"Von allen meinen Erinnerungen, von all den unzähligen Empfindungen meines Lebens war die bedrückendste die Erinnerung an den einzigen Mord, den ich begangen habe“, so beginnt der exilrussische Autor Gaito Gasdanow seinen schon 1948 veröffentlichten, aber erst jetzt erstmals auf Deutsch erschienenen Roman „Das Phantom des Alexander Wolf“.
Schauplatz ist ein Wäldchen im südlichen Kaukasus zur Zeit des russischen Bürgerkrieges. Der 16-jährige Erzähler irrt umher, hungrig, durstig und unendlich müde nach drei durchwachten Nächten, es ist der heißeste Tag des Jahres, als ihm plötzlich das Pferd unter dem Sattel weggeschossen wird. Er stürzt, rappelt sich auf und noch ehe der näherreitende Schütze auf ihn anlegen kann, gelingt es ihm geistesgegenwärtig, diesen mit zwei gezielten Schüssen aus seiner Pistole niederzustrecken. Nur einer von beiden kann diese zufällige Begegnung im Wald überleben - zum Schluß beugt sich der erfolgreiche Schütze noch einmal über den Sterbenden, blickt in dessen brechende Augen, und reitet schließlich auf seinem Pferd davon.
Kein Gericht der Welt würde den 16-jährigen Schützen verurteilen können und wollen, schließlich gibt es keine Zeugen, es ist Bürgerkrieg und der Davongekommene handelte in Notwehr. Doch der innere Friede ist fortan dahin, denn der Erzähler weiß nun, daß er die Fähigkeit zu morden in sich trägt und sie im Falle des Falles abrufen kann – ohne zu zögern und ohne mit der Hand zu zittern. Dieses Wissen und die Erinnerung an die schicksalhafte Begegnung im Wald bestimmen für viele Jahre die Existenz unseres Erzählers, den wir nach dem Kriege im Exil in Paris wiederfinden und dem eine tief empfundene Reue es unmöglich macht, sich beruflich und im Privaten fest einzurichten und seinen Lebensentwurf selbstbestimmt zu verfolgen.
Eines Tages jedoch fällt ihm ein schmales Büchlein mit Erzählungen eines Autors mit dem Namen „Alexander Wolf“ in die Hand und in einer der Erzählungen findet er die lange zurückliegende Episode im Kaukasus in allen Details noch einmal geschildert – diesmal jedoch aus der Sicht des vermeintlichen Opfers. So muß unser Erzähler feststellen, daß die vergangenen Jahre der Selbstbezichtigung auf einem Trugschluß, einem Mißverständnis beruhten und macht sich, zur Aussprache bereit, auf die Suche nach Alexander Wolf. Im Milieu der Exilrussen in Paris begegnet er dabei einem Vaterfreund Alexander Wolfs, demjenigen Weggefährten, der ihn einst angeschossen und halbtot im Wald auflas, wegbrachte und gesundpflegte; und er trifft auf Jelena, ebenfalls eine Exilrussin und ebenfalls einst mit Alexander Wolf über eine Liebesbeziehung verbunden, aus der sie jedoch versehrt und im letzten Moment entkommen konnte. Eng sind die Lebensgeschichten und Schicksale der beiden Schützen aus dem russischen Bürgerkrieg miteinander verwoben, ohne daß sich beide zunächst begegnen.
Als der Erzähler seinem Phantom dann schließlich doch leibhaftig gegenübersteht, wird klar, daß die lang zurückliegende Begegnung im Wald auch das Leben des Alexander Wolf in eine andere Bahn gelenkt hat, denn dieser, dem Tode nur knapp entkommen, fürchtet fortan weder Schicksalsschläge noch Konsequenzen, geht als Zyniker durchs Leben und hinterläßt versehrte Biographien und menschliche Tragödien.
Gasdanows Thema ist die schicksalhafte Wendung, die eine Tat, welche das Leben aller Beteiligten ändert und in neue Richtungen lenkt, ohne daß die Betroffenen Einfluß nehmen oder ihr Leben selbstbestimmt ändern können. Unweigerlich drängt sich die Frage auf, wie das Leben der Personen wohl verlaufen wäre, hätte die Begegnung im südkaukasischen Wald damals einen anderen Ausgang genommen, letztlich sind jedoch alle Beteiligten so tief in Schuld, Reue, Trotz und Versehrtheit verstrickt, daß sie ihren vorgezeichneten Weg nicht mehr verlassen können.
Es ist wohl das Verdienst des Hanser Verlages und der Übersetzerin Rosemarie Tietze, das dieser großartige Autor nun auch in der deutschen Übersetzung dem Leser zugänglich gemacht wird. 9 Romane und über 50 Erzählungen soll das Werk des Gaito Gasdanow beinhalten und wir dürfen uns hoffentlich auf weitere Übersetzungen freuen.
Mein Fazit: Trotz einiger doch sehr gewollter und konstruierter Zufälle und Begegnungen der Personen untereinander eine beeindruckende Lektüre, welche noch einige Tage nachwirkt und den Leser nachdenklich über die Grundbedingungen seiner Existenz zurückläßt.