Mark Twain - Nr. 44 Der geheimnisvolle Fremde (ab 06.01.2012)

  • Mittlerweile hab‘ ich das Büchlein durch, und muss sagen, dass ich das Buch als eine einzige, fette Satire empfinde, und zwar als eine sehr gut geschriebene; auch der Logikfehler (so wie ich ihn wahrzunehmen glaube) im letzten Kapitel tut der extrem gut geschriebenen Geschichte mit vor treffsicherem Zynismus sprühenden Witz keinen Abbruch, im Gegenteil: der Sprung in der Logik könnte sogar vom Autor beabsichtigt sein, um die Satire dadurch noch auf den Gipfel zu treiben.


    Aber jetzt wieder der Reihe nach:


    Zu Kapitel 32:


    44 berichtet, dass es Probleme mit dem zeitlichen Vorlauf für das Geisterfest gibt, da einige der berühmten Geister Probleme bezüglich ihrer Anreisezeit oder der Garderobenauswahl hätten (Ha, ha!). Er wählt anstatt der Lösung, sie Zeit still stehen zu lassen, die zweite Möglichkeit, nämlich die Zeit um ein paar Tage rückwärts laufen zu lassen, um

    Zitat

    Robert Bruce, Heinrich I. und den anderen, die ihre Sachen hier und da und dort verstreut haben, so entgegenzukommen, dass sie Zeit genug haben, sich einen Korb zu schnappen und alles einzusammeln. :totlach:


    Dann beginnt die Passage mit dem zeitlichen Rücklauf; auch hier wieder scheint Mark Twain mit diebischer Freude die entsprechenden Details ausgearbeitet zu haben: auf S. 208 liest man einen aus lauter Satzfetzen scheinbar sinnlos zusammengesetzten Text, bis man sich auf einmal vor die Stirn schlägt und erkennt, dass es sich um die rückwärts gespulte Rede des 44 von der Seite zuvor im Text handelt.
    Für den armen August ist das alles ein bisschen zuviel, sein Kopf dreht sich ihm. Er schläft ein paar Stunden und danach hält er sich dezent im Hintergrund, als alle Tätigkeiten und Vorgänge wie beim zurückspulen eines Filmes ablaufen; als die Zeit zurückkehrt zu seinem Faux-pas in betrunkenem Zustand in Margrets Schlafzimmer, zieht er es vor, nicht hineinzugehen und nüchtern zu bleiben.


    Ein Kapitel, bei dem sich auch mir der Kopf gedreht hat und das ich äußerst amüsant fand – ein meines Empfindens nach mit viel Esprit und sehr gekonnt geschriebenes Kapitel.

    » Unexpected intrusions of beauty. This is what life is. «


    Saul Bellow, (1915-2005 ), U.S. author,
    in Herzog

    2 Mal editiert, zuletzt von Hypocritia ()

  • Gib ihnen einen Schuldigen und sie zerreißen ihn gedankenlos im Namen irgendeiner Kirche oder auch Sekte, in Stücke. Schlimm ist, dass sich da seit Twains Zeiten nicht viel geändert hat. Daran muss Nr. 44 auch gar nicht herumbasteln. Offensichtlich ist dies Teil des menschlichen Wesens.


    Stimme ich Dir zu, der Ansturm der Bewohner von Eselsdorf in ihrer rasenden Wut ist bestimmt genau auf diesen Punkt zu beziehen - das war mir nicht aufgefallen.



    Das Benehmen von 44 kann man sicher recht gut als zynische Betrachtung dieser Heilsbringer verstehen.
    Allerdings bin ich der Meinung, dass einige seiner (44) philosophischen Gedanken durchaus zum Nachdenken anregen.


    Ja, es sind auf jeden Fall solche Ansätze im Buch enthalten, philosophische wie auch psychologische, wie Du schon vor ein paar Tagen angesprochen hast - da bin ich mit Dir einverstanden.

