Beiträge von Marie

    Klappentext:
    Kingsley, der Erstgeborene, genießt Privilegien. Bei Tisch darf er darauf warten, dass das Essen serviert wird, in seiner dünnen Egusi-Suppe schwimmt ein Stück Fleisch und sein Universitätsabschluss wird mit einer Party gefeiert. Doch die Zeiten in Nigeria sind schlecht, er findet keine Arbeit, und der Brautpreis für Ola - seine süße, wunderbare Ola, ist viel zu hoch. Bildung zählt zwar in Nigeria, doch ohne Geld und ein »Langbein« geht gar nichts. So nimmt Cash Daddy den Neffen unter seine Fittiche und Kingsley lernt die Spielregeln des Überlebens.
    Der Roman führt an eine Stelle, an der sich westliche Welt und afrikanischer Kontinent berühren - jedoch locken hier nicht Europa oder die USA, sondern Afrika, genauer gesagt Nigeria mit dem Versprechen schnell verdienten Reichtums. Die Nigeria Connection der 419-Scammer ist enorm erfolgreich. Erfinderisch macht sie sich die Geldgier, die Dummheit, aber auch das Mitleid von Menschen im Westen zu Nutze.
    (von der Verlagsseite kopiert)


    Zur Autorin:
    Adaobi Tricia Nwaubani wurde in Nigeria geboren, wo sie noch heute lebt. Ihr erstes Geld verdiente sie sich im Alter von dreizehn Jahren mit dem ersten Preis eines Schreibwettbewerbs. Als Teenager träumte sie von einer Karriere als CIA- oder KGB-Agentin, schließlich entschied sie sich jedoch für ein Studium der Psychologie. ›Die meerblauen Schuhe meines Onkels Cash Daddy‹ ist ihr erster Roman. (von der Verlagsseite kopiert)


    Aufbau / Allgemeines:
    Originaltitel: I Do Not Come to You by Chance
    Übersetzt von Karen Nölle
    494 Seiten + Danksagung, 1.Teil: S. 25-217 / 2.Teil: S. 221-482
    Prolog, 45 Kapitel, Epilog


    Inhalt:
    Kingsley, Ältester von vier Kindern, ist nach dem Tod des Vaters der Opara der Familie, der verantwortliche Ernährer für Mutter, Geschwister und die weitläufige Verwandtschaft. Aber wie soll er seiner Riesenaufgabe gerecht werden, wenn er weiterhin zum Heer der trotz Universitätsabschluss arbeitslosen Männer gehört? Obwohl von moralischen Bedenken geplagt, lässt er sich von seinem millionenschweren Onkel Boniface – Cash Daddy – anheuern, und was Kingsley als Sprungbrett in seinen eigentlichen Beruf als Chemie-Ingenieur plante, wird zum Lebensinhalt, als er die immense Macht des Geldes kennenlernt.


    Eigene Meinung:
    Nigeria – ein weißer Fleck nicht nur auf der literarischen Weltkarte. Ein Land, das an 6. Stelle der Erdölförderung der OPEC steht (samt Umweltschäden in Dimensionen wie am Golf von Mexiko 2010), an 4. Stelle des Diamantenexports und in dem die Hälfte der Bevölkerung von umgerechnet 1 Dollar am Tag lebt. Für eine Einreise als Ausländer benötigt man ein Visum, das man nur erhält, wenn man eine persönliche Einladung durch einen Nigerianer vorweisen kann.


    Kingsleys Eltern Augustina und Paulinus gehören zur Bildungselite, sind stolz darauf und streben für ihre Kinder die besten Schulabschlüsse an. Doch mit Paulinus’ Krankheit versiegt das Einkommen der Familie; Arzt- und Krankenhauskosten treiben sie in den Ruin.
    Es scheint also anfangs, als schildere die Autorin ein exemplarisches nigerianisches Schicksal, das bei einem europäischen Leser gern zwei Reaktionen weckt: Mitleid (die Familie hat alles getan, um der Armut zu entkommen, doch das Unglück zerstört den Lebensentwurf) und Zorn gegen den Staat, die Oberschicht oder wen auch immer, dass ein Land mit solch reichen Bodenschätzen seine Bewohner sozial vernachlässigt.
    Aber man muss sich bewusst machen: Die Autorin schreibt für ihre Landsleute, für die diese Probleme alltäglich sind. Damit wird dieses Buch zu einem völlig anderen Leseerlebnis als die bekannten Afrika-Bücher, die von fern AUF das dortige Leben blicken und die erwähnten Gefühle explizit provozieren (vgl. Hennig Mankell).


