Klappentext:
Sie erreichen London um 16.50 Uhr an der Paddington Station. Der fast 70jährige Leonard Vernim und seine amerikanische Lebensgefährtin Maud. Leonard ist schwerkrank – und Maud ist besorgt. Und zwar mehr, als es die Lage sowieso schon erfordern würde. Irgendetwas Geheimnisvolles geht vor sich, irgendetwas verschweigt ihr Leonard. Ein großes, wahrscheinlich letztes Geburtstagsfest hat er geplant. Auch ihre beiden Kinder aus erster Ehe sind eingeladen – die neurotische Irina, der ständig an Geldmangel leidende Gregorius. Sowie zwei mysteriöse Gäste, deren Namen sie nicht kennt. Gleichzeitig geht ein Serienmörder in der Stadt um – es braut sich etwas zusammen unter dem Himmel von London. (von der Verlagsseite kopiert)
Zum Autor:
Håkan Nesser wurde am 21.02.50 in Kumla geboren, Abitur 1968, ab 1969 geisteswissenschaftliches Studium (Englisch, Literaturgeschichte, Nordische Sprachen, Geschichte und Philosophie) in Uppsala, danach Lehramtsstudium in den Fächern Schwedisch und Englisch, Abschluss 1974. Arbeitete bis 1998 als Lehrer, zuerst in Märsta, danach in Uppsala. Seither freier Autor. Håkan Nesser lebt mit seiner (zweiten) Frau Elke in London und auf Gotland. Håkan Nesser debütierte 1988 mit einem existentiellen Liebesroman „Der Choreograf“ (nicht auf Deutsch erschienen), der zwar von der Presse positiv aufgenommen wurde, aber keinen Verkaufserfolg erzielte. Fünf Jahre später, 1993, publizierte er seinen ersten Kriminalroman „Das grobmaschige Netz“, für den er den Preis für das beste Genredebüt von der Svenska Deckarakademin, der Schwedischen Akademie für Kriminalliteratur, erhielt. „Das grobmaschige Netz“ ist der erste von zehn Romanen, in denen Kommissar Van Veeteren und seine Kollegen in der fiktiven Stadt Maardam ermitteln. Diese Serie ist in Schweden wie auch im Ausland überaus erfolgreich, sie erscheint in 15 Ländern, allein in Deutschland wurden bislang insgesamt 5,3 Millionen Exemplare verkauft. Nessers Kindheit auf dem Land (er wuchs auf einem Bauernhof, dem Elvesta gård, auf) in den sechziger Jahren inspirierte ihn zu zwei Büchern: „Kim Novak badete nie im See Genezareth“ (1998, dt. 2003) und „Piccadilly Circus liegt nicht in Kumla“ (2002, dt. 2004). Nach dem Abschluss der Van Veeteren-Reihe schrieb Håkan Nesser eine weitere hochgelobten Serie um Inspektor Gunnar Barbarotti. Es sind vier Bände auf Deutsch erschienen, zuletzt 2011 „Die Einsamen“.
Allgemeine Informationen:
Originaltitel: Himmel över London
Erstmals erschienen 2011 bei Albert Bonniers, Stockholm
Aus dem Schwedischen übersetzt von Christel Hildebrandt
Gegliedert in 6 Teile mit insgesamt 72 Kapiteln
572 Seiten
Erzählt aus wechselnden Perspektiven, meist personal, aber auch Ich-Erzählung von Leonard und Maud. Auf der Innenseite des Deckels und des Rückens findet sich ein Londoner Stadtplan mit einigen durch Nummern hervorgehobenen Orten.
Inhalt:
Leonard wird seinen letzten Geburtstag, den 70., in London feiern, der Stadt, in der er als junger Erwachsener lebte. Was er konkret plant, erfährt niemand, nicht einmal seine Lebensgefährtin Maud. Seine Gäste hatte er vor einiger Zeit bereits eingeladen, nicht alle scheinen den Gastgeber zu kennen. Er quartiert seine Gäste in vornehmen Londoner Hotels ein. Details der Feier sollen sie zu gegebener Zeit erhalten. Alle Eingeladenen treffen in London ein, jeden umgibt sein Geheimnis, das offenbar mit dieser Stadt zu tun hat.