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  • 44 berichtet, dass es Probleme mit dem zeitlichen Vorlauf für das Geisterfest gibt, da einige der berühmten Geister Probleme bezüglich ihrer Anreisezeit oder der Garderobenauswahl hätten (Ha, ha!). Er wählt anstatt der Lösung, sie Zeit still stehen zu lassen, die zweite Möglichkeit, nämlich die Zeit um ein paar Tage rückwärts laufen zu lassen, um


    Zitat
    Robert Bruce, Heinrich I. und den anderen, die ihre Sachen hier und da und dort verstreut haben, so entgegenzukommen, dass sie Zeit genug haben, sich einen Korb zu schnappen und alles einzusammeln. :totlach:

    Ist das nicht unglaublich! Ein wunderbares Kapitel, das Witz, Satire und Spannung genial vereint.


    Ein Kapitel, bei dem sich auch mir der Kopf gedreht hat und das ich äußerst amüsant fand – ein meines Empfindens nach mit viel Esprit und sehr gekonnt geschriebenes Kapitel.

    Ja, und ich bin schon sehr gespannt auf den Einzug all der eingeladenen historischen Persönlichkeiten, denn Nr. 44 wird auch hier wohl vor nichts
    und niemandem zurückschrecken. Ist schließlich seine letzte Vorstellung und da wird er August einiges zu bieten haben.


    lg taliesin :winken:

    Wir sind der Stoff aus dem die Träume sind und unser kleines Leben umfasst ein Schlaf.

    William Shakespeare


    :study: Robert Seethaler - Das Cafe ohne Namen

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  • Kapitel 33


    Was für eine Prozession nun hier vor unseren Augen vorbeimarschiert! Passend zur Vorstellung produziert Nr. 44 nun auch eine Sonnenfinsternis
    die dies alles in einem noch unheimlicheren Licht erscheinen lässt. Wie ein Moderator der Toten kommentiert Nr. 44 nun für August jede
    auftauchende historische Person und, es ist kaum zu glauben, er hängt ihnen auch noch ein Namensschildchen und Erscheinungsdatum um.
    Das ist wirklich der Gipfel! :pray:


    Und so tauchen sie nach und nach auf: David und Goliath, Adam und Eva, ein paar Caesaren, Karl der Große, Kleopatra, "Dagobert"
    und auch König Artus mit samt seinen Rittern. Nicht zu vergessen Noah und seine Besatzung der Arche, die allerdings etwas verwirrt darüber sind,
    dass sie jetzt festen Boden unter den Füßen haben. Ihre Unterhaltung scheint August einseitig weil sie nur übers Wetter reden.


    Natürlich lässt Nr. 44 auch >das fehlende Glied in der Kette< marschieren. Dannach suchen unsere Anthropologen schließlich heute noch.
    Zehntausende lässt er passieren und dann, mit einem Wink seiner Hand, löst sich alles auf. Es herrscht Stille.


    Hallo Hypocritia: Was stellen wir denn mit dem Abschlusskapitel an? Das ist denkbar schwer zusammenzufassen und am liebsten würde ich es einfach
    in Gänze zitieren.


    Aber ich dein armer Sklave habe dich dir selbst entdeckt und dich befreit. Träume andere Träume, und bessere...............

    Wir sind der Stoff aus dem die Träume sind und unser kleines Leben umfasst ein Schlaf.

    William Shakespeare


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  • Auch mir hat Kapitel 33 sehr gut gefallen, ein richtig pompöses und bombastisches Finale mit ungalublichem Humor. Und danach die spürbare Stille. So, als ob man ein paar Stunden in einem Konzert neben Riesenboxen stand und plötzlich die fühlbare Stille, wie Vakuum, in den Ohren.


    Kapitel 34 ist ein wirklich sehr kurzes Kapitel, und lässt sich auch meiner Meinung nach nur sehr unzulänglich zusammenfassen. Es ist wirklich sehr schön. Ich bin einverstanden mit der Komplett-Wiedergabe "als Zitat". :applause:

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  • Letztes Kapitel


    Nichts existiert, außer dem leeren Raum - und dir!


    Diese Aussage von Nr. 44 sehe ich als die zentrale Aussage dieses Kapitels, in dem der Fremde versucht seine Sicht der menschlichen Existenz
    und Bestimmung zu erklären.