    Kingsleys Familie weiß, dass Augustinas Bruder Boniface unermesslich reich ist, ahnt aber, dass das Geld aus dunklen Kanälen stammt. Ungeschriebenen Gesetzen zufolge wäre er verpflichtet, Schwester, Schwager, Nichten und Neffen zu unterstützen, aber der Familie ist moralische Integrität wichtiger als finanzielle Sicherheit. – Die Europäerin in mir liest es mit Unverständnis, gleichzeitig mit Bewunderung.


    Gegen das Verbot der Eltern wendet sich Kingsley dennoch an den Onkel und wird mit offenen Armen empfangen. Der Preis ist hoch: Er wird von einer Firma aufgesogen, in der man ein paar E-Mails schreibt um in den Besitz von Millionen zu kommen (Stichwort: Nigeria-Connection). Jahrelang lebt Kingsley unter dem besonderen Schutz von Cash Daddy, verhundertfacht beider Vermögen und verhilft Familie, Nachbarn, Freunden und dem Heimatdorf zum Überleben. - Europäer und Amerikaner haben unser Land ausgebeutet und sich an uns bereichert; wir holen nur zurück, was uns zusteht! so Cash Daddys Rechtfertigung. Es könnte Kingsley blendend gehen, wenn nicht im Hintergrund die Mutter und in seinem Kopf der Vater seinen Lebenswandel ablehnten und verachteten.
    Dieser zweite Teil des Buches spielt in einer vollkommen anderen Welt als der erste, einer Welt, die beherrscht wird von Cash Daddy, hierzulande als literarischer Typ „Mafia-Boss“ bekannt: Dick, verfressen, ohne Manieren, korrupt, unerbittlich gegen jeden, der sich widersetzt oder sich nicht kaufen lässt, dabei wohltätig und freizügig mit Nahestehenden, Freunden, Verwandten, Angestellten, Speichelleckern. Kingsley ist hin- und hergerissen zwischen Faszination, Gehorsam, Abscheu und Dankbarkeit; er unterwirft sich willig, genießt den Reichtum, wenngleich in ihm der moralische Stachel, Erbe der Eltern, bohrt.
    Dass Cash Daddys und Kingsleys Geschäfte reibungslos laufen, wundert hierzulande, wo jede Woche eine neue Internet-Betrugmasche durch die Zeitungen jagt, eher nicht. „Gier frisst Hirn“ – der Spruch wurde in diesem Zusammenhang geboren, die Opfer machen es den Tätern leicht, sie bieten sich vielfach selbst an.


    Hier, im zweiten Teil, spielt die Autorin mit einer für den Leser reizvollen Protagonistenrolle: Der Antiheld als Identifikationsfigur. Ein besonderes Bonbon überreicht sie im Epilog: Während man sich daran erfreut, dass die Angelegenheit für alle Beteiligten ein wunderbares Ende gefunden hat, schießt sie eine Pointe aus dem Hinterhalt, und man weiß nicht, ob man das Buch mit Lachen oder Fassungslosigkeit zuklappen soll.


    Fazit:
    Ein Buch, das mit Spannung, Lebendigkeit und Witz fesselt, so dass man zunächst gar nicht merkt, wie viel man über die afrikanische Lebensweise und das Besondere des sozialen Miteinanders lernt.

    Jeder Azubi muss mehrere Jahre lernen, arbeiten, seine Fertigkeiten verbessern, ehe er zum Meister wird. Warum sollte dieses Gesetz nicht auch für Schriftsteller gelten? Wenn die Probearbeit dann von einem Verlag gedruckt wird: Umso besser (für den Autor).


    Denn so wirkt das Buch auf mich: Wie eine Vorstudie zu "Der Schatten des Windes". Was sich dort als gelungener Genremix aus Fantasy, Liebes- und Zeitgeschichte erweist, bleibt hier im Versuch stecken, typische Elemente der Genre irgendwie miteinander zu verknoten. "Marina" wirkt eher wie ein Genre-Gemenge, wirr und verzerrt.Die erste, selbstverständliche tragische Liebe und die beiden Liebenden, die einem fiktiven Geheimnis aus der Vergangenheit Barcelonas auf die Spur kommen - diese beiden Handlungsstränge hätten das Buch tragen können. Auch eine reine Horrorgeschichte wäre möglich gewesen, dazu hätte Zafón allerdings einige neue Motive erschaffen müssen.

    zeugen nicht von Originalität oder Einfallsreichtum.


    Auch ein Probestück kann meisterhafte Elemente enthalten, und das sind in diesem Buch die Stimmungsschilderungen: Das besondere Licht eines Tages oder des Wetters, außergewöhnliche Gebäude, Gassen und Winkel in verborgenen Vierteln Barcelonas und die ruhigen Momente des Alltags, in denen nicht Spannendes geschieht.


    Zafón sagt im Prolog: "[Mir erschien] Marina als der Übergang zu einer anderen Art des Erzählens, wo ich schließlich das finden würde, was Schriftsteller gemeinhin 'ihre Stimme' zu nennen pflegen." (S. 6)
    So gesehen ist dieses Buch tatsächlich die Brücke zwischen Zafóns Horror-Jugendbüchern und seinen Meisterwerken.

    Klappentext:
    Alfred und Sally sind schon reichlich lange verheiratet. Das Leben geht seinen Gang, allzu ruhig, wenn man Sally fragt. Als Einbrecher ihr Vorstadthaus in Wien heimsuchen, ist plötzlich nicht nur die häusliche Ordnung dahin: In einem Anfall von trotzigem Lebenshunger beginnt Sally ein Verhältnis mit Alfreds bestem Freund. Und Alfred stellt sich endlich die entscheidende Frage: Was weiß ich von dieser Frau, nach dreißig gemeinsamen Jahren? (von der Verlagsseite kopiert)


    zum Autor:
    1968 in Bregenz geboren, aufgewachsen in Wolfurt / Vorarlberg, 1993 Abschluss des Studiums der Deutschen Philologie, Alten Geschichte und Vergleichenden Literaturwissenschaft in Wien und Innsbruck, 1986 – 2002 Arbeit als Videotechniker bei den Bregenzer Festspielen, 1996 Einladung zum Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb. Arno Geiger lebt als Schriftsteller in Wolfurt und Wien. (von der Verlagsseite kopiert)


    Aufbau:
    364 Seiten in 11 Kapiteln; der überwiegende Teil wird aus der personalen Erzählperspektive Sallys geschildert, das 10. Kapitel, ein 41 Seiten-langer Satz, aus Alfreds Ich-Perspektive.


    Inhalt:
    Sally, Lehrerin, und Alfred, Museumskurator, sind seit über 30 Jahren verheiratet und haben drei fast erwachsene Kinder. Während eines Urlaubs in London, wo sie Sallys verwirrte Mutter besuchen, erhalten sie die Nachricht, dass in ihrem Haus in Wien eingebrochen wurde. Dieses Ereignis ist das Initial, um das Leben, das persönliche und das gemeinsame, neu zu überdenken und zu überlegen, wie die Zukunft aussehen könnte.


    Eigene Meinung:
    Was hat das Leben eigentlich noch zu bieten, wenn man 50 ist, sich in Beruf und Familie etabliert hat und alles so geworden ist, wie man es nie haben wollte? So sieht die Sache für Sally aus.
    Kann man sich in seinem eigenen Leben jemals sicher und behütet fühlen, wenn es Unbekannten schon gelingt, durch ein Fenster das Haus zu betreten und Gegenstände kaputt zu schlagen, an denen man hängt? Das empfindet Alfred.
    Nach dem Einbruch geht Sally die Folgen offensiv an: Sie räumt auf, putzt, streicht die Zimmer neu, verhandelt mit der Versicherung, während Alfred sich im Haus verschanzt und kaum vor die Tür zu gehen wagt, als müsse er das, was ihm geblieben ist, bewachen. Ihr Verhalten nach dem Einbruch ist jeweils symptomatisch für ihre Rolle in der Familie und die Zukunftserwartung.


    Sally erhofft sich, das von außen etwas Unerwartetes in ihren Alltag dringt und ihr ein neues beschwingtes Lebensgefühl und eine Erfrischung ihres eingefahrenen Trotts beschert, ja, im Grund sehnt sie sich wie ein junges Mädchen nach einem Märchenprinz, der sie ein Gefühl von Liebe spüren lässt, das sie Alfred gegenüber nicht mehr empfindet: Das Kribbeln im Bauch, die unbedingte Lust auf Sex und die Selbsterfahrung als schöne begehrenswerte Frau. Die Überraschungen geschehen, aber ganz anders als Sally sich erträumt hat.


    Alfred scheint der Behäbige zu sein, der akribisch jeden Morgen Tagebuch führt, dessen Gedanken um den Unbill des Lebens kreisen und dessen Liebe zu Sally ungebrochen ist. Die meisten Rezensionen sprechen von Alfred, der neben der starken, lebenshungrigen Sally schwach und stumpfsinnig wirkt. Ich möchte die Gegenthese aufstellen: Es sind vor allem Alfreds vermeintlich unattraktive Charakterzüge, seine Geradlinigkeit, seine unverbrüchliche Treue und seine Langmut, die das Familiengefüge zusammenhalten und Sally immer wieder erlauben, nach Hause zu kommen, wenn ihre Abwege in die Irre laufen. Alfred ist die Sicherheit und der Rückhalt, den ein quirliger, intuitiv lebender Mensch wie Sally braucht.


    Das große Thema des Buches ist die Liebe, die bleibt und die es aushält, den anderen nicht ausstehen zu können, sich zu ärgern und ihn zum Teufel zu wünschen; ein zweites gehört dazu: Älterwerden und der Kampf, um zu akzeptieren, wie schnell Tage und Jahre vorbeigingen, und dass man trotz zerbrochener Träume den Rest sinnvoll ausfüllen kann.


    Fazit:
    Achtung! Wer sich die Illusion von der großen, immerwährenden Liebe bewahrt hat, kann bei diesem Buch mit seinen Sehnsüchten in Kollision geraten; zu empfehlen für alte Ehe-Kempen. :eye::kiss::eye:

    Klappentext:
    Die Künstlerkolonie Worpswede hat bis heute nichts von ihrer Anziehungskraft verloren. Zur Zeit der ersten Künstlergeneration von 1899 bis etwa 1907 lebten Fritz Mackensen, Paula Becker, Otto Modersohn, Marie Bock und ihre Kollegen ein revolutionäres Konzept. Anhand zentraler Themen werden die Künstler, ihre Werke und ihre Ideale vorgestellt. Dabei gilt ein besonderer Augenmerk bislang vernachlässigten Aspekten: der Kunst der Frauen und der Aktmalerei. Kurzbiografien ergänzen den weitgefächerten Überblick über das Leben der Kolonie im Teufelsmoor. (von der Verlagsseite kopiert)


    Allgemeines:
    135 Seiten Text, Fotos und Gemäldedrucke
    Dazu: Tabellarische Lebensläufe, Verzeichnis der Anmerkungen, Bibliographie, Bildnachweis (insgesamt 141 Seiten)


    Themen:
    - Maler im Moor
    - Die Entdeckung der Landschaft
    - Leben und Arbeiten im Moor
    - Das Menschenbild
    - Künstler erobern das Dorf
    - Traumwelt des Jugendstils
    - Akt in Worpswede


    Eigene Meinung:
    Die interessantesten Phasen in der Kunst, sowohl in der Architektur als auch der bildenen Kunst, sind die historischen Brüche, wenn eine Künstlergeneration die Regeln und Vorbilder der Alten abstreift, ein neues Selbstverständnis entwickelt und neue Ideen entwirft, um sich auszudrücken.
    In unserm Zeitalter, für das schon Kubismus und Pop-Art Historie sind, mag es kaum nachvollziehbar sein, dass Pleinair-Malerei (Malen im Freien statt im Atelier), Themen aus dem Alltag (statt aus Religion oder Mythologie) und eine Palette mit reinen Farben eine Revolution auslösten.
    Feder-(bzw. Pinsel)führend in dieser Revolution waren ab den 1860er Jahren die Franzosen, die man unter dem Namen „Impressionisten“ kennt, doch es bildeten sich nach und nach in anderen Ländern Gruppen, die ihre eigene Form der Revolution verkörperten. Eine der in Deutschland wichtigsten und bekanntesten, die Worpsweder Maler, lernt man in diesem Buch kennen. Im Gegensatz zu den Franzosen, die fast alle in Paris lebten und zum Malen in die liebliche Seine-Landschaft oder an Orte in der Normandie zogen, wählte eine Gruppe von Malerfreunden Mitte der 1880er einen unbekannten unwirtlichen Flecken in der Nähe von Bremen, weitab von Städten oder Kunstzentren der Zeit, angezogen nur von der Landschaft ohne Begrenzung, die bis an den Horizont reicht, und dem Himmel, der auf die Erde drückt. Kein Wunder, dass vor allem Maler, die zuvor schon die Landschaftsmalerei für sich entdeckt hatten, dem Ruf folgten. Und bis heute ist der Begriff der Worpswedischen Kunst vor allem verbunden mit Gemälden, in denen Erdfarben vorherrschen und die eine karge Natur zeigen.


    Ausgehend von konkreten Bildern der Maler erzählt die Autorin vom Leben im Teufelsmoor um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert: Menschen, die vom Torfstechen lebten, und auf dem wenigen Land, das sie dem Moor abtrotzten, Landwirtschaft betrieben, die in niedrigen, engen Katen mit Großfamilien hausten und die das Malervölkchen zwar mit Unverständnis betrachteten, aber dennoch akzeptierten. Auf diesem Hintergrund erklärt es sich, warum Bilder von Menschen nur in geringer Zahl gemalt wurde: Anders als die bürgerlichen Pariser, die Flaneure, Prostituierten und Arbeitssuchenden in den Cafés hatten die Moorbewohner schlichtweg keine Zeit, um Modell zu stehen. Daher sind die bekanntesten Worpsweder Gemälde von Menschen Paula Modersohn-Beckers Kinderbildnisse.


    Frauen waren zu jener Zeit an den meisten Kunstakademien nicht zugelassen; es erstaunt also nicht, dass es gerade sie in die Kolonie zog, wo sie von den schon etablierten Malern ausgebildet wurden, unter ihnen die Bildhauerin Clara Westhoff, Ehefrau Rainer Maria Rilkes, der, oft zu Gast in Worpswede, die erste Monographie über das Künstlerdorf verfasste – nicht ganz zur Freude aller Beteiligten.


    Es würde den Rahmen einer Rezension sprengen, jedem Künstler der ersten Worpsweder Generation einen Abschnitt zu widmen. In Hansmanns Buch macht man Bekanntschaft mit den typischen Besonderheiten und den individuellen Gestaltungsmerkmalen der Einzelnen, auch ein wenig mit deren Persönlichkeit – hier hätte ich mir mehr Ausführlichkeit gewünscht (nur Heinrich Vogeler und Paula Modersohn-Becker treten als Personen plastisch hervor). Auch ein abschließendes Kapitel über die kunsthistorische Bedeutung und den Einfluss auf die moderne Malerei nach dem Zerfall der Gruppe hätte mir gefallen.


    Natürlich müssen auch die großartigen Farbdrucke erwähnt werden, zu denen derjenige, der sich noch nicht intensiv mit der Malerei des 19. / 20. Jahrhunderts beschäftigt hat, durch die detaillierten Anmerkungen der Autorin Zugang bekommt.


    Fazit:
    Ein hervorragendes und wunderschönes Buch, um die Worpsweder Maler, ihre Anfänge und ihre Arbeiten kennenzulernen; wer darüber hinaus an Informationen zu Einzelnen oder an weiterführenden Details interessiert ist, sei auf die umfangreiche Literaturliste im Anhang verwiesen.

    Klappentext:
    Was tun, wenn der beste Freund mit einer Schussverletzung auftaucht und um Hilfe bittet? Für Gravy ist die Sache klar: Er wird die Pistole verstecken, die Benyi bei ihm zurücklässt. Und er wird sich der vielen Geldscheine annehmen, die er in Benyis Wagen findet. Nur, woher soll er wissen, was Benji mit dem Geld vorhatte? Ob es für die Frau bestimmt war, deren Name auf dem Zettel im Handschuhfach notiert ist? Gravy sieht nur eine Möglichkeit, dies herauszubekommen, und gerät dabei in höchste Gefahr. Denn offenbar ist eine Menge Leute scharf auf das Geld.


    Allgemeines:
    Originaltitel: A Cool Head
    aus dem Englischen übersetzt von Giovanni und Ditte Bandini
    125 Seiten
    zum Teil aus der Perspektive von Gravy als Ich-Erzähler, zum Teil aus der eines außenstehenden Beobachters


    Eigene Meinung:


    Hochverehrter Mr Rankin (das "Hochverehrt" dürfen Sie ruhig wörtlich nehmen),


    bis vorgestern hätte ich jeden Artikel unterschrieben, der Sie den besten Krimiautor des Vereinigten Königreichs nennt. Es war nicht jedes Mal ein Knüller, wenn Sie Ihren John Rebus auf Tour schickten - muss ja nicht -, doch es war stets ein verzwickt-spannendes Vergnügen, an seiner Seite böse Buben zu jagen, Vorgesetzte an den Rand eines Nervenzusammenbruchs zu treiben und die guten Vorsätze vom letzten Kater beim abendlichen Pubbesuch zu vergessen.
    Was aber geschah vorgestern, das mich nach all den Jahren inniger Verbundenheit so jäh zweifeln ließ?


    Ich las Ihr Krimichen "Ein kaltes Herz".


    Lieber Ian Rankin, Sie sind ein Meister des 500-Seiten-Schmökers, und Ihr Versuch, sich 125-Seiten-kurz zu fassen, ging in die Hose. Gut, Sie haben mit Gravy, dem debilen Friedhofsarbeiter mit autistischen Zügen, einen liebenswerten Protagonisten erschaffen, aber mit den gefühlten 50 weiteren Personen hat Rebus sich schon unter anderen Namen herumgeschlagen, z.B. Caffery, der hier als Stewart Rentshaw auftritt und eine Meute Gefolgsleute um sich schart. Und glauben Sie wirklich, dass Siobhan Clarke mit dem Vornamen Jane glücklicher wäre?


    Zumindest eins schaffen Sie auch auf 100 Seiten: Verwirrung. Und Sie benötigen dazu nicht mehr als drei Autos. Aber ich als Mädchen kann nicht unterscheiden, welches Auto die Friedhofsmauer durchbricht, welches auf dem Schrottplatz, welches in der Hotelgarage steht, welches Auto zur Flucht und welches zur Jagd verwendet wird? Und wem welches gehört?


    Lieber Ian, tu das nie wieder, wenn Du Dir meine Liebe erhalten willst, denn bei Dir liegt die Würze eben nicht in der Kürze.


    Gruß und Kuss an John, falls Ihr Euch nochmal trefft.
    Marie

    Wie viele Bücher dieser Art wurden nun hier im BT allein vorgestellt?


    @ tom,
    Du sprichst mir aus der Seele. Ich frage mich schon lange, was die Autoren oder eher: Autorinnen der autobiographischen Schilderungen über Grausamkeiten in den arabischen Ländern mit ihren Büchern eigentlich wollen.
    - Wollen sie tatsächlich die politischen und gesellschaftlichen Zustände anprangern, um andere Menschen wachzurütteln in der vagen Hoffnung: Je mehr Informationen, desto größer die Chance auf Änderung?
    Und warum spielen sich die Ungerechtigkeiten, die Gewalt und die Unterdrückung - literarisch gesehen - vor allem in diesem Teil der Welt ab? Man würde gewiss auch in Südamerika, in vielen Ländern Afrikas und Asiens und auch in unserm "zivilisierten Europa" fündig.


    Ich will sicher nicht leugnen, dass Menschen Menschen grässliche Dinge antun, und ich bringe keinen davon ab, sich mit seinem Trauma durch Schreiben auseinanderzusetzen. Was mich aber nachdenklich macht, ist die Menge an Büchern, die von fürchterlichen Erlebnissen und Erfahrungen berichten, die Frauen in islamischen Ländern des Nahen Ostens widerfahren. Vielleicht ein Fall für die Frage Cui bono?

    Klappentext:
    Paris im Jahrhundertsommer: Zwei Ehepaare und zwei Liebhaber, alle um die vierzig, gut situiert, kultiviert - aber nicht geschützt vor den Verdrießlichkeiten des Familienlebens. Schnell entflammen die Herzen der zwei Ehefrauen. Sie genießen den ersten Rausch, laben sich an süßen Illusionen, doch bald kommen erste Zweifel auf. Was setzen sie für die neue Liebe aufs Spiel?
    Klug und elegant arrangiert Hervé Le Tellier jedes Rendezvous. Eine intelligente Sommerkomödie, ein geistreiches, witziges und zugleich bewegendes Buch für alle, die gerne über Liebe sprechen.
    (von der Verlagsseite kopiert)


    Über den Autor:
    Hervé Le Tellier wurde 1957 in Paris geboren. Er veröffentlichte viele sehr originelle Bücher, Romane, Erzählungen, Gedichte und Kolumnen. Seit 1992 ist er Mitglied der Autorengruppe OuLiPo (Ouvroir de Littérature Potentielle), die von François Le Lionnais und Raymond Queneau gegründet wurde und der Autoren wie Georges Perec, Italo Calvino oder auch Oskar Pastior angehörten. ›Kein Wort mehr über Liebe‹ ist das erste Buch von Hervé Le Tellier in deutscher Übersetzung. (von der Verlagsseite kopiert)


    Allgemeines:
    Originaltitel: Assez parlé d’amour
    Aus dem Französischen übersetzt von Jürgen und Romy Ritte
    276 Seiten
    53 Kapitel jeweils mit einem oder zwei Vornamen überschrieben, Prolog und Epilog


    Inhalt:
    Anna, Ärztin, und Stan, Augenarzt, haben zwei Kinder und führen eine zufriedene Ehe, als sie sich in den Schriftsteller Yves verliebt.
    Louise, Rechtsanwältin, und Romain, Sprachgenetiker, haben zwei Kinder und führen eine zufriedene Ehe, als sie sich in den Psychoanalytiker Thomas verliebt.
    Zwischen beiden Paaren existiert ein Berührungspunkt: Anna ist seit Jahren Klientin von Thomas, beendet aber im Verlauf der Handlung ihre Analyse.


    Eigene Meinung:
    Man befindet sich in den Kreisen des Bildungsbürgertums. Bis auf einige angedeutete Nebenfiguren (Kinder der beiden Paare, Familienangehörige, …) agieren nur diese beiden Dreierkonstellationen; es gibt keine weiteren Personen, von denen Impulse ausgehen könnten. Das Szenarium, das der Autor entwirft, ist eine „literarische Laborsituation“. Die Protagonisten schwimmen schwer gegen und mit ihren selbst entfachten Leidenschaften und kreisen ausschließlich um sich selbst. Trotz der Liebesgeschichten und nachfolgenden Entscheidungsdramen wirkt die Handlung statisch und leblos. Die Personen sind, allein schon durch ihren Status, gesellschaftlich eingebunden, aber ohne jedes soziale Gefüge.


    Bis auf den Ausgang sind beide Liebesgeschichten identisch, sogar Yves’ und Thomas’ Väter sterben am selben Tag. Auch gleich: Die ungeschickte Art, wie die Ehemänner sich den Liebhabern ihrer Frauen nähern. Gerade diese und weitere kurze Passagen lassen einen satirischen Einschlag aufblitzen. Um insgesamt als Satire zu gelten, weist das Buch jedoch zu wenige ironische Brechungen auf.


    Die Männer, Liebhaber ebenso wie Ehemänner, unterscheiden sich nur durch ihre Vornamen und Berufe voneinander. Auch die Frauen haben keine individuellen Persönlichkeitsmerkmale, Hobbys oder Vorlieben, die sie unverwechselbar machen. Das provoziert natürlich die Frage, was es mit der oft beschworenen Liebe auf sich hat, denn eine gravierende Abweichung von Ehemann zu Liebhaber lässt sich nicht erkennen. Es scheint, als seien die Frauen eher verliebt in die eigene Verliebtheit, als sei nicht der Mann das Entscheidende, sondern das persönliche große Gefühl und die Chance, sich im Alter von 40 noch einmal zu fühlen wie ein verliebter Teenager mit Schmetterlingen im Bauch und nach Jahren vertrauter Nähe die sexuelle Anziehungskraft eines Unbekannten auszukosten.


    Merkwürdig auch die intimen Gespräche zwischen Liebenden: Eine Art pseudo-philosophisches Partygeplauder über Schriftsteller, über die Frage, ob es erstrebenswert sei, als Jude geboren zu sein, oder über die Frage, ob ein Tod Hitlers in den 1930er Jahren den 2. Weltkrieg und den Holocaust verhindert hätte.
    Liebe als Kopfgeburt? Dieses Muster durchbricht lediglich Yves, der Anna zum 40. Geburtstag 40 selbst verfasste „Erinnerungen an Anna Stein“ schenkt.
    Am ehesten könnte man das Buch als „Beziehungsstudien“ bezeichnen. Die Distanz des Lesers ist gewünscht, wird erreicht durch intellektuelle Überhöhung sowohl der Personen selbst als auch ihres Umgangs miteinander. So zeigt sich auch das Problem, wer sich wie entscheidet, als Gedankenspiel und nicht als innerlich bewegende und spannende Frage. Deutlich karikiert Le Tellier das Lebensgefühl einer bestimmten Gesellschaftsschicht, aber das allein reicht nicht, um einen Roman wie diesen zu tragen.


    Doch eigentlich beweist der Autor, dass er von Liebe berührend erzählen kann: Das Buch beginnt mit einem Kapitel über den jungen Thomas als aufsässigen Schulabbrecher, der sich in eine Frau verliebt und heiraten möchte, als sie schwanger wird. Nach ihrer Entlassung aus einer Klinik, in der sie wegen Depressionen behandelt wurde, begeht die Freundin Selbstmord. Mit zwei Sätzen – einer über das, was Thomas nach der Beerdigung macht, und einer über sein Aussehen eine Woche später – vermittelt der Autor dessen Verzweiflung, ohne dass Worte von Trauer oder Schmerz fallen. Im letzten Kapitel vor dem Epilog greift Le Tellier die Geschichte wieder auf und schildert ein unbeschwert-schwärmerisches Gespräch zwischen den zwei jungen Verliebten.


