Kenzaburō Ōe - Eine persönliche Erfahrung

  • Kurzbeschreibung nach Amazon.de: Mit der Geburt seines ersten Sohnes verändert sich für den Lehrer Bird schlagartig das Leben: Das Baby leidet an einer Gehirnhernie, und der junge Vater sieht sich mit der Frage konfrontiert, ob lebenserhaltende Maßnahmen eingeleitet werden sollen. Wer soll diese Entscheidung über Leben und Tod fällen? 'Eine persönliche Erfahrung' erzählt das Schicksal von Kenzaburo Ōes Sohn, über dessen Leben der Autor zu entscheiden hatte. Heute ist Ōes Sohn ein erfolgreicher Komponist und Musiker.


    Nun ja, das Buch erzählt natürlich NICHT das Schicksal von Kenzaburō Ōes Sohn Hikari Ōe, sondern ist von Kenzaburō Ōes eigenen Erfahrungen als Vater beeinflusst. (Das Verlagsmarketing versucht einen "Schicksalsroman" daraus zu machen; schämt euch!)


    Kenzaburō Ōe, 1935 in der Präfektur Ehime auf der Insel Shikoku geboren, ist ein 1994 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichneter, japanischer Schriftsteller. Er studierte Romanistik an der Tokyo University, wo er mit einer Arbeit über Sartre abschloss. Ōe schrieb Essays, Geschichten und Romane. Mit 23 Jahren erhielt er den renommierten Akutagawa-Preis, es folgten zahlreiche weitere Auszeichungen. Als Pazifist und glühender Anhänger der japanischen Nachkriegsdemokratie lehnt er Nationalismus und das Tennō-System ab. Er ist einer der prominentesten Unterstützer der Anti-Atom-Bewegung in seiner Heimat. Er lebt in Tokio. Derzeit arbeitet er an "seinem letzten Roman", der sich in irgendeiner Weise mit Dante Alighieris Göttlicher Komödie beschäftigen soll. (Quelle: Amazon & Wikipedia)


    Nimmt man einen Roman über die Geburt eines Babys mit schwerwiegender Schädigung des Gehirns zur Hand, wird das von gewissen Erwartungen begleitet, da das Thema ein soziales Tabu berührt und hinter großer Emotionalität verborgen ist, die oft mit Rührseligkeit und überfließendem, ungeschicktem Mitleid verbunden ist. Doch dieser Roman macht einem recht bald klar, dass Rührseligkeit in ihm nicht zu finden sein wird.


    Die Hauptfigur ist der 27-jährige Vater des Kindes, dem der Leser nur unter seinem Spitznamen "Bird" begegnen wird. Diesen Spitznamen trägt er seit seiner Jugendzeit und niemand scheint ihn je anders zu rufen. Er, der von Beruf Lehrer ist, ist wohl selber noch "ein großer Junge": gedankenlos, charakterschwach, selbstbezogen, den Genuss liebend und unzuverlässig. Im Fortschreiten der Handlung wird die Distanz, die zur Hauptfigur und den Geschehnissen, aufgebaut wird, immer größer. Der Tonfall ist trocken sezierend. Mitgefühl und Mitleid mit der Hauptfigur ist (zumindest bis zur Hälfte, wohin ich erst gekommen bin) fehl am Platz - solange sich der unreife Jungmann seines Leides und seiner Gefühle selber noch nicht sicher ist! Die Geburt seines Kindes empfindet er jedenfalls zunächst vor allem als Einschränkung seiner persönlichen Freiheit, verdeutlicht an seinem "Lebenstraum", einmal Afrika zu bereisen: In der ersten Szene ist man dabei, wie er "wie ein Kind" einen in einer Buchhandlung ausgestellten teuren, schön gearbeiteten Kartenatlas anstaunt, bevor er - es ist übrigens der Tag der Geburt - zwei Landkarten über afrikanische Länder erwirbt.


