Wolfgang Koeppen - Tauben im Gras

  • Klappentext


    Inhalt
    Tauben im Gras (1951) ist der erste Roman jener "Trilogie des Scheiterns", mit der Koeppen eine erste kritische Bestandsaufnahme der sich formierenden Bundesrepublik gab. Mit Vehemenz und unerbittlicher Schaerfe analysiert Koeppen die Rueckstaende jener Ideologien und Verhaltensweisen, die zu Faschismus und Krieg gefuehrt haben und die schliesslich in den fuenfziger Jahren die Restauration der ueberkommenen Verhaeltnisse protegierten. Dabei ist das Verhaeltnis von Tauben im Gras ein kaleidoskopartiges: der ganze Roman schildert Gestalten und Vorgaenge eines einzigen Tages in Muenchen des Jahres 1949. Mit einer Fuelle genauer atmosphaerischer Details zeichnet Koeppen den Nachkriegsalltag dieser Stadt, die sein Protagonist, der verhinderte Schriftsteller Philipp, wie ein Schlachtfeld erlebt, wie ein undurchdringliches "Pandaemonium".


    Autor
    Wolfgang Koeppen, geboren am 23. Juni 1906 in Greifswald (Pommern), wurde 1962 mit dem Georg-Buechner-Preis ausgezeichnet. Bekannt wurde Wolfgang Koeppen durch die Romane Eine unglueckliche Liebe, 1934, Die Mauer schwankt, 1935, und die nach dem Kriegsende erschienenen Romane Tauben im Gras, 1951, Das Treibhaus, 1953, Der Tod in Rom, 1954. Die darauf folgenden Arbeiten sind Reiseberichte und Essays: Nach Russland und anderswohin, 1958; Amerikafahrt, 1959; Reisen nach Frankreich, 1961. Der Prosa-Band Jugend erschien 1976. Aufsaetze: Die elenden Skribenten, 1981. Koeppen starb am 15. Maerz 1996 in Muenchen.


    Meine Meinung
    In Koeppens Roman herrscht vier Jahre nach dem Krieg keine Aufbruch -, sondern Endzeitstimmung. Die gut zwanzig Personen, deren Tageslauf er verfolgt, kommen mit dem Leben nicht zurecht. Ohne Zukunftsperspektive, fast wie betaeubt, irren sie durch den Tag und durch eine graue, wie eine Truemmerlandschaft erscheinende Stadt.
    Carla ist verzweifelt, weil sie ein Mischlingskind erwartet, der Schauspieler Alexander ist muede der seichten Rollen, die er spielen muss, um das Publikum den Krieg vergessen zu lassen, muede auch der allabendlichen Orgien, die seine Frau Messalina veranstaltet, Emilia, eine reiche Erbin, deren Erbe nichts mehr wert ist, hadert mit der Ungerechtigkeit des Schicksals, Susanne verdient sich ein paar Dollar als Gelegenheitsprostituierte, ehemalige NS-Pimpfe bieten sich im Schwulenmilieu an, der Psychater Behude muss Blut spenden, um ueber die Runden zu kommen.


    Unfaehig, einander beizustehen, unfaehig, sich selbst zu helfen, ist ihr Leben bestimmt von Ueberlebenskampf, Gier und Angst. Sie sind "Tauben im Gras", sinnlose, zufaellige Existenzen, jedem Schicksal hilflos ausgeliefert, frei von Gott "im Nichts flatternd".
    Nur mit sich selbst und ihrem Unglueck beschaeftigt sind sie erst recht nicht in der Lage, sich mit der Vergangenheit und ihrer Schuld auseinanderzusetzen. Im Gegenteil: In den Bierschaenken wird weiterhin nach Klaengen des Badenweiler Marsches - des Lieblingsmarsches Hitlers - geschunkelt, die Amerikaner sieht man weniger als Befreier denn als Besatzer, die nur aufgrund ihrer Materialueberlegenheit den Sieg davongetragen haetten und nach wie vor herrscht dumpfer, schnell in Gewalt ausartender Rassenhass, der sich jetzt gegen die "Neger" richtet.


