Kurzbeschreibung nach Amazon.de: Mit der Geburt seines ersten Sohnes verändert sich für den Lehrer Bird schlagartig das Leben: Das Baby leidet an einer Gehirnhernie, und der junge Vater sieht sich mit der Frage konfrontiert, ob lebenserhaltende Maßnahmen eingeleitet werden sollen. Wer soll diese Entscheidung über Leben und Tod fällen? 'Eine persönliche Erfahrung' erzählt das Schicksal von Kenzaburo Ōes Sohn, über dessen Leben der Autor zu entscheiden hatte. Heute ist Ōes Sohn ein erfolgreicher Komponist und Musiker.
Nun ja, das Buch erzählt natürlich NICHT das Schicksal von Kenzaburō Ōes Sohn Hikari Ōe, sondern ist von Kenzaburō Ōes eigenen Erfahrungen als Vater beeinflusst. (Das Verlagsmarketing versucht einen "Schicksalsroman" daraus zu machen; schämt euch!)
Kenzaburō Ōe, 1935 in der Präfektur Ehime auf der Insel Shikoku geboren, ist ein 1994 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichneter, japanischer Schriftsteller. Er studierte Romanistik an der Tokyo University, wo er mit einer Arbeit über Sartre abschloss. Ōe schrieb Essays, Geschichten und Romane. Mit 23 Jahren erhielt er den renommierten Akutagawa-Preis, es folgten zahlreiche weitere Auszeichungen. Als Pazifist und glühender Anhänger der japanischen Nachkriegsdemokratie lehnt er Nationalismus und das Tennō-System ab. Er ist einer der prominentesten Unterstützer der Anti-Atom-Bewegung in seiner Heimat. Er lebt in Tokio. Derzeit arbeitet er an "seinem letzten Roman", der sich in irgendeiner Weise mit Dante Alighieris Göttlicher Komödie beschäftigen soll. (Quelle: Amazon & Wikipedia)
Nimmt man einen Roman über die Geburt eines Babys mit schwerwiegender Schädigung des Gehirns zur Hand, wird das von gewissen Erwartungen begleitet, da das Thema ein soziales Tabu berührt und hinter großer Emotionalität verborgen ist, die oft mit Rührseligkeit und überfließendem, ungeschicktem Mitleid verbunden ist. Doch dieser Roman macht einem recht bald klar, dass Rührseligkeit in ihm nicht zu finden sein wird.
Die Hauptfigur ist der 27-jährige Vater des Kindes, dem der Leser nur unter seinem Spitznamen "Bird" begegnen wird. Diesen Spitznamen trägt er seit seiner Jugendzeit und niemand scheint ihn je anders zu rufen. Er, der von Beruf Lehrer ist, ist wohl selber noch "ein großer Junge": gedankenlos, charakterschwach, selbstbezogen, den Genuss liebend und unzuverlässig. Im Fortschreiten der Handlung wird die Distanz, die zur Hauptfigur und den Geschehnissen, aufgebaut wird, immer größer. Der Tonfall ist trocken sezierend. Mitgefühl und Mitleid mit der Hauptfigur ist (zumindest bis zur Hälfte, wohin ich erst gekommen bin) fehl am Platz - solange sich der unreife Jungmann seines Leides und seiner Gefühle selber noch nicht sicher ist! Die Geburt seines Kindes empfindet er jedenfalls zunächst vor allem als Einschränkung seiner persönlichen Freiheit, verdeutlicht an seinem "Lebenstraum", einmal Afrika zu bereisen: In der ersten Szene ist man dabei, wie er "wie ein Kind" einen in einer Buchhandlung ausgestellten teuren, schön gearbeiteten Kartenatlas anstaunt, bevor er - es ist übrigens der Tag der Geburt - zwei Landkarten über afrikanische Länder erwirbt.
In der Folge ist man dabei, wie er ins Krankenhaus zitiert wird, wo ihm die Umstände der Geburt mitgeteilt werden: Die Gynäkologen geben dem Kind (sie sprechen über es eher wie über eine Pflanze, ein Ding oder Monstrum) keine Überlebenschance. (Seine Ehefrau liegt derweil als Wöchnerin im Krankenhausbett. Mit ihr hat er bisher nicht gesprochen, sie nicht gesehen. Er hat nur mit seiner Schwiegermutter telefoniert, der es am liebsten wäre, wenn das Kind stürbe). Das Baby wird auf Birds zaghaften Wunsch in ein auf Gehirnschädigungen spezialisiertes Krankenhaus überführt. Er sitzt mit im Krankenwagen, schaut aus dem Fenster, belauscht, worüber sich die Pfleger unterhalten. Draußen auf der Straße nimmt er die schiere Größe des Krankenhauskomplexes wahr, in dem sein winziger Sohn untergebracht wird. Trotz der Außergewöhnlichkeit der Situation registriert sein Körper nach und nach, dass ein schöner Frühlingstag beginnt. Danach informiert er seinen Schwiegervater, den er respektiert und der ihm seinen Lehrerjob verschafft hat (nachdem er durch größere Alkoholexzesse sein Leben beinahe verpfuscht hätte). Danach geht er sich bei einer früheren Bekannten hemmungslos betrinken. Bei ihr, glaubt er, sei der richtige Ort für nachmittägliche Besäufnisse - seit sich ihr Mann umgebracht, geht sie selten tagsüber aus dem Haus, nachts frönt sie aushäusig sexuellen Ausschweifungen. Es stellt sich heraus, dass er diese Bekannte einst auf einem winterlichen Holzhof vergewaltigte - soviel zum Thema: Distanz zur Hauptfigur aufbauen!
Wer in diesem Roman viel elterliches Elend an Kinderbettchen, gegenseitiges An-die-Schulter-lehnen und tränenreiche Zusammenbrüche auf Krankenhausfluren erwartet, muss enttäuscht werden. Stattdessen ist man bei diversen Szenen dabei, die vordergründig nichts mit der Situation eines jungen Vaters eines schwer behinderten Babys zu tun haben. Doch während des Lesens beginnt der Verstand mitzurattern (hoffentlich!) und sucht die Verbindungen, deutet die Geschehnisse in Bezug auf die gedankliche Odyssee der Hauptfigur und seine charakterliche Verfasstheit ab. Und man stellt fest, dass es in erster Linie um die allgemein geteilten Bilder von Erwachsensein und Geschlechterrollen geht - meistens sind es zu einfache, beziehungsweise welche, die es "einem zu einfach machen". Ich als Leser bin, wenn ich mich ohne Scheu und Erwartungen in den Fortgang der Erzählung fallen lasse, mit dabei, wie ein unreifer Erwachsener "gebildet wird", beziehungsweise wie er in einigen Aspekten seines Charakters, seines Selbstbildes, seines Unterbewussten "geheilt" wird (seine sexuelle Angst vor dem Weiblichen hat er schon überwunden, soviel kann ich verraten!) und eigene Schwächen überwindet, auf dass er den Anforderungen einer komplizierten Umwelt, eines komplexen sozialen Gefüges und zwischenmenschlicher Verantwortung gerecht werden kann - unabdingbare Voraussetzung, um das Wunder der Geburt (und wohl noch mehr einer solch besonderen Geburt) annehmen und ertragen zu können.
Ich wage jetzt schon einmal die Prognose: Dieser Bildungsroman wird grandios!