    In der Folge ist man dabei, wie er ins Krankenhaus zitiert wird, wo ihm die Umstände der Geburt mitgeteilt werden: Die Gynäkologen geben dem Kind (sie sprechen über es eher wie über eine Pflanze, ein Ding oder Monstrum) keine Überlebenschance. (Seine Ehefrau liegt derweil als Wöchnerin im Krankenhausbett. Mit ihr hat er bisher nicht gesprochen, sie nicht gesehen. Er hat nur mit seiner Schwiegermutter telefoniert, der es am liebsten wäre, wenn das Kind stürbe). Das Baby wird auf Birds zaghaften Wunsch in ein auf Gehirnschädigungen spezialisiertes Krankenhaus überführt. Er sitzt mit im Krankenwagen, schaut aus dem Fenster, belauscht, worüber sich die Pfleger unterhalten. Draußen auf der Straße nimmt er die schiere Größe des Krankenhauskomplexes wahr, in dem sein winziger Sohn untergebracht wird. Trotz der Außergewöhnlichkeit der Situation registriert sein Körper nach und nach, dass ein schöner Frühlingstag beginnt. Danach informiert er seinen Schwiegervater, den er respektiert und der ihm seinen Lehrerjob verschafft hat (nachdem er durch größere Alkoholexzesse sein Leben beinahe verpfuscht hätte). Danach geht er sich bei einer früheren Bekannten hemmungslos betrinken. Bei ihr, glaubt er, sei der richtige Ort für nachmittägliche Besäufnisse - seit sich ihr Mann umgebracht, geht sie selten tagsüber aus dem Haus, nachts frönt sie aushäusig sexuellen Ausschweifungen. Es stellt sich heraus, dass er diese Bekannte einst auf einem winterlichen Holzhof vergewaltigte - soviel zum Thema: Distanz zur Hauptfigur aufbauen!


    Wer in diesem Roman viel elterliches Elend an Kinderbettchen, gegenseitiges An-die-Schulter-lehnen und tränenreiche Zusammenbrüche auf Krankenhausfluren erwartet, muss enttäuscht werden. Stattdessen ist man bei diversen Szenen dabei, die vordergründig nichts mit der Situation eines jungen Vaters eines schwer behinderten Babys zu tun haben. Doch während des Lesens beginnt der Verstand mitzurattern (hoffentlich!) und sucht die Verbindungen, deutet die Geschehnisse in Bezug auf die gedankliche Odyssee der Hauptfigur und seine charakterliche Verfasstheit ab. Und man stellt fest, dass es in erster Linie um die allgemein geteilten Bilder von Erwachsensein und Geschlechterrollen geht - meistens sind es zu einfache, beziehungsweise welche, die es "einem zu einfach machen". Ich als Leser bin, wenn ich mich ohne Scheu und Erwartungen in den Fortgang der Erzählung fallen lasse, mit dabei, wie ein unreifer Erwachsener "gebildet wird", beziehungsweise wie er in einigen Aspekten seines Charakters, seines Selbstbildes, seines Unterbewussten "geheilt" wird (seine sexuelle Angst vor dem Weiblichen hat er schon überwunden, soviel kann ich verraten!) und eigene Schwächen überwindet, auf dass er den Anforderungen einer komplizierten Umwelt, eines komplexen sozialen Gefüges und zwischenmenschlicher Verantwortung gerecht werden kann - unabdingbare Voraussetzung, um das Wunder der Geburt (und wohl noch mehr einer solch besonderen Geburt) annehmen und ertragen zu können.


    Ich wage jetzt schon einmal die Prognose: Dieser Bildungsroman wird grandios!

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  • Ich hab´vom Autor das unter erwähnte Buch gelesen - gnadenlos fand´ ich es!

    Gnadenlos trifft es sehr gut. Interessanterweise schreibt auch der andere japanische Schriftsteller, mit dem ich vertraut bin, recht gnadenlos: Kobo Abe. Vielleicht ist es der Stil der japanischen Literaturmoderne?!

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  • Vielleicht liegt es daran, dass Oe (auch Kobo Abe oder ein Mishima) sich die Maske runterreißt, hinter der man sich versteckt. Meines Erachtens eine universelle, aber sicherlich auch eine japanisches Thematik.


    Ich bin Dir dankbar für Deine Leseeeindrücke, die genau die Meinigen wiedergeben.Doch die liegen sehr lange zurück und wurden nun erfrischt. Ich finde, dass es sich um das stärkste Buch von Oe handelt, warte nun aber eventuell Deine Abschlußrensension ab, um noch dazuzuposten.


    Berichte bitte weiter!

  • Nach einem Tag, der heißer als angekündigt gewesenen ist, lag ich eine Zeitlang in der Badewanne und las das nächste Kapitel, in dem Bird zum ersten Mal nach der Geburt seine Frau im Krankenhaus besucht. Die Schwiegermutter ist auch anwesend und versucht Bird mit Blicken begreifbar zu machen, er solle Stillschweigen über den tatsächlichen Zustand des Säugling wahren - nichts anderes hat er tatsächlich auf vorgehabt. Bird bringt das falsche Obst mit - seine "namenlose" Frau kann wohl wegen des Geruchs noch nicht einmal die Anwesenheit von Grapefruits ertragen, was er hätte wissen müssen! Da sie sich darüber bereits bei ihren Hochzeitsvorbereitungen gestritten haben, ist sie wütend, dass er ihre diesbezügliche Abscheu vergessen hat.


    Und schon geht es los, was sich bereits andeutete: Vorwürfe, er denke nur an sich, Vorhaltungen, auf ihn könne man sich - gerade in Hinblick auf die Vaterrolle - nicht verlassen, er würde die kleine Familie beim ersten Problem verlassen. Auch seine egoistische Afrika-Sehnsucht kommt zur Sprache. Bird gesteht sich selber ein, ein Feigling zu sein. Der Typus der "hysterischen Ehefrau" wird in dem Kapitel vielleicht etwas zu breit ausgespielt. Schließlich meint sie, falls das Kind wegen einer Nachlässigkeit Birds (dass er zum Beispiel das falsche Krankenhaus ausgesucht haben sollte für dessen Leiden, über das sie immer noch im Unklaren gelassen wird; ihre Mutter meint gegenüber Bird sogar, sollte Birds Frau jemals einen Blick auf das Baby werfen, werde sie dem Wahnsinn verfallen), sich sofort von ihm scheiden zu lassen.


    Wenn Bird später von einem Arzt auf der Station seines Sohnes zu hören bekommt "Wie wäre es, wenn Sie allmählich versuchten, sich wie ein Vater zu benehmen?" (S. 152 der Fischer-TB-Ausgabe 1981) ist auch dem unaufmerksamsten Leser klar, woher der Wind weht. Einerseits ist all die Kritik an Bird etwas überdeutlich dargeboten, andererseits erscheint es Menschen, die als Hallodri bekannt sind (und das selber wissen), wahrscheinlich oft so, als würde ihnen ihr gesamtes Umfeld stets und überall direkte Vorhaltungen machen. (Tatsächlich fühlt er sich von den Blicken der Schwangeren und anderer junger Mütter auf der Station unangenehm taxiert!)


    Außerdem wird eine Sache völlig klar, die ich zuvor noch latent bzw. abwartend überlesen habe. Eine andere Information über Birds Vorleben wirft erneut kein gutes Licht auf ihn:

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  • Langsam kann ich keine Handlungsschritte mehr wiedergeben, ohne zukünftigen Lesern des Romans den Vorgeschmack zu verderben. Ich kann aber sagen, dass ich jede freie Minute versuche, den Roman zur Hand zu nehmen, da mich sein Fortgang in höchstem Maße interessiert. Ich bin gefesselt. Er ist vielleicht anstrengende, unbequeme und aufreibende, aber überhaupt keine beschwerliche, langwierige oder ermüdende Lektüre.


    Um einen kleinen Einblick in die Vertracktheit der psychopathologischen Konstellationen des Romans zu geben, zitiere ich aus Kapitel 9 (in dem schon über einen dritten Selbstmord berichtet wird):

    Zitat

    Als Bird sechs Jahre war, hatte er seinen Vater einmal gefragt: "Vater, wo war ich, hundert Jahre bevor ich geboren wurde? Und wo bin ich, hundert Jahre nachdem ich gestorben bin? Vater, was geschieht mit mir, wenn ich gestorben bin?" Ohne ein Wort darauf zu erwidern, hatte der junge Vater plötzlich so auf Bird eingeschlagen, dass ihm zwei Zähne abgebrochen waren und er sich völlig mit Blut besudelt, dafür aber seine Furcht vor dem Tod vergessen hatte. Drei Monate später dann hatte sein Vater sich durch einen Schuss in den Kopf aus einer deutschen Armeepistole aus dem Ersten Weltkrieg umgebracht.
    "Wenn mein Kind an Schwäche stirbt, bin ich wenigstens eine Furcht los", sagte Bird, während er sich an seinen Vater erinnerte. "Denn wenn mein Kind, sechs Jahre geworden, dieselben Fragen an mich richtete, ich wüsste nicht, was ich tun sollte. Ich wäre nicht imstande, meinem Kind so kräftig ins Gesicht zu schlagen, dass es für den Augenblick die Furcht vor dem Tod vergisst.


    Stoff zum Nachdenken. Was für eine großartige Sequenz - und es ist hoffentlich jedem klar, dass ich, wenn ich das sage, damit nicht die geschilderten Ereignisse billige! [-(

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  • Erst mal Danke für die eingehende Schilderung, @Jean van der Vlugt, rührselige Seufzer scheinen ja wirklich nicht Sache zu sein bei diesem Autor. Andererseits bin ich total abgestoßen von diesen Erwachsenen, die sich ständig in den Mittelpunkt stellen müssen, obwohl doch der zentrale Anlass die Geburt eines Kindes, dessen Lebensfähigkeit in Frage zu stehen scheint, ist, genauso wie eine mögliche Zukunft bzw. Lebenserfüllung, falls es überlebt.
    Ich weiß natürlich nicht, wie weit die Handlung bis zu Deinem letzten Bericht fortgeschritten ist, d.h. wieviel da noch kommen wird. Aber bisher kann ich sagen, dass mich eine solche Lektüre wahrscheinlich nur aufregen würde. Wozu soll man Bücher über ekelhaft egozentrische Menschen lesen?


    Es scheint ja furchtbar schwer zu sein, gute Bücher über das Leben mit Behinderten zu schreiben: ich fürchte eigentlich immer, dass Menschen schildern, welch ein liebevolles und gutes Leben sie den Behinderten bereiten - da rückt dann die Selbstdarstellung der eigenen edelmütigen Aufopferung in den Vordergrund, worauf ich erstens verzichten kann und mich zweitens frage: und wo bleibt das Wesen, das Innere des Behinderten, um den es eigentlich gehen sollte? So etwas brauche ich nicht ... Dann war noch das Buch von diesem Meyerhoff aus der Longlist für den dt. Buchpreis 2013: da gab es neben dem Einblick in die "Aus dem Weg-Räumung" von behinderten Menschen in den 80ern, der ja noch ganz interessant war(weil diese Methode das genaue Gegenteil des heutigen Inklusionsgedankens darstellt), die pure literarische Ausnutzung der ihn umgebenden behinderten Menschen als drollig zu belächelnden Hintergrund, den der Autor für seinen putzigen kleinen Memoiren-Abschnitt gewählt hat - also wieder mal das große Männer-Ego im Vordergrund (ich sage das, weil sich im Endeffekt in diesem Aspekt nicht viel von Karl-Ove Knausgards Erinnerungs-Reihe (die dieser Mensch auch noch mit dem Titel "Mein Kampf" versehen hat - mir fehlen die Worte) und dem Kindheitserinnerungskram im Hessischen von Andreas Maier unterscheidet (Maier ist allerdings ein bisschen raffinierter in der Darstellung, hat aber einen mindestens genauso riesigen Selbstdarstellungszwang) - man beachte: seltsamerweise sind alle drei Schriftsteller 1967/68 geboren; hat das was zu sagen?)


    Dann ist da noch die kommerzielle Schiene, die auf die Mischung von Kitsch, Rührung und Komik setzt ("zwei ziemlich beste Freunde", "Ein ganzes halbes Jahr") - die ist auch nicht viel besser.


    Wenn bei Kenzaburō Ōe hier im Buch alles nur darauf konzentriert bliebe, welche Auswirkungen ein Zusammenleben mit einem behinderten Menschen, egal in welchem Alter, auf das eigene soziale Leben haben könnte, dann würde ich auch dieses Buch völlig ablehnen. Nun hast Du ja schon mal irgendwo etwas von "Bildungsroman" erwähnt, d.h., man darf mit einer inneren Entwicklung des Protagonisten rechnen. Wenn er sich bald mal entschließen sollte, sich mit seinem Sohn als künftigem menschlichen und seelischen Individuum zu beschäftigen, und das in einer Weise, die sich mit genau dem beschäftigt und nicht mit sich selbst, dann würde ich das Buch evtl. auch mal lesen.


    Ich höre schon seit Jahrzehnten Fragen wie: "Warum musste das mir / uns passieren?", und diese Fragen von Angehörigen behinderter Menschen werden oftmals gar nicht laut gestellt - bis heute kann ich diese Frage nicht nachvollziehen - wer ist denn Betroffener, wer ist denn mit der Behinderung geboren? Die Eltern, die Großeltern oder das Kind? Um wen geht es denn eigentlich?
    Natürlich gibt es etliche, die anders denken, aber die scheinen keine Bücher zu schreiben, zumindest soweit ich bisher gesehen habe - sollte Kenzaburō Ōe tatsächlich so ein Buch hingekriegt haben? Ich werde jedenfalls weiterhin lesen, was Du schreibst.

    » Unexpected intrusions of beauty. This is what life is. «


    Saul Bellow, (1915-2005 ), U.S. author,
    in Herzog

  • @Hypocritia: Das sind wahre Worte. Es gibt Menschen, denen wird anscheinend - und dabei befinden wir uns doch scheinbar, verglichen mit früheren Jahrhunderten, in einer Zeit großer Humanität, der Hinwendung zum Menschen und seinen komplexen Lebenswelten - schlichtweg kein mediales Eigenleben zugestanden: Kinder und behinderte Menschen dürfen nur Teil der erwachsenen Welt bzw. der Welt "der Normalen" sein - Kinder als unfertiger Teil der Familie oder als Problemfälle sowohl der Schulpolitik, als auch der Jugendrichter, und behinderte Menschen entweder als lokalpolitisches Problem (irgendwo fehlt ein barrierefreier Zugang) oder als Träger einer Erfolgsgeschichte (wenn man an sich glaubt, kann man alles schaffen, Behinderung weggemeistert, danke, die "Normalen" können aufatmen).


    "Eine persönliche Erfahrung" behandelt tatsächlich nur die Nervenwelt des unangenehmen Vater-Verweigerers. Viele Seiten fehlen nicht mehr zum Ende. Spätestens seit dem Erscheinen seiner Ehefrau werden die Anschuldigungen gegenüber seiner Lebenseinstellung und seinem Verhalten immer deutlicher von anderen Romanfiguren an ihn herangetragen. Wie eine auf alle Personen verteilte Strafverlesung oder Schuldigenvernehmung vor Gericht. Was mir zuerst etwas forciert klang, entfaltet inzwischen einen ziemlichen Sog: Das Scherbengericht tobt und prasselt mit einer höllischen Dichte auf die Hauptfigur ein. Wie es eine eben auf- und wieder abgetauchte Ex-Kommilitonin und On-and-Off-Geliebte seiner Exfreundin schon andeutete: Birds Unentschiedenheit ist Selbstbetrug und Sackgasse zugleich. Er hätte entweder vollkommener Schurke oder vollkommen tugendhafter Mensch werden müssen.

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  • "Eine persönliche Erfahrung" behandelt tatsächlich nur die Nervenwelt des unangenehmen Vater-Verweigerers.


    Das klingt an sich nach einem guten Thema für einen Roman, und Du scheinst ja auch ziemlich angetan zu sein. Dass die Konfrontation mit dem eigen Ich des Protagonisten eines auslösenden Momentes bedarf, und dieses Moment die Geburt seines behinderten Sohnes ist, halte ich nicht weiter für verwerflich. Ich nehme das Buch mal auf die WL - es könnte mir zusagen, denke ich mal.
    In Julian Barnes Das Ende einer Geschichte liegt ein ähnliches Moment vor, auch wenn es hier um eine völlig andere Geschichte geht, eher die Konfrontation mit der zweifelhaften Verlässlichkeit der eigenen Erinnerung. Dies nur als Beispiel dafür, dass nicht jede Erwähnung von behinderten Menschen insensibel verarbeitet sein muss, auch wenn sie nicht zum zentralen Thema einer Erzählung gemacht wird.


    OT: ich möchte mal ein positives Beispiel für das Leben behinderter Menschen als zentrales Thema in einem Film erwähnen, noch dazu ein Film mit sehr viel Komik darin, und seltsamerweise auch noch von den Machern der Bridget-Jones-Filme :shock: :http://www.amazon.de/Inside-Im…ords=inside+I%27m+dancingInside I'm Dancing (auch unter dem Titel Rory O'Shea was here veröffentlicht) mit James McAvoy, Steven Robertson und Romola Garai. :thumleft:

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  • Das Buch ist ausgelesen. Und ich bin gar nicht mehr so sicher, ob ich noch so angetan bin. Etwa 30 Seiten vor Schluss nimmt die Handlung eine lächerliche Wendung, nach der sich Bird und seine latent neurotische Affäre Himiko auf eine derart übertriebene Weise aufführen, dass mir diese Charaktere leider nur noch peinlich sind. Das Gnadenlose bleibt nur noch auf einer rein narrativen Ebene bestehen, führt aber bei mir zu keiner Annäherung, nur noch zu Ablehnung. Ist reine konsequente Erzählung, ein Ausreizen. Das Umdenken der Hauptfigur gipfelt in einigen sehr "problematischen" Sätzen, dessen erster sechs Seiten vor Schluss lautet:

    Zitat

    "Ich mache Schluss mit dem dauernden Davonlaufen."


    Der "Höhepunkt" aber lauert in diesem Dialog zwischen Birds Liebhaberin Himiko und Bird:

    Zitat

    "Nehmen wir einmal an, Bird, es kommt zur Operation und das Kind bleibt am Leben, was ist dann? Hat man nicht gesagt, zu mehr als einer pflanzenhaften Existenz wird es nicht ausreichen? Das heißt doch, dass du, von deinem eigenen Unglück abgesehen, eine für die Welt absolut sinnlose Existenz am Leben erhältst. Meinst du, Bird, das wäre zum Besten des Kindes?"


    "Es wäre zu meinem eigenen Besten. Damit ich endlich aufhöre, nur immer auf der Flucht zu sein", sagte Bird.

    Mich stört nicht, dass Himiko von "für die Welt sinnloser Existenz" spricht, sondern dass Birds Umdenken nur aus Eigennutz geschieht, sich selbst geschuldet ist.


    Hallo?!?!


    Dabei hat ein Bekannter Birds (der sich momentan wegen der Liebe weigert, in seine Balkan-Heimat, einen Staat des Warschauer Paktes, zurückkehren) einige Dutzend Seiten zuvor ("als noch alles in Ordnung war") ein stimmiges Kafka-Zitat angebracht:

    Zitat

    "Kafka hat einmal in einem Brief an seinen Vater geschrieben, alles, was Eltern einem Kind gegenüber tun könnten, sei lediglich, das ankommende Kind zu begrüßen. Und Sie weisen das Kind zurück, statt es zu begrüßen? Kann denn der Egoismus entschuldigt werden, der ein anderes Leben zurückweist, indem er sagt: ich bin der Vater -?"

    Am Ende des Romans wird nichts wirklich begrüßt, Bildungsroman gescheitert, wahre Erkenntnis versagt. Und zu allem plakativen Elend will sich Bird im letzten Absatz einen neuen Spitznamen für sich überlegen - und schaut in einem Wörterbuch des Balkanlandes, aus dem sein verliebter Ostblock-Bekannter stammt, das Wort für "Geduld" nach ...


    Ich bin sehr im Unklaren, was die Entwicklung auf den letzten zirka 30 Seiten des Romans für einen Einfluss auf meine Gesamteinschätzung nimmt. Keinen allzu guten, fürchte ich!

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  • Meine Lektüre liegt viele Jahre zurück, ein direktes Eingehen auf diesen oder jenen Aspekt wage ich nicht (mehr). Für mich bleibt wohl die Frage: Muss ich zustimmend den Kopf nicken, damit dies nun ein "guter" Roman wird? Hätte Oë etwa das intentionniert, hätte er es wohl anders angestellt. Die Peinlichkeit oder Scham, die mancher Leser empfindet (bis hin zur Ablehnung) könnte vielleicht eine ganz gute Reaktion sein?


    Es kam die Frage der Ich-Beziehung, bzw der Nabelschau des "Protagonisten" auf. Und andererseits die nahezu empörende (und ja auch richtige) Feststellung, dass wir das unveräußerliche Recht des Anderen zu respektieren hätten. Total einverstanden. Doch wie sieht es denn aus? Hat etwa der Behinerte (in Anführungszeichen) ein Problem mit uns, oder sind nicht eben "wir sogenannten Normalen", denen es nicht gelingt, uns da zurückzunehmen? Ich dachte an einen Erfahrungsbericht eines katalonischen Ehepaares mit einem stark behinderten Kind: "Lange Zeit haben wir uns gefragt, warum es denn UNS getroffen hat. Anstatt zu sehen, dass es DICH getroffen hat." Doch das ist ja ein weiter Weg. Und sicherlich stehen für uns alle möglichen Egoismen ganz vorne an. Das kann man bedauern. Ich tue es auch. Doch es ist irgendwie ehrlich. Und realistisch in vielen Situationen. Man schaue sich einfach mal gewisse heutige Zahlen an, angefangen von Abtreibungen von Trägern von Erbkrankheiten etc... Wer das von sich abweisen kann, den beglückwünsche ich von Herzen.


    Diese Bemerkungen verstehen sich als recht subjektive Lesevorschläge, und wollen keinem etwas aufdrängen.

  • Die Peinlichkeit oder Scham, die mancher Leser empfindet (bis hin zur Ablehnung) könnte vielleicht eine ganz gute Reaktion sein?

    Peinlichkeit ist doch ein ganz wunderbarer Katalysator, um zu Erkenntnissen zu gelangen. Ein peinlich, pingelig genaues Durchdringen aufgestellter Schutzwände, hinter denen die tiefen Probleme versteckt liegen (auf Seiten der Romanfiguren und auf Leserseite). Und Erkenntnisse sowie anregende Szenen, Gedanken und Zitate liegen in diesem Roman tatsächlich allerorten verstreut herum, auf dass sie der Leser zu seiner eigenen Lesart zusammenbaue. Doch die vordringlich angebotene Lesart, wie der Roman seine Hauptfigur Bird in ein glückliches Ende lotst, macht mir Bauchschmerzen. Und es ist kein aufgesetztes Happy End, dessen Fadenscheinigkeit so übertrieben wird, dass die hohle Fassade durchschimmern soll. Zurück bleibe ich leicht wütend darüber, wie Dinge aufgebauscht werden, um dann mit kleinem Erkenntnisgewinn auf Seiten der Figuren in sich zusammenfallen. Es wäre schön (und ein doppeltes Bekenntnis), wenn nicht nur der Leser sich vielschichtige Gedanken macht, sondern auch die Hauptfigur. (Es wäre vielleicht sehr pathetisch, doch, hey, sich einen Spitznamen aus dem Wörterbuch aussuchen, entbehrt auch nicht eines gewissen Pathos!) Jedenfalls ist die Erkenntnis "Ich will nicht mehr davonlaufen" eine sehr hohle Erkenntnis. Weswegen will er denn nicht? Weil er etwas faul und behäbig wird? Weil "man es einfach nicht mehr macht", wenn man in ein gewisses Alter kommt?!


    Zu fragen, was wäre, wenn dieses oder jenes anders gestaltet worden wäre, finde ich zwar oft (in Literatur und Historie) einigermaßen sinnlos - sollte man sich doch lieber damit beschäftigen, was angeboten wird, für den Sinn muss man zu guten Teilen schon selber sorgen -, doch frage ich mich in diesem Fall dann doch, inwieweit die Behinderung des Säuglings als Antrieb für die tatsächlichen und psychischen Geschehnisse rund um seine Geburt überhaupt von Belang ist - außer, dass sie die fast lächerliche Zuspitzung zum Ende hin erzähltechnisch vereinfacht? Birds Probleme mit der Vaterrolle, die Einschränkung seiner persönlichen Freiheit und das mangelnde Einstehen für seine Familie, ließen sich mit der Geburt eines "normalen" Kindes ebensogut erzählen. Wenn die Behinderung des Säuglings nur zu einem narrativen Clou gebraucht wird, keine inhaltliche Stärke entfalten kann, finde ich das schade und etwas hohl.

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