    Wie soll angesichts der kruden Wirklichkeit die Literatur beschaffen sein? Der junge Schriftsteller Philipp hat eine Schreibblockade, er weiss nicht, wie er den Menschen Trost spenden, welchen Sinn er ihnen aufzeigen kann. Der beruehmte amerikanische Schriftsteller Edwin, der zu einem Vortrag nach Muenchen gekommen ist, spricht ueber die Kunst, als ob es den Holocaust nie gegeben haette, betont ihre sakrale, verbindende Funktion und preist Europa als Wiege der Toleranzidee. Aber er erreicht seine Zuhoerer nicht, ihre Lebenswirklichkeit sieht anders aus, sie fuehlen sich auf der Erde nicht mehr zu Hause.


    Auch wenn das Buch eine trost- und hoffnungslose Welt schildert, habe ich es doch mit grossem Genuss gelesen. Koeppen beherrscht seine kuenstlerischen Mittel souveraen. Der ironische Schreibstil, die ungewoehnlichen Bilder und die Anspielungen auf die Antike machen die Lektuere abwechslungsreich und interessant. Substantivreihungen, die an Joyce geschulte Verwendung des Bewusstseinsstroms und die Unterteilung der Handlung statt in Kapitel in viele kleine Abschnitte beschreiben die deprimierende Wirklichkeit, die Angst und Verzweiflung der Protagonisten und die allgemeine Orientierungslosigkeit.


    Die Nachkriegszeit ist uns heute schon sehr fern. Selbst diejenigen, die sie noch erlebt haben, scheinen sie ueber dem Wirtschaftswunder und den Wohlstandsjahren schon vergessen zu haben. Ich habe frueher die deutsche Literatur nach 1945 oft als trocken und langweilig empfunden. Heute sehe ich sie - besonders auch unter dem kuenstlerischen Aspekt - mit anderen Augen.


    Ich kann den sicher nicht ganz leicht zu lesenden Roman nur nachdruecklich empfehlen!

    :study: Zsuzsa Bánk - Die hellen Tage

    :study: Claire Keegan - Liebe im hohen Gras. Erzählungen

    :study: David Abulafia - Das Mittelmeer
















    Einmal editiert, zuletzt von mofre ()

  • Danke, Mofre, dass Du Dich der Rezension angenommen hast und diese so ausführlich verfasst hast. Schon während der Leserunde hatte ich das Gefühl, dass du eindeutig mehr Zugang zu diesem Buch hast.


    Ich kam weniger gut zurecht.
    Sprachlich eine Herausforderung, auch der Aufbau dieses Buches ist genial. Viele Personen, die anfangs völlig unabhängig voneinander agieren, werden mit Fortschreiten des Buches miteinander vernetzt und verwebt.
    Was mich eigentlich am meisten störte, ist diese enorm pessimistische Stimmung, die dieses Buch vermittelt. Alles Schutt und Asche, kein Funke von Hoffnung, totaler Verfall der Moral, Scheinheiligkeit und Trostlosigkeit bestimmen das Buch.


    Mich hat das Buch aus den oben geannten Gründen weniger angesprochen und als gnadenloser Optimist sehe ich eigentlich darin auch keinen wirklichen Beitrag zur "Vergangenheitsbewältigung" (aber das ist meine ganz persönliche, laienhafte Meinung)

    Herzliche Grüße
    Rosalita


    :study:
    Wenn das Schlachten vorbei ist - T.C. Boyle


    *Life is what happens to you while you are busy making other plans* (Henry Miller)

