Stewart O'Nan - Engel im Schnee

  • Die Originalausgabe erschien 1994 unter dem Titel "Snow Angels" bei Doubleday, New York


    Autor (Klappentext)
    Stewart O'Nan wurde in Pittsburgh geboren und wuchs in Boston auf. Er arbeitete als Flugzeugingenieur und studierte in Cornell Kunst. "Engel im Schnee" ist sein erster Roman. Er erhielt dafuer 1993 den William-Faulkner-Preis. 1998 erschien im Rowohlt Verlag sein Roman "Die Speed Queen".


    Meine Rezension


    Es ist Mitte Dezember. Seit Wochen herrscht ein schneidend kalter Winter in der kleinen Stadt Butler, Pennsylvania. Es ist ein Winter, der alle Dinge und Ereignisse schmerzhaft scharf hervortreten laesst, ein Winter der erstarrten Gefuehle und der abgestorbenen Hoffnungen.


    Der 15jaehrige Arthur Parkinson probt gerade auf dem Footballplatz mit dem High-School-Orchester, als im nahegelegenen Waldgebiet mehrere Schuesse fallen. Er wird Ohrenzeuge des Mordes an Annie Marchant, der huebschen, rothaarigen Annie, die vor Jahren seine Babysitterin und erster Schwarm war. Es ist der Schlusspunkt einer sich seit Wochen anbahnenden Familientragoedie.


    Annie kommt mit ihren Leben nicht zurecht. Nach der Trennung von ihrem labilen, antriebsarmen Ehemann hat sie eine Affaere ausgerechnet mit dem Mann ihrer besten Freundin begonnen. Doch im Grunde weiss Annie, dass auch Brock nicht der Mensch ist, ihr Halt und Geborgenheit zu geben. Enttaeuscht und verbittert durch ihr Geschick, ueberzeugt von ihrer eigenen Unzulaenglichkeit und ueberfordert durch die Doppelbelastung von Schichtdienst und Kindererziehung, laesst sie ihren Frust auch an ihrer kleinen Tochter Tara aus. Ihr Mann Glenn kann sich mit der Trennung nicht abfinden. Seine Hoffnung auf Versoehnung bleibt jedoch vergeblich und so ueberlaesst er sich mehr und mehr religioesen Wahnvorstellungen. Brock schliesslich ist zwar bemueht, Annie und ihrer Tochter zu helfen, aber er ist der Situation nicht gewachsen und beginnt eine Affaere mit einem Maedchen aus der Firma. Hilflos muessen Annies Mutter und Glenns Eltern mitansehen, wie das Leben ihrer Kinder buchstaeblich den Bach hinuntergeht.


    Hilflos ist auch Arthur den Ereignissen dieses Winters ausgeliefert. Er muss nicht nur die Trennung seiner Eltern und den Umzug mit seiner Mutter in ein aermliches Wohnviertel verkraften, sondern kommt auch auf eine sehr tragische Weise noch einmal mit dem Schicksal Annies in Beruehrung. Doch er bleibt allein mit seinen traumatischen Erlebnissen und seinen Aengsten. Seine Eltern kriegen ihre eigenen Probleme nicht in den Griff, seine grosse Schwester, in Deutschland bei der Air Force stationiert, buerdet ihm telefonisch die Verantwortung fuer die immer haltloser werdende Mutter auf, die Bemuehungen des Psychaters, zu dem er geschickt wird, bleiben halbherzig. Aber Arthur schottet sich ganz bewusst gegen das anbrandende Chaos um ihn herum ab. Er ist wild entschlossen, sich durch nichts, was in diesem Winter geschehen ist, vom Gluecklichsein abhalten zu lassen. Und so uebt er weiter Posaune im Schulorchester, bekifft sich hin und wieder mit seinem Freund Warren und erlebt die erste Liebe mit einem Maedchen aus der neuen Nachbarschaft. Doch Arthur ist erst fuenfzehn und so kann er nicht verhindern, dass seine Seele Schaden nimmt...


    Stewart O'Nan ist mit seinem ersten Roman ein schoenes, trauriges und sehr eindringliches Buch gelungen. Die Sprache ist klar und ruhig, sie sieht genau hin und bleibt dicht an ihren Figuren dran. Es gibt zwei parallele Erzaehlstraenge: Einmal blickt Arthur auf die Erlebnisse des Winters zurueck, dann wieder wird Annies Tragoedie geschildert. Indem er das Verhaengnis aus der wechselnden Sicht der Beteiligten beschreibt, weckt O'Nan das Verstaendnis und Mitgefuehl des Lesers fuer jede der Personen und laesst ihn die Katastrophe Schritt fuer Schritt miterleben, wobei die Winterbilder ihre hoffnungslose Kaelte und Unabwendbarkeit beklemmend unterstreichen.