Eigene Meinung / Bewertung:
Nesser gehörte noch nie zu den Autoren, die schnell zum Punkt kommen. Schon die Barbarotti-Krimis begannen zumeist mit einer längeren Vorgeschichte und breitem Vorgeplänkel, ehe der Kommissar in die Ermittlungsarbeit einstieg.
So auch hier wieder: Für die Einführung der Figuren nimmt Nesser sich viel Zeit, widmet jeder einzelnen ihr eigenes Kapitel. Leonard unterbricht den Vorstellungsreigen mit seinen Erinnerungen aus einem gelben Notizbuch, in deren Mittelpunkt seine große Liebe, die Tschechin Carla steht, die ihn in geheimnisvolle und gefährliche Machenschaften verwickelt, vermutlich Spionage. Vom Prager Frühling ist die Rede, ohne dass man erfährt, was im Einzelnen vor sich geht. Parallel dazu lernt man die Gäste der Geburtstagsfeier kennen, Leonards Stief“kinder“: Irina, verfolgt von Ängsten und Waschzwang, Gregorius, der vor sich hinlebt und auf die Millionen aus Leonards Erbe wartet. Und einen Unbekannten, Milos, dessen Identität lange ein Rätsel bleibt, und der Leonard anscheinend nicht kennt. Alle nehmen die Einladung an und reisen nach London. Alle haben ein Vorleben, sind geprägt von ihrer Lebensgeschichte und verschiedenen Menschen. Man findet sich also in einem beinahe unüberschaubaren Personenkreis wieder und grübelt bisweilen, wer denn jetzt in wessen Leben gehört. Die Handlung springt zwischen den verschiedenen Personen, zwischen ihrer Gegenwart und ihren Erinnerungen umher und lässt sie mit Gedanken, Grübeleien und Emotionen zu Wort kommen, denen mehr Platz eingeräumt wird als den äußeren Ereignissen.
Vollends verwirrend wird die Geschichte, als eine neue Figur auftaucht, Lars Gustav Selén, für den man keinen Platz in Leonards Gefolge findet, auch er liebt eine Frau namens Carla, und er schreibt zur Zeit ein Buch, in dem er seine Erinnerungen mit der Wirklichkeit zu verquicken scheint. Jedes Mal, wenn man als Leser glaubt, einen Puzzlestein entdeckt und ihm seinen Platz zugewiesen zu haben, fegt die nächste Szene das ganze Bild zusammen, und man bleibt verständnislos zurück.
Gleichzeitig und nebeneinander entwickeln sich nun die letzten Vorbereitungen von Leonards Feier und Lars Gustavs Recherchen zu seinem Buch, das in London spielt, und man fühlt sich endlich mitten im Geschehen.
Erst die Pointe – kein Überraschungseffekt, sondern eine Wendung, zu der der Leser hingeführt wird – offenbart Nesser Vorgehen: Er arbeitet auf verschiedenen Ebenen mit Fiktion und Wirklichkeit, er setzt die Metaebene auf dieselbe Stufe wie die Tatsachenebene und inszeniert eine real unmögliche Durchlässigkeit.
Auch wenn er hiermit großes Können beweist, kann die Pointe nicht darüber hinwegtrösten, dass sich längere Passagen nur mühsam lesen lassen, weil sie fast ausschließlich aus Reflexionen der Figuren bestehen, die zum Teil für den Fortgang uninteressant sind oder den Handlungsfluss lähmen.
Auch wenn dem Serienmörder am Ende eine entscheidende Funktion zukommt: Von den Ermittlungen gegen ihn oder seiner Entlarvung erzählt das Buch nichts.
Fazit:
Ein hochkomplexer, am Ende genial durchdachter Roman mit zu vielen langatmigen Passagen, der konzentriertes, geduldiges Lesen verlangt.