    Die wörtliche Übersetzung des Originaltitels „Genug geredet über die Liebe“ ist programmatisch in ihrer Doppeldeutigkeit: Zum einen für die Protagonisten (wir reden nicht von Liebe, wir tun es einfach), zum anderen für das Buch (es gibt genug Liebesgeschichten, hier kommt etwas anderes).


    Fazit:
    Wer Beziehungsgeschichten mag, findet mit diesem Buch einen beachtenswerten Roman; passionierte Liebesromanleser könnten das Herz vermissen.

    Was man an diesem Buch aussetzen kann: Die klischeehaften Charaktere (der reiche Tyrann, der sich die Kontrolle über Familie, Region, Polizei und Presse kauft; die taffe Journalistin, deren Selbstsicherheit ihr alle Türen öffnet; die kleine dicke Polizistin, furchlos, aber reizend; der obrigkeitshörige Polizeichef ...), die Liebesgeschichte ohne Feuer, die arg auf Überraschungseffekte hin konstruierte Verknotung der beiden Fälle und zwei höchst überflüssige, vom Motiv nicht nachvollziehbare und nur der moralischen Gerechtigkeit am Ende dienenden Morde.


    Dennoch habe ich das Buch mit Vergnügen gelesen. Vielleicht, weil nur so viel Blut spritzt, wie man es für die Beschreibung eines Mordes braucht? Vielleicht, weil durch die kurzen Kapitel und den ständigen Wechsel von Ort und Zeit keine Minute Langeweile aufkommt? Vielleicht, weil endlich eine Autorin auf die stereotype Schluss-Sequenz "Held-in-Gefahr" verzichtet?


    Auch wenn sich auf keiner Seite im Internet ein Beleg finden lässt, dass "Nacht unter Tag" zu einer Reihe gehört, möchte ich darauf hinweisen, dass man dieses Buch NICHT vor Echo einer Winternacht lesen sollte, weil Fall und Auflösung jenes Buches im vorliegenden an mehreren Stellen nicht nur erwähnt, sondern in Einzelheiten dargestellt werden.

    Allgemeines:
    Originaltitel: Onnelinnen mies
    aus dem Finnischen übersetzt von Regine Pirschel
    191 Seiten in 34 Kapiteln + Nachwort


    Meine Meinung:
    Jaatinen ist bei seinen Arbeiter, die die Brücke bauen, sehr beliebt. Er sorgt für gerechte Löhne, den nötigen Ausgleich zwischen Arbeit und Freizeit und versteht es, das Wir-Gefühl zu stärken. Anders bei den Honoratioren des Ortes, Bürgermeister, Pfarrer und Baumeister, die ihn gern vertreiben würden. Der Kampf Volk gegen Funktionäre geht pro Jaatinen aus. Aber das ist erst der Anfang.
    Jaatinen, ein Schlitzohr und Tausendsassa, verfügt über unbegrenzte Phantasie, alles nach seinem Kopf zu gestalten, ob er Eisenbahnen verlegt, bei demokratischen Wahlen mauschelt oder Frauen um den Finger wickelt. Das Glück scheint ihm hinterher zu laufen.


    Steht der Leser während seiner ersten Coups noch ganz auf seiner Seite - endlich einer, der es allen zeigt! - beginnt man sich nach der Hälfte des Buches zu langweilen: Jaatinen nimmt ein neues Projekt in Angriff, gleichermaßen begünstigt vom Glück und den eigenen Tricks. Dann kommen die ersten Schwierigkeiten, oft von den Strippenziehern im Hintergrund heraufbeschworen, aber Jaatinen bewältigt alle und macht seine Pläne und Träume wahr. Nebenbei setzt er seine Gegner schachmatt und gründet mehr als eine Familie.


    Die einzelnen Episoden um die Projekte des Protagonisten lesen sich flockig-locker, sind mit Witz und komischen Einfällen geschrieben. Doch irgendwann verlassen den Autor die zündenden Ideen, und er schreibt Variationen zum Thema.


    Fazit:
    Nicht so schlecht wie "Zehn zärtliche Kratzbürsten", aber nicht so gradlinig komisch wie "Im Wald der gehenkten Füchse". Für Fans.