Natascha Wodin - Sie kam aus Mariupol

  • Nachdem ich gerade den ersten Teil des Buches beendet habe, musste ich irgendwo mein Zwischenfazit hinterlassen, da ich wirklich angetan bin.


    In dem Buch geht es sehr viel um Spurensuche: Die Autorin möchte mehr über die Herkunft ihrer Mutter herausfinden, die als junge Frau 1943 aus der Ukraine nach Deutschland deportiert wurde. Da die Mutter starb als Natascha Wodin noch ein Kind war, damals nie über die Vergangenheit gesprochen wurde und sie bis auf drei alte Fotos so gut wie keine Informationen besaß, versuchte sie eines Tages (selbst schon über sechzig) mit Hilfe des Internets, mehr über ihre Familie herauszufinden.


    Für jeden, der sich für Ahnenforschung interessiert und vielleicht selbst schon seinen Stammbaum verfolgt hat, ist das Buch eine Offenbarung, nicht zu vergessen, die historischen Hintergünde, vor denen sich das Leben der Mutter abspielte. Es wird deutlich, wie stark man doch mit der Geschichte seiner Ahnen/Verwandten verbunden ist und so fragt sich auch Wodin immer wieder, ob sie das alles eigentlich wirklich so genau wissen wollte.


    Schlimm für die Menschen, die damals und heute in der umkämpften Stadt leb(t)en oder einen persönlichen Bezug zu Mariupol haben.


    Ich bin schon sehr gespannt auf die nächsten 200 Seiten.

  • SiriNYC Mir hat das Buch gut gefallen, grade die Spurensuche, aber auch das Finden - findet man wirklich das, was man sucht? Kann man mit allem leben, was man findet? Will man alles wissen, was man findet oder bliebe manches lieber besser unentdeckt?

    Leider ist Mariupol wieder in aller Munde, wieder im Krieg und belagert :pale:

  • Leider ist Mariupol wieder in aller Munde, wieder im Krieg und belagert

    Ja, traurig und schlimm. Bei einer Vorstellung ukrainischer Schriftsteller in der Süddeutschen Zeitung bin ich auch diesen Roman gestolpert.

    Vielleicht magst Du weiterhin bisschen erzählen, SiriNYC ?

    :study: Percival Everett, James.

    :musik: Agatha Christie, Mord im Pfarrhaus.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Vielleicht magst Du weiterhin bisschen erzählen,

    Gern :).


    In Teil 2 geht es nicht mehr um die Spurensuche als solches, sondern darum wie es Natascha Wodins Tante Lidia erging (sie war keine Zwangsarbeiterin, hat aber in der Heimat Schlimmes erleiden müssen). Wie die Autorin auf wundersame Art und Weise an diese Informationen gelangte, ergibt sich gegen Ende des ersten Teils.

    Fürchterlich sind auch hier die beschriebenen geschichtlichen Hintergünde, wie die große Hungersnot 1931/32, die u.a. zu Kannibalismus führte. Die Ukraine (wie heute die Kornkammer des Ostens) konnte ihre Felder nicht mehr bewirtschaften, da die Bauern als Grundbesitzer enteignet und vertrieben worden waren (auch heute war dazu einiges in den aktuellen Nachrichten zu hören, die Preise für Weizen für Länder wie Libanon, Pakistan und Ägypten werden astronomisch steigen, da sie den Großteil aus der Ukraine beziehen).


    Teil 3 ist derjenige, der sich an nur wenige gesicherte Fakten der Familiengeschichte halten kann, denn wie die Eltern nach Deutschland gelangt sind, kann nicht mehr in allen Punkten zweifelsfrei festgestellt werden. Bezüglich deren (Arbeits)alltag baut Wodin anhand diverser Quellen anderer Deportierter und der Persönlichkeit der Mutter eine Geschichte, die zeigt, wie schwer dieses Leben gewesen sein muss. Die Eltern arbeiteten übrigens für Flick, eine der wenigen Firmen, die nie eine Entschädigung an ihre Zwangsarbeiter zahlte, diese aber besonders schlecht behandelte. Hier ein Artikel dazu bei Wikipedia:

    Flick und der Nationalsozialismus. Ich kann Euch sagen, da bekommt man Puls, wenn man liest, wie sich die Eigentümer nach dem Krieg in Nullkommanichts als Saubermänner der Republik darstellten.



    Jetzt wurde es doch ein bisschen länger, man merkt, das Thema macht gerade was mit mir.

  • Ich kann Euch sagen, da bekommt man Puls, wenn man liest, wie sich die Eigentümer nach dem Krieg in Nullkommanichts als Saubermänner der Republik darstellten.