    Arthur und die kleine Tochter Annies sind Geschehnissen ausgeliefert, die sie nicht beeinflussen koennen, deren unschuldige Opfer sie aber sind, Geschehnissen, wie sie tagtaeglich tausenden von Kindern widerfahren. Das Buch endet mit einer schockierend bitteren und traurigen Feststellung, die das Ende von Arthurs Kindheit markiert.


    Ein wunderbares Buch von einem grossen Autor!

    :study: Zsuzsa Bánk - Die hellen Tage

    :study: Claire Keegan - Liebe im hohen Gras. Erzählungen

    :study: David Abulafia - Das Mittelmeer
















  • Diese Art der Kindheits- und Jugenderinnerungen lese ich immer wieder gern, und meine Favoriten in diesem Genre sind vor allem die Amerikaner. Umgebung, Wetter, Ort und Landschaft sind nicht Hintergrund oder Zubehör, sondern Elemente, die untrennbar mit dem ausgewählten Abschnitt der Kindheit verbunden sind, und die eine dichte Atmosphäre entstehen lassen.


    Ein Buch mit zwei Erzählern (hier sind es ein Ich-Erzähler und ein unsichtbarer Beobachter) kann ein Wagnis sein; im vorliegenden Fall ein gelungenes.


    Mit 15 Jahren erlebt Arthur, dass Leben Schmerz ist: Die Trennung seiner Eltern, Annies Tod, die Entfremdung seines Vaters, das Selbstmitleid der Mutter. Außer seinen Versuchen, sich durch Schweigen abzuschotten, kann er dem nichts entgegensetzen. Das Trauma dieses Winters bleibt Arthur für den Rest seines Lebens erhalten, weil er eigentlich nie begreifen konnte, was wirklich passiert ist und warum.


    Der Schluss des Buches schien mir zu abrupt. An Anfang wird ein Kapitel vom erwachsenen Arthur erzählt, der sich zusammen mit seiner Schwester auf einen Besuch bei der Familie macht. Er hätte sich meiner Meinung nach am Ende nochmal zu Wort melden sollen.


    Ansonsten: Danke, @ mofre, für die Vorstellung, durch die ich zum ersten Mal von diesem Buch gehört habe, das ich mir gezielt in der Bücherei suchen konnte.


    Marie

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • Marie. Den abrupten Schluss finde ich nun gerade gut. Der letzte Satz ist ueberraschend bitter und hinterlaesst eine gewisse Schockwirkung, die doch wohl beabsichtigt ist und im Leser nachhallen soll. Er zeigt, dass die Bemuehnungen dieses 15jaehrigen Jungen, sich gegen die schlimmen Erlebnisse abzuschotten, vergeblich sind, und markiert das jaehe Ende seiner Kindheit.


    Aber ich verstehe schon, was Du meinst. Der Besuch Arthurs und seiner Schwester in ihrer Heimatstadt hat nur einleitende Funktion und ist wirklich ueberfluessig. Tatsaechlich hatte ich ihn schon beim Lesen total vergessen, und erst Deine Antwort hat mich wieder an ihn erinnert. Es haette voellig gereicht, wenn ein unsichtbarer erwachsener Arthur aus dem Off erzaehlt haette.


    Ansonsten freue ich mich, dass Dir das Buch gefallen hat. Komisch, dass der Autor mir bis jetzt durch die Lappen gegangen ist, obwohl er schon seit Jahren ziemlich beruehmt ist.



    Gruss mofre



    ______________


    Ich lese gerade: David Morell - Creepers
    Thomas Mann - Tagebuecher 1949/50

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    Einmal editiert, zuletzt von mofre ()

  • Ich höre jetzt auf, hier rumzustöbern ... so viele tolle Vorstellungen und mein Wunschzettel wächst und wächst :wink:


    Vielen Dank für diesen Tipp, mir war der Autor noch nicht bekannt. Das wird sich aber jetzt bald ändern :uups:

    "Ein Leben ohne Hund ist möglich, aber sinnlos ..."

    (nach Loriot)

  • Ich habe bislang noch kein Buch des Autors gelesen, aber die Klappentexte seiner Werke sagen mir sehr zu. Auch dieses Buch klingt interessant und kommt auf die Wunschliste.


    :flower:

    "Hab Vertrauen in den, der dich wirft, denn er liebt dich und wird vollkommen unerwartet auch der Fänger sein."
    Hape Kerkeling


    "Jemanden zu lieben bedeutet, ihn freizulassen. Denn wer liebt, kehrt zurück."
    Bettina Belitz - Scherbenmond


    http://www.lektorat-sprachgefuehl.de

  • Danke für die schöne Rezension, mofre!
    Das Buch landet bei mir auf der WL. Rezensionen lesen ist wirklich gefährlich! :mrgreen:
    Von dem Autoren habe ich "Alle, alle lieben dich" gelesen und das hat mir schon so gut gefallen. :)


    :winken: