Inhalt:
Der junge Historiker Felipe Montero meldet sich auf ein gut bezahltes Stellenangebot im alten, halbverfallenen Gebäude der Straße Donceles 815 in Mexiko-City. Die über hundertjährige, wunderliche und verschrobene Witwe des vor Jahrzehnten verstorbenen Generals Llorente beauftragt ihn, alte Dokumente ihres Mannes aus dem 19. Jahrhundert zu dessen Memoiren zu verarbeiten. Zwecks Beschleunigung dieser Tätigkeit muss Felipe ein Zimmer in Doña Consuelos Haus beziehen. Er gerät völlig in den Bann der jungen Aura, der Nichte der Witwe, die auch dort wohnt. Er nimmt jedoch an ihr abwesende, wie traumgelenkte Bewegungen und eine unheimliche Abhängigkeit von ihrer Tante wahr. Aura ergreift trotz ihres seltsamen Benehmens die Initiative zu einer Romanze mit Felipe, der in wenigen Tagen im Haus in unerklärliche Verwirrung gerät. Diese Verwirrung begründet sich neben seltsamen Begebenheiten im Haus selbst auch in den alten Dokumenten des Generals Llorente, denn er glaubt, die junge Aura in den Beschreibungen des Generals über seine junge Ehefrau Consuelo wiederzufinden. Zudem erkennt Felipe sein eigenes Ebenbild im jungen General Llorente auf dessen Fotos aus früheren Zeiten. All dies führt Felipe schließlich zu einer grausigen Einsicht …
Zum Autor Carlos Fuentes Macías: 1928 als Sohn eines mexikanischen Diplomaten in Panama geboren, war er selbst nach Abschluss seines Studiums in Mexiko und Genf als Diplomat für Mexiko tätig, unter anderem als Botschafter in Paris. Schon während seiner Studienzeit und seiner eigenen Diplomatenlaufbahn veröffentlichte er mehrere Kurzgeschichten und Essays. Gleichzeitig vertrat er den Posten des Herausgebers mehrerer Zeitschriften. Später folgten auch vielzählige Romane und Drehbücher. Carlos Fuentes zählt zu den bedeutendsten Vertretern der lateinamerikanischen Literatur. Seine Werke wurden mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet, er selbst erhielt mehrere Ehrendoktorwürden, darunter die der Freien Universität Berlin.
Die Auseinandersetzung mit Mexikos Geschichte und seinem Alltag stellt den Schwerpunkt in den literarischen Arbeiten von Carlos Fuentes dar, als deren wichtigstes Beispiel der Roman „Terra Nostra“ zu nennen ist, in dem der Autor auf das Mexiko der Kolonialzeit im 16. Jahrhundert bis hin zum Mexiko der Gegenwart eingeht.
Mein Kommentar zu Aura:
Aura stellt eine Novelle dar, die dem Stil des Magischen Realismus zuzuordnen ist, Realität und Phantasie verschmelzen im Laufe der Erzählung immer stärker. Dabei verwendet der Autor für den Zustand des Verfalls im alten Haus eine Fülle von Adjektiven und lebendiger Beschreibungen, die alle fünf Sinne im Leser ansprechen. Auch die zunehmend seltsamen und verwirrenden Begebenheiten in Donceles 815 werden mit einer Eindringlichkeit beschrieben, der man sich als Leser nicht entziehen kann. Die Art und Weise, in der Carlos Fuentes Felipes Wahrnehmung der schrulligen Alten von einem unheimlichen Gefühl bis hin zum verzweifelten Grauen steigert, ließ mir mehrfach Schauer der Faszination über den Rücken laufen. Die Erzählung nimmt den Leser auf die gleiche freiwillige Art gefangen, die auch Felipe Montero im Haus von Doña Consuelo festzuhalten scheint.
Interessante Erzählperspektive:
Der Autor verwendet in Aura merkwürdigerweise die zweite Person, um die Erlebnisse des Felipe Montero zu beschreiben. Dadurch kann man als Leser die Erzählung zwar nur aus Felipes eingeschränkter personaler Sicht miterleben, gleichzeitig beobachtet man ihn aber von außen. Ich habe den Eindruck, dass man als Leser so als eine Art Zeuge für die unheimlichen Begebenheiten fungiert. Der Vorteil der Verwendung der zweiten statt der ersten Person in der Novelle liegt meiner Meinung nach darin, dass der Leser nicht versucht wird, Felipe Montero für durchgedreht und unzurechnungsfähig zu halten. Das reale Element in den phantastischen Teilen bleibt so erhalten.
Sowohl die Geschichte selbst als auch die Erzähltechnik in Aura haben mich jetzt, mehr als zehn Jahre nach dem ersten Lesen der Novelle, von Neuem begeistert. In Mexiko wird Aura, meiner Meinung nach zu Recht, als Pflichtlektüre für die Oberstufe eingesetzt.
Für diejenigen, die sich für den geschichtlichen Hintergrund zu Aura interessieren:
Dass Carlos Fuentes mit Aura wohl nicht nur eine phantastische Gruselgeschichte zu Papier gebracht hat, davon sind die Mexikaner überzeugt - Fuentes habe auch hier einen Teil der Geschichte ihres Landes als Grundgedanken hinterlegt. Verschiedene Interpretationen weisen auf die Zeit der Französischen Intervention in Mexiko (1861 – 1867) hin:
Mexiko hatte nach drei Jahrhunderten von grausamer Herrschaft und Unterdrückung durch Spanien 1821 seine Unabhängigkeit von der Kolonialmacht erreicht. Der Anfang zu einer eigenen Identität als Nation gestaltete sich schwierig, und bereits nach nicht einmal vier Jahrzehnten als Republik mit eigener Verfassung und Präsidenten wurde Mexiko 1862 noch einmal bekämpft und besiegt, diesmal von den Franzosen. Napoleon setzte den Habsburger Maximilian von Habsburg als Kaiser von Mexiko ein, um von den großen Gold- und Silbervorkommen in Mexiko zu profitieren. Dieser Umstand dauerte jedoch nur wenige Jahre (bis 1867).
Wenn sich Carlos Fuentes in seiner Novelle Aura tatsächlich auf die Zeit unter Maximilian von Habsburg bezieht (was mir selbst im Hinblick auf Carlos Fuentes literarischen Schwerpunkt logisch erscheint), dann findet sich Frankreich in der Person von Doña Consuelo verkörpert. Sie sucht die Kontrolle über Felipe Montero, der für Mexiko steht.