    Oh, da kriege ich auch Zustände, weil diese alten Seilschaften, inzwischen in der nächsten und übernächsten Generation, immer noch funktionieren, jedenfalls in München - und jetzt höre ich auf, weil ich sonst unweigerlich bei meinen Reizthemen lande :wuetend: .


    Ich lese, dass Flick das Bundesverdienstkreuz der Bundesrepublik bekommen hat.

    Wie schön.

    :study: Percival Everett, James.

    :musik: Agatha Christie, Mord im Pfarrhaus.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Fürchterlich sind auch hier die beschriebenen geschichtlichen Hintergünde, wie die große Hungersnot 1931/32, die u.a. zu Kannibalismus führte. Die Ukraine (wie heute die Kornkammer des Ostens) konnte ihre Felder nicht mehr bewirtschaften, da die Bauern als Grundbesitzer enteignet und vertrieben worden waren (auch heute war dazu einiges in den aktuellen Nachrichten zu hören, die Preise für Weizen für Länder wie Libanon, Pakistan und Ägypten werden astronomisch steigen, da sie den Großteil aus der Ukraine beziehen).

    Man kann ziemlich gesichert davon ausgehen, dass der Holodomor gezielt von Stalin eingesetzt wurde, um die Ukrainer niederzuzwingen. Mit der Kornkammer verfügten sie über einen enormen Anteil der Agrarwirtschaft. Dasselbe gilt/galt auch für dKohleförderung in Lugansk und im Donbass! Dazu siehe auch: https://de.wikipedia.org/wiki/Holodomor#Verlauf


    Wer eine Kinoverarbeitung dazu sehen möchte, dann empfehle ich diesen Fim über den britischen Journalisten Gareth Jones, den ich zuletzt sah:

    https://de.wikipedia.org/wiki/…%93_Im_Fadenkreuz_Stalins

  • tom leo , danke für die links. Das sind ja schlimme Sachen, meine Güte, wie soll ich denn da jetzt ruhig schlafen ...

    :study: Percival Everett, James.

    :musik: Agatha Christie, Mord im Pfarrhaus.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • tom leo , danke für die links. Das sind ja schlimme Sachen, meine Güte, wie soll ich denn da jetzt ruhig schlafen ...

    Ja, absolut. Und es ist eventuell verständlich, dass im Hinterkopf der/mancher Ukrainer es in dem Sinne nur heissen kann "bloss nicht zurück"...


    Ich empfehle ebenfalls - weiter zum Thema Ukraine - eine hervorragende graphic novel, die ich ebenfalls besprach (siehe Hinweis in der Verlinkung):


    Serafima Andrejewna war erst vier Jahre alt, als 1932 der Holodomor in ihrem Dorf begann. Sie berichtet von Elend, Tod, sogar von Kannibalismus infolge dieser von Stalin provozierten Hungersnot. Anatoli erzählt von einem jüngeren Drama der ukrainischen Geschichte, von Tschernobyl. Anderthalb Jahre ist Igort zwischen 2008 und 2009 durch die Ukraine, Russland und Sibirien gereist, um die Erinnerungen der Menschen festzuhalten. In seinen Aufzeichnungen verbindet der italienische Autor virtuos Comicminiaturen, Illustrationen und kurze Textpassagen zu einem jederzeit authentischen und oftmals erschütternden Porträt der Ukraine und ihrer Menschen.

  • In Sachen Ukraine halte ich ein Buch für recht aufschlussreich. Es beschreibt am Beispiel eines ukrainischen (vormals russischen) Oligarchen (bzw. durch ihn persönlich), inwieweit die wirtschaftlich politischen Systeme von Russland und der späteren Ukraine sich gleichen. Und das bis in die heutigen Tage hinein. Man bekommt ein Verständnis des Grundprinzips der absoluten Vermischung von Geld und Macht. Ebenso sehr gut erkennbar, das Selbstverständnis der oligarchen Welt. Aber auch des russischen wie ukrainischen Alltags.

    Es lässt auch verständlich werden, welshalb die derzeitige kaum begreifbare Katastrophe mehr als leicht zu lösen sein wird und leider mit einem Unmut der Oligarchen auf P. nur schwerlich zu rechnen sein wird.


    Es liest sich leicht, das es keine schwergewichtige hochkomplexe Analyse ist, sondern eher ein Beschreibung. Die aber hat es in sich. Gelangweilt ist man nicht. Es ist ein Art Biografie, die durchweg durch das Buch die Spannung aufrecht erhält.

    Der Untertitel ist etwas reißerisch. Ich war skeptisch. Zum Glück war es dann in keiner Weise an dem.

    Kein literarisches Glanzstück. Eher dokumentarisch.