    Das Kapitel beginnt mit einer traurigen und endgültigen Feststellung unseres Erzählers August. man leidet mit ihm und spürt die Verzweiflung
    des jungen Mannes ob dieses Abschieds:


    Zitat

    >Und du gehst fort und wirst nie mehr zurückkommen.<
    >Ja, sagte er, >wir waren lange Zeit Kameraden, und es war schön - für uns beide.
    Aber ich muss jetzt gehen, und wir werden einander nicht wiedersehen.<
    >Nicht in diesem Leben, 44, aber in einem anderen? Wir treffen uns doch sicher in einem anderen, 44?<

    Die Antwort des Fremden ist diesmal ehrlich und offen. Zum ersten mal hat man das Gefühl, dass dieses Wesen wohl doch menschliche Gefühle
    nachvollziehen kann. Er scheint zu wissen, was das Wort Kamerad bedeutet.
    Er erklärt, dass es kein anderes Leben gibt und das alles was er erlebt hat doch nur eine von ihm selbst geschaffene Illusion ist. Ein Traum.........


    So verlassen wir nun August und den geheimnisvollen Fremden und bleiben nachdenklich zurück. Des Fremden Abschiedsworte sollen hier nicht weiter
    kommentiert werden, denn es ist dem Leser überlassen, einige seiner Gedanken zu interpretieren und seine Sichtweisen zu überdenken.


    lg taliesin :winken:

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  • Diese Aussage von Nr. 44 sehe ich als die zentrale Aussage dieses Kapitels, in dem der Fremde versucht seine Sicht der menschlichen Existenz und Bestimmung zu erklären.


    Des Fremden Abschiedsworte sollen hier nicht weiter
    kommentiert werden, denn es ist dem Leser überlassen, einige seiner Gedanken zu interpretieren und seine Sichtweisen zu überdenken.


    Dieses letzte Kapitel geht wohl einem jeden Leser bis tief unter die Haut; ich denke, das kann man behaupten, ohne sich zu weit hinauszulehnen. Es ist viel zu ergreifend geschrieben, als dass man sich diesem Effekt, bei dem einem der Atem stockt, entziehen könnte.


    Auch ich würde es für inkorrekt erachten, die Bedeutung der Worte des Fremden weiter zu erörtern; wie immer gilt: man kann sich etwas aus einem Buch mitnehmen oder dem ablehnend gegenüberstehen - das bleibt jedem Leser selbst überlassen; da es sich um solch ein großes Thema wie Ursprung und Bestimmung im Leben handelt, würde man sicherlich mit dem Ausdruck einer eigenen Meinung den einen oder anderen vor den Kopf stoßen.
    Hierdurch Verstimmung zu verursachen, das verdient ein so grandios geschriebenes Buch wie Mark Twains Nr 44 - Der geheimnisvolle Fremde, das noch dazu in einem solch würdigen und gleichzeitig feierlichen Abschluss gipfelt, einfach nicht.


    Das Ende, das Twain hier gefunden hat, verdient meiner Meinung nach größten Respekt: er hat die Geschichte sehr konsequent und mit aller gedanklichen Härte zum Abschluss gebracht, wobei er sprachlich die Schlichtheit des Grundgedankens wunderschön unterstreicht. Ein sehr ergreifendes und würdiges Ende für eine wundervolle Erzählung! :pray:

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    Einmal editiert, zuletzt von Hypocritia ()

  • Danke euch beiden, ihr habt mich an diesen utopischen und skurilen Roman teilhaben lassen, ich werde auf jeden Fall versuchen dieses Buch zu bekommen, trotz Buchkaufverbot. :wink:
    Liebe Grüsse Mara

    :study: Ich bin alt genug, um zu tun, was ich will und jung genug, um daran Spaß zu haben. :totlach: na ja schön langsam nicht mehr :puker:

  • Ich schließe mich Mara an und versuche gleichzeitig - entschuldigt das off-topic - euch für eine Minileserunde zu "Garp und wie er die Welt sah" anzuwerben.
    Husch bin ich wieder im Verabredungsthread! :lol:


    Mit John Irving kann man mich jederzeit locken. Da kann ich kaum gegen an........... :lechz: Husch in den Verabredungsthread. :wink:

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