  • Ich empfand das Buch ehrlich gesagt nicht als bedrückend und niederschmetternd. Mehr als Schilderung der Realität - eben so, wie es nun eben ist. Wenn sich die äußere Lage ändert, dann ändert sich eben noch nicht die Einstellung und die persönliche Sicht der Dinge, die Wünsche ans Leben u.ä. In dem Buch zeigt sich m.E. dass der Krieg und die faschistische Diktatur nicht nur ökonomisch und wirtschaftlich und nicht nur physisch verheerend war - sondern auch verheerend für die Psyche der Menschen.
    Diese Verheerung, so zeigt m.E. das Buch, wurde nicht aufgearbeitet und die Psyche nicht wieder aufgebaut - man macht lieber so weiter wie bisher, jeder für sich im Kleinen und ohne jegliches Bewußtsein für die Tragik des Krieges. Eben das zeigt sich auch - der Krieg allein hat bei so manchem das Bewußtsein nicht verändert.
    Um das zu tun und das zu ändern braucht es eben (Erziehungs-)Arbeit. Und viele Kneipen in denen jeder erwünscht ist. Wie es ja einer derjenigen als Ziel hat, der für mich fast wie ein Leuchtturm der Hoffnung aus dem Meer der fortgesetzten Normalität heraussticht. Und so eigentlich das Buch für mich zu einem durchaus nicht hoffnungs- und trostlosen machen.
    Es sagt mir: Es sind düstere Zeiten momentan, wenn wir unsere Träume leben, dann können wir sie ändern.

    Warum ich Welt und Menschheit nicht verfluche?
    - Weil ich den Menschen spüre, den ich suche.

    - Erich Mühsam

    Einmal editiert, zuletzt von musikzimmer ()

  • Im ersten Teil der so genannten ‚Trilogie des Scheiterns’ wird ein Bild geschossen, über den Zustand des Landes kurz nach dem 2. Weltkrieg. Koeppen lässt dazu eine handvoll unterschiedlicher Menschen interagieren, zeichnet deren Gedanken nach, den Alltag eines einzigen Tages in einer deutschen Großstadt.


    Wenn wir diesen Figuren folgen, sehen wir wenig von Vergangenheitsbewältigung, Hoffnung und Aufschwung. Der Krieg ist gewichen, doch die Angst und Unsicherheit ist geblieben. Ruinen allerorts, einige Geschäfte und Lokale notdürftig wieder hochgezogen, gefüllt mit Menschen ohne Zukunftsperspektive. Der Kalte Krieg wirft schon seine Schatten voraus.


    „Edwin sah in dieser Stadt ein Schauspiel und ein Beispiel, sie hing, hing am Abgrund, war in der Schwebe, hielt sich in gefährlicher mühsamer Balance, sie konnte ins Neue und Unbekannte schwanken, konnte der überlieferten Kultur treu bleiben, doch auch in vielleicht nur vorübergehende Kulturlosigkeit absinken, vielleicht als Stadt überhaupt verschwinden, …“


    Sie suchen Ablenkung, wollen dieser lebensunwürdigen Realität nicht in die Augen sehen. Und genau dort setzt Koeppen an. Er beklagt die Ignoranz, das Überlebenselixier der Bevölkerung. Sie übernehmen die Propaganda-Parolen des Führers, manche wünschen ihn sich gar zurück, Kinder spielen Krieg zwischen den Trümmern, Juden sind durch Schwarze ersetzt worden, die nun unerwünscht sind, amerikanische Soldaten werden als Belagerer statt Retter angesehen. Die Gewaltbereitschaft ist ständig präsent, dient als Ventil aufgestauter Wut. Wut über die ihnen zugeführte Ungerechtigkeit, ob nun die Erbin, deren Vermögen plötzlich an Wert verloren hat, oder die Mutter einer Frau, die von einem schwarzen Soldaten ein Kind erwartet und Schande befürchtet, weil der Ariernachweis in deren Stammbaum bisher lückenlos gewesen ist.


