Swetlana Alexijewitsch - Seht mal, wie ihr lebt / Zaočarovannye smert'ju

  • Die Autorin (nach Wikipedia): Die weißrussische Schriftstellerin Swetlana Alexandrowna Alexijewitsch (geboren 1948) entstammt einer Lehrerfamilie. Nach dem Studium der Journalistik in Minsk arbeitete sie als Journalistin, Lehrerin und Korrespondentin einer Literaturzeitung. Sie befasste sich mit diversen Genres und Gattungen und entwickelte eine eigene literarische Herangehensweise: Auf Grundlage intensiver Gespräche collagiert sie die Antworten ihrer Gesprächspartner zu Monologen über ihre individuellen Erlebnisse. Durch diese Dokumentarprosa versucht sie, dem „wahren Leben“ literarisch möglichst nah zu kommen. Sie schreibt "Romane der Stimmen"; "Roman-Chöre", nennt sie es selber. Wegen ihrer oppositionellen Haltung gegenüber der weißrussischen Diktatur unter Alexander Lukaschenko verbrachte sie einige Jahre im Exil in Paris, Stockholm und Berlin. 2011 kehrte sie nach Weißrussland zurück. Doch ihre Bücher sind in ihrem Heimatland weiterhin nicht erhältlich. 2013 wurde sie mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet.

    Das Interview-Buch „Seht mal, wie ihr lebt. Russische Schicksale nach dem Umbruch“ (im Original von 1993, auf Deutsch wurde es 1994 veröffentlicht, zunächst unter dem Titel „Im Banne des Todes. Geschichten russischer Selbstmörder“ bei Fischer) besteht aus 17 mal längeren, mal kürzeren Texten, die auf Gesprächen mit Angehörigen oder Freunden von Selbstmördern beziehungsweise mit Menschen basieren, deren Versuch, sich selbst nach dem Untergang der Sowjetunion das Leben zu nehmen, nicht erfolgreich war. Diese Gespräche hat die Autorin zu 17 Monologen zusammengefügt. Es handelt sich durchweg um die Geschichten von Menschen (zwischen 14 und 87 Jahren), die unter den neuen Lebensumständen nicht mehr leben wollten, oder um Menschen, die schon von den alten Umständen völlig zermürbt waren: Alte Kommunisten, die "als Sowjet-Mensch" sterben wollten, Kriegsversehrte aus Armenien und Georgien, in stalinistischen Gulag-Straflagern Inhaftierte, die als Kinder von ihren Eltern getrennt wurden, aber auch teilweise sehr junge verzweifelte Menschen, Menschen, die Gewalt in der Ehe oder Unterdrückung in der Kindheit erfuhren, und Kriegsheimkehrer aus dem sowjetischen Afghanistan-Feldzug.


    Swetlana Alexijewitsch wird ihrem Anspruch, dem „wahren Leben“ möglichst nahe zu kommen, mehr als gerecht: Die Texte gehen teilweise sehr nahe, da in ihnen die versuchten Selbstmörder oder ihre Hinterbliebenen nicht nur von teilweise fast unvorstellbaren Schicksalen und menschlichen Niederlagen erzählen, sondern dabei auch in oft nur schwer erträglicher Intensität ihre Verzweiflung zum Ausdruck bringen. Sie ringen um Worte, um Lebensgeschichten, ganz ohne Weinerlichkeit, entweder wütend oder völlig niedergeschmettert, leer, ohne Hoffnung, auch ohne Gefallsucht im Angesicht des eigenen Untergangs: Männer, die immer nur Helden sein wollten, nichts für sich persönlich erstrebten, mit einer fast unmöglichen Kriegsbegeisterung ihr Leben ihrem Land zu opfern bereit waren, und jetzt von jugendlichen Schlägern auf offener Straße die Parteiabzeichen abgerissen kriegen, treue Anhängerinnen Stalins, die ihre engsten Angehörigen zu denunzieren bereit waren, Menschen, die begeistert waren von der schieren Größe ihrer sowjetischen Heimat, Menschen, die ihre Nachkommen nicht mehr verstehen können, die nur noch für die Vermehrung ihres Wohlstandes leben, Parteifunktionäre, die sich lieber selber töten, als in Situationen zu kommen, für die es keine offizielle Handlungsanweisung gibt, Söldner, die sich in alle möglichen Krisengebiete einschiffen, wo sie kämpfen und töten können, aber auch Menschen, die eher bereit sind auf sich als auf andere zu schießen, sowie Menschen, die nichts anderes als geliebt werden möchten.


    Es ist ein sehr aufschlussreiches Buch über das Verschwinden von Ideologien, den sowjetischen Heldenbegriff, über eine gewisse „russische Sehnsucht nach Tragik“, das Aufwachsen in einem totalitären Regime, sowjetische Dissidentenschicksale und die Möglichkeit, ein Leben nach der völligen Umwertung aller bisher gültigen gesellschaftlichen Werte zu führen. Es sollte jedem, der sich für russische Zeitgeschichte oder den gesellschaftlichen Wandel in Osteuropa in den letzten 30 Jahren interessiert, eine große Bereicherung sein, die viele individuelle Versionen und Interpretationen dokumentiert - von einem Leben ohne gesellschaftliche Visionen, die über die eigene Person hinausreichen. Eine sehr konzentrierte Lektüre, sehr menschlich und unglaublich traurig.



