Über die Autorin:
Natascha Wodin, 1945 als Kind verschleppter sowjetischer Zwangsarbeiter in Fürth/Bayern geboren, wuchs erst in deutschen DP-Lagern, dann, nach dem frühen Tod der Mutter, in einem katholischen Mädchenheim auf. Nachdem sie eine Sprachenschule absolvierte, übersetzte sie aus dem Russischen und lebte zeitweise in Moskau. Auf ihr Romandebüt "Die gläserne Stadt", das 1983 erschien, folgten etliche Veröffentlichungen, darunter die Romane "Einmal lebt ich", "Die Ehe" und "Nachtgeschwister". Ihr Werk wurde unter anderem mit dem Hermann-Hesse-Preis, dem Brüder-Grimm-Preis und dem Adelbert-von-Chamisso-Preis ausgezeichnet, für "Sie kam aus Mariupol" wurde ihr der Alfred-Döblin-Preis und der Preis der Leipziger Buchmesse verliehen. Natascha Wodin lebt in Berlin und Mecklenburg.
(Quelle: Amazon)
Buchinhalt:
"Wenn du gesehen hättest, was ich gesehen habe" - Natascha Wodins Mutter sagte diesen Satz immer wieder und nahm doch, was sie meinte, mit ins Grab. Da war die Tochter zehn und wusste nicht viel mehr, als dass sie zu einer Art Menschenunrat gehörte, zu irgendeinem Kehricht, der vom Krieg übriggeblieben war. Wieso lebten sie in einem der Lager für "Displaced Persons", woher kam die Mutter, und was hatte sie erlebt? Erst Jahrzehnte später öffnet sich die Blackbox ihrer Herkunft, erst ein bisschen, dann immer mehr.
(Quelle: Amazon, gekürzt)
Das Buch umfasst 358 Seiten gegliedert in 4 Teile. Angehängt sind eine kurze Danksagung, ein Quellenverzeichnis sowie ein Fotonachweis.
Meine Meinung:
Die spannende Geschichte einer Spurensuche und der Rekonstruktion der eigenen Familiengeschichte. Die Autorin, aufgewachsen ohne klare Wurzeln, ohne Wissen um die eigene Familie, mit nichts als ein paar punktuellen Erinnerungen und drei Fotografien ausgestattet, beginnt spontan mit der Suche nach ihrer Mutter im Internet. Was als verrückte Idee beginnt – die Suche nach Spuren einer Frau mit einem Allerweltsnamen, die lange vor Erfindung des WWW verstarb – bekommt eine unglaubliche Eigendynamik und endet bei der Erfüllung einer tiefen Sehnsucht: die Spuren sind verfolgbar, eine Familie wird gefunden, die eigene Geschichte entdeckt. Doch wie so oft sind Wunscherfüllungen eine Wundertüte: nicht alles, was man erfüllt bekommt, möchte man in dieser Form auch haben, und so hält die Familiengeschichte einige Überraschungen bereit.
Die eigentliche Spurensuche bis hin zum letzten Fund, der schlussendlich den Zugang zur Geschichte der Mutter ermöglicht, umfasst mit dem ersten Kapitel beinah die Hälfte des Buches. Aber die Autorin hat mich in diesem Kapitel mitfiebern lassen, wenn sie wieder eine neue Spur entdeckt und verfolgt, wenn ihr Helfer im russischen Internet ihr unter die Arme greift, wenn sie zweifelt, fast verzweifelt, jubelt und hofft, dann aber auch fassungslos vor so mancher Entdeckung steht.
Die anderen drei Kapitel sind der Geschichte ihrer Tante, ihrer Mutter bis nach Ende des 2. Weltkriegs und dann ihrer Familie bis zum Tod der Mutter gewidmet. Am Ende hat die Autorin ihre Familie gefunden und sich auch versöhnen können mit der Mutter, die ihr stets irgendwo fremd war in ihrer Art, ihre „arme, kleine, verrückt gewordene Mutter“. Sie findet in der Familiengeschichte die Erklärung dafür, warum ihre Mutter so war wie sie sie erinnert, und warum sie nach den fürchterlichen Erlebnissen ihrer Kindheit und Jugend während Stalins Terror sowie den fürchterlichen Erlebnissen als Ost-Zwangsarbeiterin in Deutschland nicht mehr mit dem Leben fertig wurde.
In ihrer Erzählung wahrt die Autorin für mein Gefühl immer eine gewisse Distanz, sei es bei ihren eigenen Gefühlen während der Suche nach ihrer Mutter, sei es bei der Schilderung der unfassbaren Zustände während der Terrorzeit in der Ukraine oder gegen Ende die genauso unfassbaren Zustände als Zwangsarbeiter in einem der gefürchtetsten Arbeitslager überhaupt. Ob sie diese Distanz für sich als Schutz wahrt oder um es dem Leser leichter zu machen, kann ich nicht beurteilen. Aus dem Bauch heraus tendiere ich zu ersterem. Aber auch diese Distanz hat nicht verhindern können, dass ich manches Mal schlucken musste bei den Schilderungen, obwohl ich bereits sehr viel über diese Thematiken gelesen habe.
Die Erzählsprache ist leicht, man kommt sofort in die Geschichte hinein und ist gefesselt, aber stilistisch finde ich sie nicht irgendwie besonders oder herausragend. Deswegen kann ich die Aussage „Dass es dieses bewegende, dunkel-leuchtende Zeugnis eines Schicksals gibt, das für Millionen anderer steht, ist ein literarisches Ereignis“ wie sie auf Amazon zu lesen ist, so nicht unterschreiben. Das Buch ist ganz sicher ein wichtiges Zeugnis für Millionen gleich gelagerter Schicksale in Ost und West, aber rein literarisch betrachtet ist es für mich kein Ereignis. Trotzdem kann ich es jedem empfehlen, der sich ebenso wie ich für Themen wie diese interessiert.