerjungfrau...
Für ihren Debütroman „Die letzte Reise
der Meerjungfrau oder wie Jonah Hancock über Nacht zum reichen Mann
wurde“ hat Imogen Hermes Gowar drei Jahre lang recherchiert, geforscht
und gelernt, im Sprachduktus des 18. Jahrhundert zu schreiben.
Der
Aufwand und die Arbeit haben sich gelohnt. Die Autorin bewegt mit ihrem
opulenten Stil des Inszenierens auf herausragenden Niveau. Sie findet
mit außergewöhnlich gutem Gespür den Ton der Zeit und gibt ihn in
nuancierten Art und Weise wieder, so dass das Lesen und folglich
Eintauchen in eine vergangene Realität zum Erlebnis werden. Dabei nutzt
sie in wunderbarer Kunstfertigkeit die Art der Kommunizierens im London
des zweiten Drittels des 18. Jahrhunderts. Zurückhaltend und distanziert
und damit ein wenig ungewohnt, indes bei der Lektüre überhaupt nicht
hinderlich.
Hinzu kommt, dass durch das Erzählen in der Gegenwart
eine Präsens entsteht, die uns unmittelbar in die Geschichte
hineinzieht und einbindet. So befinden wir uns mitten in einem
Geschehen, das historische Gegebenheiten wie die Ungleichheit zwischen
den Klassen, Geschlechtern und Hautfarben thematisiert und diese mit dem
Mythos und der Legende der Meerjungfrau mittels eingeflochtener
lyrischer Passagen verknüpft.
Noch zu berücksichtigen ist der
feinsinnige Humor, den den Zeilen das eine oder andere Mal entströmt.
Hierbei gelingt es der Autorin, mit unseren Zweifeln zu spielen.
Existieren Meerjungfrauen oder nicht? Wir wissen, dass es diese
Geschöpfe nicht gibt. Aber wir lassen uns gern auf dieses Spiel der
Phantasie ein, geben uns der Illusion hin, dass es möglich kann. Wir
möchten, dass es so ist und vergessen für einen Moment die Wirklichkeit.
Faszinierend
ist außerdem das Können von Imogen Hermes Gowar, das Milieu und die
Umstände auf den Punkt zu schildern, insbesondere die Abhängigkeit der
Frauen von den Männern zu beleuchten.
Das überträgt sich auf die
Protagonisten. Die Autorin hat bemerkenswerte, mit Brillanz
ausgearbeitete Figuren geschaffen, deren Tiefgründigkeit sich langsam,
dann jedoch mit Wucht offenbaren.
Da ist zum einen Jonah Hancock,
ein aufrichtiger, empfindsamer Mann, mit einem einfachen Herzen voller
Sehnsucht, und trotzdem und erstaunlicherweise bereit, etwas Neues zu
wagen. „Ich habe mein Leben bisher nicht ausgeschöpft… Und jetzt wurde
mir etwas Großes aufgezeigt. Ich wäre ein Narr, wenn ich nicht mehr für
mich erstreben würde…“ (Seite 121)
Und wir lernen Angelica Neal
kennen, eine Frau, die auf den ersten Blick eitel, seelenlos und
unmoralisch wirkt, gleichzeitig über eine unwiderstehliche Schönheit und
eine gewisse Wahrhaftigkeit verfügt und durchaus Parallelen zu einer
Meerjungfrau aufweist.
„Denn eine Meerjungfrau ist ein höchst unnatürliches Wesen und ihr Herz ohne Liebe." (Seite 90)
Im
Grunde ist Angelica ein Geschöpf der Umstände, und bei genauerer
Betrachtung, versucht auch sie nur, das Bestmögliche aus eben diesen zu
machen. Sie steht zu ihrem Handeln, und sie möchte Unabhängigkeit,
zumindest von Mrs. Chappell, ihrer einstigen Bordellwirtin. Denn
wirklich frei wird sie nie sein können, weil sie immer auf die Gunst
eines Mannes angewiesen ist. Ob als Kurtisane oder als Ehefrau...
Imogen
Hermes Gowar meistert eine anspruchsvolle und eindringliche Darstellung
von Sein und Schein, Realität und Mythos. Einfach grandios!