    Koeppen platziert einen Reisebus in seiner Stadt, der mit amerikanischen Lehrerinnen gefüllt ist. Amerikanerinnen auf Studienreise, die das klischeebehaftete Bild des deutschen Reiches bestätigt sehen wollen. Dichter, die unter Eichen spazieren und über das Leben sinnieren, eine romantische Vorstellung in ihrer Einbildung, die zwangsläufig in Enttäuschung enden wird. Koeppen will den Bürger wachrütteln, ihn dazu bewegen, sich aufzuraffen, seine Träume wieder aufzunehmen um dort weiter zu machen, wo sie vom Krieg unterbrochen wurden. Aber der Deutsche schläft, in einem Vortrag des fiktiven Schriftstellers Edwin fühlen sich die Zuhörer schlaff, hungrig, können sich nicht konzentrieren, hören nicht zu. Lieber träumen sie vom Amerika, dem pastellfarbenen Bilderbuchkontinent.


    „Das Fräulein wollte leben. Es wollte sein eigenes Leben. Es wollte nicht der Eltern Leben wiederholen. Das Leben der Eltern war nicht nachahmenswert. Die Eltern waren gescheitert. Sie waren arm. Sie waren unheiter, unglücklich, vergrämt. Sie saßen vergrämt in einer grämlichen Stube bei grämlich munterer Musik. Das Fräulein wollte ein anderes Leben, eine andere Freude, wenn es sein sollte, einen anderen Schmerz. Die amerikanischen Jungen waren dem Fräulein lieber als die deutschen Jungen. Die amerikanischen Jungen erinnerten das Fräulein nicht an das grämliche Zuhause. Sie erinnerten das Fräulein nicht an alles, was sie bis zum Überdruss kannte: die ewige Einschränkung, das ewige Nach-der-Decke-Strecken, die Wohnungsenge, die völkischen Ressentiments, das nationale Unbehagen, das moralische Missvergnügen. Um die amerikanischen Jungen war Luft, die Luft der weiten Welt, der Zauber der Ferne, aus der sie kamen, verschönte sie. Die amerikanischen Jungen waren freundlich, kindlich und unbeschwert. Sie waren nicht so mit Schicksal, Angst, Zweifel, Vergangenheit und Aussichtslosigkeit belastet wie die deutschen Jungen.“


    Der Roman besteht aus Fragmenten, aus Splittern. Die Perspektive wechselt in jedem Absatz, die Minute eines Tages wird aus mehreren Augenpaaren gleichzeitig betrachtet und beschrieben. Die Figuren selbst handeln unabhängig voneinander, begegnen sich zufällig an eine Kreuzung, ohne gegenseitig von einander Notiz zu nehmen. Ein bemerkenswerter Kunstgriff, wenn der Fokus vorher noch auf den Fußgänger gerichtet, plötzlich den vorbei fahrenden Radfahrer in den Mittelpunkt stellt und mit diesem weitermacht.


    „Die Lehrerinnen gingen über den großen Platz, eine von Hitler entworfene Anlage, die als Ehrenhain des Nationalsozialismus geplant war. Miss Wescott machte auf die Bedeutung des Platzes aufmerksam. Im Gras hockten Vögel. Miss Burnett dachte >wir verstehen nicht mehr als die Vögel von dem was die Wescott quatscht, die Vögel sind zufällig hier, wir sind zufällig hier, und vielleicht waren auch die Nazis nur zufällig hier, Hitler war ein Zufall, seine Politik war ein grausamer und dummer Zufall, vielleicht ist die Welt ein grausamer und dummer Zufall Gottes, keiner weiß warum wir hier sind, die Vögel werden wieder auffliegen und wir werden weitergehen …“


    An Koeppen gefällt mir sein prägnanter, treffender Wortschatz. Er benötigt keine seitenlange Beschreibung, um uns einen Zustand oder eine Figur näher zu bringen. Kraftvoll ist sein Wortschatz, seine Sätze gleichen einer Strömung, der man sich nicht entziehen kann.


