Antonia S. Byatt - Das Buch der Kinder / The Children's Book

  • Die Handlung dieses umfangreichen Wälzers, der ein Vierteljahrhundert und eine große Fülle an Figuren umspannt, beginnt in den 1890er Jahren in London. Im Mittelpunkt steht das Schriftsteller- bzw. Journalistenpaar Olive und Humphry Wellwood, die mit ihrer Kinderschar ein bohèmehaftes Leben führen, der glücklose Töpfer Benedict Fludd mit seiner anthroposophisch angehauchten Frau und drei Kindern und der verwitwete Major Prosper Cain, heute in führender Position in einem Londoner Museum tätig, mit seinen beiden Kindern. Und der künstlerisch sehr begabte Philip, den Julian Cain und Tom Wellwood eines Tages im Keller des Museums aufgestöbert haben, wo sich der Junge eingenistet hatte, um nicht auf der Straße leben zu müssen.


    Wir begleiten die zahlreichen Charaktere durch spannende Zeiten, im Großen wie im Kleinen. Es ist die Zeit großer Umbrüche in Gesellschaft und Politik wie auch völlig neuer Bewegungen in Kunst und Literatur. Die Hauptfiguren bewegen sich in Künstlerkreisen, so dass auch einige reale Personen jener Zeit in Gastrollen auftreten. Die neuesten Entwicklungen werden in ausgiebigen Diskursen erörtert.


    Gleichzeitig schildert Byatt, wie die Kinder der drei Familien heranwachsen, ihre Nische in der sich verändernden Welt suchen, wie sich die Strukturen innerhalb der Familien wandeln, bis das Blutvergießen des ersten Weltkrieges alle in irgendeiner Weise einholt. Detaillierte Darstellung der künstlerischen Tätigkeiten fließen auf gelungene Weise mit ein - einige von Olive Wellwoods ungewöhnlichen Kindergeschichten sind Bestandteil des Buches und werfen ein interessantes Licht auf einige Ereignisse und Gegebenheiten ihres Familienlebens.


    Das Buch ist keine leichte Familiensaga, sondern eine tiefergehende Auseinandersetzung mit den großen Themen aus der Zeit der Jahrhundertwende und den großen Themen des Lebens. Die intellektuellen Diskussionen waren ab und an ein wenig schwer nachzuvollziehen, weil es mir da wohl teils an Hintergrundwissen fehlte, ansonsten transportiert Byatt wunderbar die Aufbruchsstimmung, die Befreiung von gesellschaftlichen Zwängen, die neuen Strömungen in der Kunst, exemplarisch an den handelnden Personen aufgezeigt. Die Charakterzeichnung geht dabei nicht bei allen in die Tiefe, gelingt aber angesichts der Vielzahl an Figuren erstaunlich gut.


    Am beeindruckendsten fand ich jedoch die letzten Kapitel über den Krieg. Das blutige Grauen der Kämpfe, das sinnlose Sterben so vieler, die Wunden an Leib und Seele, die dieser Krieg überall hinterlässt, werden schmerzhaft lebendig - in oft ganz lakonischen Sätzen, die das Entsetzen viel besser wiedergeben können als so manche ausufernde Schlachtenschilderung.


    Kein unbedingt einfaches Buch, aber ein gutes.


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    Why say 'tree' when you can say 'sycamore'?
    (Leonard Cohen)

    Einmal editiert, zuletzt von Magdalena ()

  • @ Magdalena:


    Von diesem Buch hatte ich bislang noch nichts gehört, deswegen danke ich dir für deine interessante Buchvorstellung. Vom Thema her klingt es ganz interessant, aber ich befürchte, dass mir das Buch zu intelligent ist. Du schreibst ja, dass vor allem die Dialoge sehr intelligent sind. Wie würdest du denn den Schreibstil einschätzen? Ist der sehr anspruchsvoll und literarisch?

    "Hab Vertrauen in den, der dich wirft, denn er liebt dich und wird vollkommen unerwartet auch der Fänger sein."
    Hape Kerkeling


    "Jemanden zu lieben bedeutet, ihn freizulassen. Denn wer liebt, kehrt zurück."
    Bettina Belitz - Scherbenmond


    http://www.lektorat-sprachgefuehl.de

  • @ Magdalena,


    vielen Dank, jetzt kann ich mir ein Bild machen. Ich hatte schon mit dem Buch geliebäugelt, weil ich Byatts "Besessen" großartig fand, aber durch andere ihrer Bücher, z.B. "Das Geheimnis des Biographen" habe ich mich eine Weile gekämpft und dann kapituliert, weil ständig Querbezüge zu gewichtigen Leuten und Entdeckungen aus Literatur und Wissenschaft gezogen wurden, dass mir einfach das Wissen fehlte, um die Bücher zu verstehen. Ich habe es nicht einmal mit Google geschafft.

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • Der Stil ist nicht schwer zu lesen. Anspruchsvoll ja, aber ich fand es nicht überzogen.


    Die Anspielungen auf bekannte Persönlichkeiten etc. versteht man, denke ich, ggf. mit Hilfe von Tante Google - und so zahlreich waren die intellektuellen Diskussionen nun auch wieder nicht, dass sie mir das Buch verleidet hätten. Ich habe einfach hingenommen, dass ich mit manchem wenig anfangen konnte. Ein bisschen Affinität zu "hochgeistigen" Gesprächen braucht es aber wohl schon, um das Buch zu mögen.

  • Danke für deine Rezi, Magdalena. Das Buch habe ich in meiner Bibliothek vorbestellt. Nun weiß ich was mich erwartet und mein Gefühl scheint ich mich nicht getrogen zu haben. Leider sind einige Leser vor mir. Aber für die Zwischenzeit habe ich mir "Besessen" von der Autorin mitgenommen.

  • @Karthause: wie schön - "Besessen" ist ein wunderbares Buch. Ich hoffe, es gefällt Dir auch so gut wie mir.

  • Aber für die Zwischenzeit habe ich mir "Besessen" von der Autorin mitgenommen.


    "Besessen" ist ein wunderbares Buch. Ich hoffe, es gefällt Dir auch so gut wie mir.


    Schließe mich an.
    "Besessen" steht auf meiner "immerwährenden Top-10".

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  • K.-G. Beck-Ewe

    Hat den Titel des Themas von „Antonia S. Byatt - Das Buch der Kinder“ zu „Antonia S. Byatt - Das Buch der Kinder / The Children's Book“ geändert.