    Weitere Bücher von Swetlana Alexijewitsch (Auswahl): „Der Krieg hat kein weibliches Gesicht“ (1983) über Schicksale sowjetischer Soldatinnen im Zweiten Weltkrieg, „Die letzten Zeugen. Kinder im Zweiten Weltkrieg“ (1985), in dem es unter anderem auch um die Zeit der Stalin-Herrschaft in der Sowjetunion geht, „Zinkjungen“ (1989) mit Interviews mit Veteranen aus dem sowjetischen Afghanistankrieg und Müttern von gefallenen Soldaten, „Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft“ (1997) mit Berichten einiger von der Atomkatastrophe betroffenen Menschen, „Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus" (2013) über die Suche nach einer neuen Identität im postsowjetischen Russland.

    Andere Vertreter sogenannter Protokoll-Literatur: Erika Runges „Bottroper Protokolle“ (1968), Studs Terkel „Hard Times: An Oral History of the Great Depression“ (1970), Sarah Kirschs „Die Pantherfrau“ (1974), Maxie Wanders „Guten Morgen, du Schöne“ (1977).

    White "Die Erkundung von Selborne" (115/397)

    Kellendonk "Buchstabe und Geist" (83/170)

    Figura/Mizielińscy "Wölfe" (89/262)


    :king: Jahresbeste: Gray (2024), Brookner (2023), Mizielińscy (2022), Lorenzen (2021), Jansson (2020), Lieberman (2019), Ferris (2018), Cather (2017), Tomine (2016), Raymond (2015)

    :study: Gelesen: 59 (2024), 138 (2023), 157 (2022), 185 (2021), 161 (2020), 127 (2019), 145 (2018), 119 (2017), 180 (2016), 156 (2015)70/365)
    O:-) Letzter Kauf: Kuhl "Helenes Familie" (23.04.)

  • Man kann es ja eigentlich den biographischen Notizen zu Alexijewitsch entnehmen, aber eventuell sehen wir das nicht so genau. Es geht ihr nicht einfach um lamentable Darstellungen der Gegenwart aus eigener Resignation, aber ihre Bücher können auch im heutigen Umfeld nur als Kritik verstanden werden. Zumindest von den angesprochenen Regimen. Eine mutige Frau!


    Danke für die Vorstellung!

  • Das Buch heißt im Original "Zaočarovannye smert'ju" oder "Zacharovannye smertiu" (je nach Umschrift). Es scheint keine englische Übersetzung zu geben. In diesem Dreierband mit der ISBN-Nummer 978-5860951105 ist auch das russische Original enthalten (Verlag: Izdatelstvo Ostozhe (1996)).

    White "Die Erkundung von Selborne" (115/397)

    Kellendonk "Buchstabe und Geist" (83/170)

    Figura/Mizielińscy "Wölfe" (89/262)


    :king: Jahresbeste: Gray (2024), Brookner (2023), Mizielińscy (2022), Lorenzen (2021), Jansson (2020), Lieberman (2019), Ferris (2018), Cather (2017), Tomine (2016), Raymond (2015)

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    O:-) Letzter Kauf: Kuhl "Helenes Familie" (23.04.)

  • Das Buch heißt im Original "Zaočarovannye smert'ju" oder "Zacharovannye smertiu" (je nach Umschrift). Es scheint keine englische Übersetzung zu geben. In diesem Dreierband mit der ISBN-Nummer 978-5860951105 ist auch das russische Original enthalten (Verlag: Izdatelstvo Ostozhe (1996)).


    Wenn ich das richtig verrstehe lautet demnach das russische Original so ungefähr "Enntäuschung/Verzweiflung bis hin zum Tode", oder Todesverzweiflung oa...

  • Wenn ich das richtig verrstehe lautet demnach das russische Original so ungefähr "Enntäuschung/Verzweiflung bis hin zum Tode", oder Todesverzweiflung oa...

    Was für ein treffender Titel. Der deutsche Titel trägt ja dann noch einen gewissen Vorwurf in sich, der sich auch im Buch findet. Zwischen beiden Stimmungen (Verzweiflung und Wut) pendelt das Buch. Danke für die Übersetzung!

    White "Die Erkundung von Selborne" (115/397)

    Kellendonk "Buchstabe und Geist" (83/170)

    Figura/Mizielińscy "Wölfe" (89/262)


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    :study: Gelesen: 59 (2024), 138 (2023), 157 (2022), 185 (2021), 161 (2020), 127 (2019), 145 (2018), 119 (2017), 180 (2016), 156 (2015)70/365)
    O:-) Letzter Kauf: Kuhl "Helenes Familie" (23.04.)

  • Was für ein treffender Titel. Der deutsche Titel trägt ja dann noch einen gewissen Vorwurf in sich, der sich auch im Buch findet. Zwischen beiden Stimmungen (Verzweiflung und Wut) pendelt das Buch. Danke für die Übersetzung!


    Wenn ich meine Meinung dazu abgeben darf, so lautet die korrekte Übersetzung eher "Die vom Tode Verzauberten". "Enttäuschung" wäre "Razocharovanye" oder wie auch immer man es transkribieren möchte. :wink:

    :jocolor: Verschwundene Reiche: Die Geschichte des vergessenen Europa // Norman Davies (Projekt)



    You cannot open a book without learning something. - Konfuzius