Donatella Di Pietrantonio - Meine Mutter ist ein Fluss

  • Klappentext:
    „Meine Mutter ist ein Fluss. Ein Fluss waren ihre dunklen, feinen Haare, die zu beiden Seiten ihr Gesicht umströmten, wellige Kaskaden über der Brust, wenn sie sie abends kämmte, nach all der Arbeit.“
    Eine Tochter betrachtet ihre Mutter. Sie droht ihr zu entgleiten, denn das Alter frisst an ihren Erinnerungen, verändert ihre Persönlichkeit. Wie sie wiederfinden, wie Frieden schließen mit den alten Verletzungen, dem Mangel an Worten, der ungestillten Sehnsucht nach Nähe und Zärtlichkeit? Geschichten sind eine Brücke. Und so beginnt die erwachsene Tochter, die ein ganz anderes Leben führt, der Mutter deren eigene Geschichte zu erzählen: die einer armer Bauernfamilie in den Abruzzen, in der die Männer als Wanderarbeiter in die Fremde gingen, während die Frauen die kargen Felder bestellten, für das Überleben sorgten. In der die harte Arbeit keinen Platz für Gefühle ließ, nicht mal für die Liebe zum eigenen Kind. In einer Sprache von eindringlicher Poesie erzählt Donatella Di Pietrantonio in ihrem mehrfach preisgekrönten Debütroman die bewegende Geschichte einer Versöhnung und entführt uns zugleich in das unbekannte, archaische Italien der Abruzzen.
    (von der Verlagsseite kopiert)


    Zur Autorin:
    Donatella Di Pietrantonio wurde in Arsita, einem kleinen Dorf in den Abruzzen geboren und lebt heute in Pescara. Ihr Debütroman gewann kurz hintereinander mehrere renommierte italienische Literaturpreise. (von der hinteren Klappe kopiert)


    Allgemeine Informationen:
    Originaltitel: Mia madre è un fiume.
    Erstmals erschienen 2011 bei Elliot Edizione Rom
    Aus dem Italienischen übersetzt von Maja Pflug
    In der Übersetzung 2013 im Antje-Kunstmann-Verlag erschienen
    Eine Ich-Erzählung, die von Erzählpassagen in der Anredeform unterbrochen ist.
    Abschnittweise aufgeteilt, nur kenntlich durch den Druck und die großen Anfangsbuchstaben.
    Mit Danksagung 172 Seiten


    Inhalt:
    Esperina Viola, die Mutter der Ich-Erzählerin, ist Jahrgang 1942, sie wird inzwischen von verschiedenen Altersgebrechen geplagt, von denen die Demenz für die Tochter das Schlimmste ist. Bei ihren häufigen Besuchen erzählt die Tochter der Mutter deren Lebensgeschichte, anfangs in der Hoffnung, das zerstörte Gedächtnis wieder zu beleben, später, um kleine Erinnerungen zu wecken und selbst nichts zu vergessen.


    Eigene Meinung / Bewertung:
    Indem die Autorin ihre Protagonistin der dementen Mutter deren Leben erzählen lässt, entfaltet sie 50 Jahre italienische Geschichte. Nicht die Geschichte der Politik oder des Landes, sondern die Geschichte einfacher Leute, die mit Mühen und harter Arbeit ihr Geld verdienten, und für die große gesellschaftliche Umbrüche nur am Rande eine Rolle spielten.


    Esperina wächst mit vier Schwestern auf einem Hof in den Abruzzen auf. Von Kindheit an müssen die Schwestern in der Landwirtschaft anpacken und sind mitverantwortlich für das Vieh und die Hausarbeit. Nach der Heirat mit Cesare lebt das Paar zunächst bei Eltern und Schwiegereltern, ehe es sich sein eigenes Haus und den eigenen Betrieb leisten kann.
    Als Kind litt die Tochter sehr darunter, dass anderes für die Mutter anscheinend immer wichtiger war als Zuwendung und Zärtlichkeit: Das Vieh, die Felder, die Hausarbeit. Heute leidet sie daran, ihre Mutter wieder zu verlieren. An die Krankheiten, vor allem an den Verlust des Gedächtnisses, an die Leere, in der diese inzwischen lebt, und irgendwann an den Tod. Überdies muss sie sich mit ihrem Schuldgefühl auseinandersetzen: Dass sie sich als Kind vernachlässigt fühlte und dass sie, damals wie heute, ihrer Mutter nicht mit Verständnis begegnen kann. Dennoch sorgt sie sich rührend, obwohl sie ein Architekturbüro besitzt und eine eigene Familie hat.


    In den Familiengeschichten, die bis in die Zeit der Großeltern zurückreichen, werden alte Konflikte innerhalb einzelner Familien und Generationen angesprochen, Zwistigkeiten, wie sie vorkommen, wenn Menschen immer mit denselben anderen Menschen auf engstem Raum leben und arbeiten.


    Eindrucksvoll, dabei leise und unspektakulär führt die Autorin den Leser in eine Welt, die fern und weit weg scheint, aber dennoch mit der Gebrechlichkeit und der Pflege der Mutter aktuell wird und näher rückt.


    Auf poetische Weise, mit einem präzisen Blick für Atmosphäre und Stimmungen schildert Di Pietrantonio Landschaft, Jahreszeiten und Licht ihrer Heimat und schafft so eine lebendige Entsprechung von „Außen“ und „Innen“.


    Das Buch enthält Elemente aus „Herbstmilch“ und „Der alte König in seinem Exil“. Wer also Romane dieser Art gern liest, wird auch an „Meine Mutter ist ein Fluss“ seine Freude haben.


    Fazit:
    Eine liebevolle Erzählung über ein entbehrungsreiches, arbeitsames Leben, dem leider kein entspannter, sorgenloser Abend zuteil wird.

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



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  • Das Leben einer Mutter und die Beziehung zu ihrer Tochter beinhalten eine Menge an Erfahrungen, an erlebten Geschichten, aber auch an erlittenen Verletzungen, an Schmerz. Hier im speziellen Fall der Ich-Erzählerin aus den Abruzzen kommen noch dazu ein für heutige Menschen kaum vorstellbarer Mangel an Worten und eine ungestillte Sehnsucht nach Nähe, Geborgenheit und Zärtlichkeit.


    Die ich-erzählende Tochter spürt, wie die Mutter ihr entgleitet. Die Mutter, die sie noch so vieles fragen, mit der sie sich noch auseinandersetzen wollte, streiten – und von der sie vielleicht ein einziges Mal so etwas haben wollte, wie die normale Nähe einer Mutter zu ihrer Tochter. Doch die Mutter verändert sich, ihre Erinnerungen werden weniger, die Krankheit, die das Gehirn frisst, verändert zunehmend ihre Persönlichkeit.


    Und weil nicht nur in den Abruzzen Geschichten schon immer eine Brücke zwischen Menschen und Generationen waren, beginnt die Erzählerin ihrer Mutter deren eigene Geschichte zu erzählen. Eine Geschichte, die 1942 beginnt und die geprägt ist vom Schicksal armer Bauernfamilien in den Abruzzen, von Männern, die in der Fremde als halbe Sklaven ihr Geld verdienen und von Frauen, die das wenig fruchtbare Land bestellen um das Überleben der Familie zu sichern. Ein Leben, in dem kaum Platz bleibt für Gefühle, auch nicht für die eigenen Kinder.
    „Die dunklen Wege, auf denen sich das chronische Verlangen nach der Mama verloren und ins Gegenteil verkehrt hat, beschäftigen mich. Die Verweigerung körperlicher Nähe, die Angst davor. Als die Reihe dann an mir war, konnte ich ihr nichts als Mangel zurückgeben, Ich betrachte hinter uns den Garten voller Wege, die sich gabeln. Ich kann ihr nur ihr eigenes Leben schildern.“´


    Und das tut sie (Donatella Di Pietrantonio) mit einer dichten Sprache voller Poesie, die dem Leser nicht nur ein schweres Leben beschreibt, sondern mit der sie sich regelrecht frei schreibt, ihrer Mutter und der gemeinsamen schwierigen Lebensgeschichte immer näher kommt, bis sie einen vorher nicht für möglich gehaltenen Punkt erreicht, an dem so etwas erfahrbar wird wie Versöhnung zwischen Tochter und Mutter. Eine Versöhnung, die es der Tochter auch in der Zukunft ermöglichen wird, selbst mehr als Mangel zurückzugeben.


    Ein wunderbarer Debütroman mit einer berührenden Geschichte aus der noch archaisch anmutenden Welt der Abruzzen. Von dieser Autorin möchte man mehr lesen.