    Der Aufbau ist außergewöhnlich, beeindruckend. Koeppen orientiert sich an einem modernen Erzählstil. Gedankenfetzen, einschlagende Blitze, die schonungslos offenbaren.
    Vorab wird um ein wenig Konzentration plädiert, die Absätze sind kurz, Gedanken reißen mittendrin ab, um zum nächsten Protagonisten zu wechseln. Eine Frage der Gewöhnung, sobald man die Figuren ein wenig näher 'Kennen gelernt' hat, ist es ein Leichtes, den Schritten Koeppens zu folgen.
    Es gehört somit zu den eindrücklichsten Büchern der Nachkriegszeit auf deutschem Boden. Auch sei gesagt, dass die Sätze mitunter sehr lang sind; es sind keine Schachtelsätze, vielmehr eine Folge von Überlegungen - ähnlich, wie man es von sich selber kennt, wenn ein Gedanke zum nächsten führt.


    Gruß,
    dumbler

  • Das ist wieder ein wirklich geniales Buch...
    Ich habe es gerade beendet und muss erstmal meine Gedanken sortieren...


    Koeppen beschreibt einen einzigen Tag aus der Sicht verschiedener Personen unetrschiedlichem Alters, Staatsangehörigkeit und mit jeweils verschiedenen Hintergründen. Er schafft es, dem Leser die Welt jeder dieser Personen zu vermitteln und zeigt die erschreckende Wirklichkeit der Nachrkriegszeit. Dabei gibt es eigentlich keine Handlung, die sich durch das gesamte Buch zieht, doch verknüpft Koeppen die Charaktere auf unterschiedliche Methoden.
    Besonders die Sprache und sein Schreibstil haben es mir angetan. Er verwendet viele Aufzählungen, zum Teil bestehen ganze Abschnitte aus reiner Aneinanderreihung verschiedener Begriffe, die jedoch zusammengehören. Auch die Verknüpfung verschiedener Absätze sind zum Teil genial.


    Ich hatte erst die Befürchtung, dass sich das Buch etwas in die Länge ziehen könnte, und dass ich mit diesem Schreibstil nicht ganz warm werden würde, doch das Gegenteil ist eingetreten und so konnte ich mich kaum fortreißen, um den Tag mit den verschiedenen Charakteren zu erleben.



    Liebe Grüße Marlene

  • Dieser 1956 erschienene Roman beschäftigt sich mit den Lebensumständen und dem Lebensgefühl der deutschen Bevölkerung kurz nach dem Zweiten Weltkrieg in den Anfängen der Besatzungszeit besonders im amerikanisch verwalteten München im Jahr 1949. Und auch mit den Gedanken und Gefühlen besonders einiger afroamerikanischer Soldaten, die in Europa in einer ganz anderen Situation sind als in ihrer US-Heimat. All dies wird komprimiert auf einen Erzählzeitraum von etwa 18 Stunden.

    Neben den bereits genannten Schwerpunktcharakteren gibt es noch den amerikanischen Schriftsteller Edwin, der auf einer Art Tournee in dem besiegten Land ist – auch um Eindrücke davon zu sammeln und eine Gruppe von Lehrerinnen, die das „Land der Dichter und Denker“ besuchen und dabei eigentlich nur sehr wenig von dem sehen, was zu dieser Zeit wirklich bemerkenswert erscheint.

    In mehreren Handlungssträngen finden wir einen erfolglosen deutschen Dichter und seine Geliebte, die mit ihrem ärmlichen Status sehr unzufrieden ist und darum nach Besuchen von Pfandleihen dem Alkohol kräftig zuspricht, wir treffen Washington Price, der als Schwarzer in einem kurz zuvor rassistisch regiertem Land eine weiße Geliebte findet, die ihrer beider Situation in dieser Beziehung wesentlich realistischer betrachtet als er selbst – auch weil sie schon einiges an Erfahrungen hinter sich gebracht hat.

    Mit diesen und anderen Figuren zeigt Koeppen, dass die Bevölkerung nach dem Kriegsende zum Teil in einer Art Betäubung verharrte, die aber beim richtigen Auslöser schnell wieder ins völkisch-rassische Denken umschlagen konnte, was unter anderem an einem Abend im Bräuhaus zu komisch-beängstigenden Szenen führt, wenn Altnazis und schwarze GIs auf Wirthausbänken stehend das Röslein im Walde besingen und den Fuchs, der die Gans gestohlen hat.

    Elend der Nachkriegszeit und die Entwürdigungen der Beschaffung von Lebensnotwendigen stehen neben dem Versuch neue Leben zu beginnen, sich umzuorientieren und irgendwie die Schrecken der letzten Jahre hinter sich zu lassen. All dies wird in wechselnden personalen Betrachtungen dargestellt, die oft in der Form eines Bewusstseinsstroms daher kommen und das Denken der Leserinnen und Leser durch eine sehr komplexe, anspielungsreiche Bildsprache herausfordert. Nicht gerade leichter Lesestoff – sowohl vom Inhalt, wie auch von der Sprache her, aber durchaus glaubhaft in der Darstellung des Denkens und Fühlens der Menschen der damaligen Zeit.

  • „Tauben im Gras“ ist ein Buch was ich wohl freiwillig nie in die Hand genommen hätte. Ich muss sagen, meine Begeisterung hielt sich in Grenzen als es hieß, dass wir für den Deutsch-LK dieses Buch lesen müssen, und sie zerplatzte gänzlich, nachdem ich die ersten drei Seiten gelesen hatte. Die ersten Seiten wirkten einfach unpersönlich, distanziert, langweilig. Doch meine Meinung änderte sich, als ich erkannte was Koeppen mit diesem Schreibstil erreichen wollte. Wohl kaum ein Schriftsteller mag es besser gelingen, die Stimmung der Nachkriegszeit authentischer rüberzubringen. Zwar ist beim Lesen eine hohe Konzentration gefordert, aber ich finde es lohnt sich, sich auf das Buch einzulassen. Jeder der Charaktere spiegelt einen Teil der vorherrschenden Angst, Zerstörung und Orientierungslosigkeit der Gesellschaft wieder. Besonders interessant finde ich Washington und Carla, die sowohl die Hoffnung auf einen Neuanfang leben, aber an deren Beziehung auch die Zerstörungen und die Nachwirkungen des NS-Regimes deutlich werden. Washington träumt von einem Neuanfang, der Eröffnung eines Lokals, in dem keiner ausgegrenzt wird. Er hat hofft auf eine Welt ohne Diskriminierung, obwohl gerade er als Afroamerikaner diese tagtäglich erlebt. Carla erwartet ein Kind von ihm, welches eine mögliche Verbindung hell- und dunkelhäutiger Menschen symbolisiert. Somit widersetz sich das Paar komplett den alten nationalsozialistischen Wertvorstellungen und zeigt die Möglichkeit eines Neuanfangs. Dennoch wird deutlich, dass die Gesellschaft noch nicht reif für einen solchen Neuanfang ist und auch bei dieser scheinbar glücklichen, kleinen Familie die Zerstörungen des Krieges präsent sind. Carla will das Kind abtreiben, zudem zeigt selbst sie rassistische Züge und hat Ängste vor der Beziehung mit einem „Schwarzen“. Schließlich werden auch Washington und Carla bei der Eskalation vor dem Negerclub von Steinen getroffen. Bedrückend, verwirrend, schockierend. Eine derartige Stimmung ist es, die das Buch vermittelt. Zum einen die Aussicht auf einen Neuanfang, zum anderen die tief greifenden, bedrückenden Nachwirkungen des Krieges. Man bekommt ein realistisches Bild gezeigt von einer Gesellschaft, zurückgelassen in dem Trümmerhaufen der Vergangenheit und nicht fähig zu einem Neubeginn.Das Buch hat mich doch stark beeindruckt und ich bin der Überzeugung, dass es sich bei Koeppens Werk nicht um einen Roman handelt, sondern um ein literarisches Kunstwerk. Kaum zu glauben, dass ich mal so über ein Buch denke, zu dem ich zum Lesen „gezwungen“ wurde. „Tauben im Gras“ war reflektierend betrachtet die schönste Lektüre, die der Deutsch-LK mir beschert hat und zu guter letzt hatte ich auch noch das Glück meine Abiklausur darüber, ja sogar über die Beziehung von Washington und Carla, schreiben zu dürfen. Danke Koeppen für dein „Tauben im Gras“, es hat mein Abitur erhellt ;)

  • Manchmal gibt es Bücher, die entpuppen sich als eine richtige Überraschung. Nicht, weil man ihnen nicht zutraut, dass sie großartig sein könnten, sondern weil man denkt, dass es nichts für einen selbst sein könnte. So fällt dieses Buch auch nicht in mein übliches Beuteschema. Vielleicht erweitert sich dieses aber nach dieser Lektüre, denn es war Liebe auf den ersten Blick.


    Ich habe wenige Bücher gelesen, die so wunderschön geschrieben waren wie Tauben im Gras. Hier nahm mich der Schreibstil von der ersten Seite an gefangen und ich war ständig versucht, das Buch zu verschlingen, weil es sich so unglaublich leicht lesen ließ. Das erwartet man gar nicht, wenn man es aufschlägt und die verschiedensten Stilmittel betrachtet, zu denen Koeppen gegriffen hat, um den Text gedankenähnlich wirken zu lassen. Und doch ging das Lesen ganz leicht von der Hand - so wie Gedanken unvermittelt auftauchen und einander rasend schnell abwechseln. Deshalb musste ich mich teilweise bremsen, um den Text auch wirklich aufzunehmen und auf mich wirken zu lassen.


    Dass so viele verschiedene Personen aufgetaucht sind, hat mir super gefallen. Man bekommt direkt das Gefühl, in einer Großstadt unterwegs zu sein, die ja viele Menschen beherbergt, sodass sich zunächst einmal ein Eindruck von Vielfalt einstellt. Nach und nach werden die Lebenswege jedoch miteinander verwoben, man bekommt immer tiefere Einblicke in die Gedanken und stellt fest, dass da Sichtweisen geteilt werden und eine allgemeine Niedergeschlagenheit und Ratlosigkeit herrscht. Die Menschen leben vor sich hin und haben selten Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Vielmehr lassen sie sich treiben, kaum jemand nimmt sein Leben aktiv in die Hand. Hier passt auch das Zitat "im Nichts flatternd" ganz gut. Richtig toll fand ich die immerfort auftauchenden Titel von Zeitungsartikeln, die diese Stimmung noch mal bekräftigt haben. Man kann sich als Leser gut in die Menschen hineinversetzen, die sich ziemlich machtlos vorkommen und wenig Chancen sehen, ihr Leben in eine bessere Richtung zu lenken.


    Koeppen hat die Stimmung wirklich meisterhaft eingefangen. Und ich kann das Buch jedem empfehlen, der an der Zeit und der Art, wie Menschen damals gedacht haben, interessiert ist.


    Eins meiner Lieblingszitate möchte ich hier noch unbedingt erwähnen, das habe ich auch an anderer Stelle im Forum schon mal getan.


    "Der Strom der Geschichte floß. Zuweilen trat der Strom über die Ufer. Er überschwemmte das Land mit Geschichte. Er ließ Ertrunkene zurück, er ließ den Schlamm zurück, die Düngung, das stinkende Mutterfeld, eine Fruchtbarkeitslauge: wo ist der Gärtner? wann wird die Frucht reif sein?" (S. 83f.)


    Fazit:
    Mich hat dieses Buch in seinen Bann gezogen und sich als ein echtes Highlight erwiesen. Natürlich erhält es von mir alle Sterne und ich vergebe eine klare Empfehlung.

    :jocolor: Verschwundene Reiche: Die Geschichte des vergessenen Europa // Norman Davies (Projekt)



    You cannot open a book without learning something. - Konfuzius