Hermann Bräuer - Haarweg zur Hölle

  • Zugegeben: solche Bücher “muss man mögen”, sonst wird das nichts. Ich mag derartige Geschichten: Ein paar Leute erzählen einfach nur, was sie so machen oder gemacht haben. Aber dann müssen sie auch wirklich was machen und nicht nur daherlabern und über ihre Gefühle reflektieren! Gemacht wird hier eine Menge, und zwar in erster Linie erwachsen geworden (oder naja… “erwachsen” halt). Zu diesem Zweck gründet man eine Band, um total erwachsen Frauen aufzureißen. Die Thematik hat mich ein wenig an das von mir sehr geschätzte Im Jahr der Weiber von Kurt Appaz erinnert. Das Buch war dann auch tatsächlich irgendwie ähnlich, und doch ganz anders. Im Jahr der Weiber liegt der Handlungszeitraum in den 70ern, der Haarweg zur Hölle ist ein Jahrzehnt später angesiedelt, in den 80ern. 80er Jahre und Musik – da denkt man natürlich als erstes an Modern Talking oder Depeche Mode, aber eher nicht in erster Linie an eine völlig verkannte Musikstilrichtung: Den Hair Metal. Und der heißt wirklich so, was ich auch erst beim Nachlesen auf Wikipedia herausfand. Gemeint sind Bands wie Europe, Cinderella, Bon Jovi oder Guns n Roses – die stets perfekt gestylt und mit enorm auftoupierter Matte anzutreffen ware. Und bei denen es “gar nicht darauf ankommt, wie brillpant das Solo ist, dass der Gitarrist gerade sielt, sondern welche Hose er dabei trägt und dass diese im Idealfall vorne richtig gut bestückt ist.”


    So gründet man denn die Band “Llord Nakcor”, nennt sich selbst in Anlehnung an Idole wie Nikki Sixx statt Andi und Dirk eben Rexx und Stikki und ist der festen Überzeugung, ein paar harte Gitarrenriffs, enge Hosen und taffe Songs, in denen sich Night grundsätzlich auf Fight reimt, ganz groß rauszukommen. Es war erheiternd und rührend zugleich, zu lesen, wie die Hauptperson und Ich-Erzähler Andi (ich lese am liebsten Ich-Erzähler Romane, da ist man immer gleich mittendrin statt nur dabei…) und seine Mannen sich selbst für arschcool und total rockig-tough halten mit ihren Gitarren und den harten, selbstgedichteten Metal Songs, während andere Gruppierungen Hair Metal absolut “schwul” finden – und umgekehrt!
    Das Buch lebt vor allem von dem schnodderigen Erzählstil und dem offensichtlichen Insiderwissen. Hermann Bräuer spielte in seiner Jugend selbst in mehreren Hair Metal Bands, und die Vermutung liegt nahe, dass weite Teile des Buches autobiographisch geprägt sind. Besonders gefallen hat mir die ordentliche Prise Selbstironie, mit der erzählt wird. Einerseits scheint dem Autor die Entwicklung seiner pubertären Helden am Herzen zu liegen, andererseits merkt man 20 Jahre später meistens ja selber, wie lächerlich manche verzweifelten versuche, erwachsen zu wirken, doch gewirkt haben müssen – vor allem, wenn man sich nicht anmerken lassen will, dass man im Grunde gar keine Ahnung hat.


    Trotz dieser Fixierung auf Äußerlichkeiten der neugegründeten Hair Metal Band, trotz des Fehlens eines klassischen Spannungsbogens und trotz des eher seichten Dahinplätscherns der Handlung ist ist das Buch nie oberflächlich, sondern gerade wegen der lakonischen Retrospektive eigentlich richtig herzerwärmend. Es ist ein bisschen Roadmovie, ein bisschen Popliteratur im weiteren Sinne, ein bisschen Alltagsblala und ein bisschen “Buch über das Erwachsenwerden”. Ein Buch über Träume, Wünsche und den Versuch, diese wahr werden zu lassen, aber auch über die Erkenntnis, dass manche Träume ganz schön desillusionierend sind, wenn man sie denn erreicht und auch darüber, dass leider das meiste im Leben vergänglich ist.
    Ich finde dieses sicherlich eher ungewöhnliche Buch schwer zu rezensieren, aber bei mir hat es eindeutig einen Nerv getroffen. Insofern kann ich nur eine Leseempfehlung aussprechen für alle, die schon immer gern Popliteratur gelesen haben und denen das Fehlen einer Handlung im eigentlichen Sinne nichts ausmacht, solange das, was beschrieben wird, dabei wenigstens ordentlich komisch ist.


    Definitiv eins der unterhaltsamsten und flottesten Bücher, die ich in der letzten Zeit gelesen habe und das leider viel zu schnell vorbei war! :thumright:
    :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5:

  • Danke für die tolle Rezi LilliBelle.
    Da ich einiges, meistens alte Sachen, aus dieser Musikrichtung sehr gerne mag (die übrigens momentan wieder etwas angesagter ist als noch vor einigen Jahren als sie komplett verschwunden war), möchte ich dieses Buch unbedingt lesen und es wandert gleich mal auf die Wunschliste. :D

  • Freut mich, dass ich dich neugierig machen konnte! Bin mit der Rezi eigentlich gar nicht so zufrieden, obwohl ich ewig daran gefeilt habe. Es ist sehr schwer, das Buch wirklich rüberzubringen. Ich habe es sehr genossen und für mich hätte es auch ruhig doppelt so dick sein können. Definitiv eines der Bücher, di eich behalten werde und auch nochmal lesen würde!
    Wenn du die Musikrichtung magst, wird es dir sicher gefallen, bin gespannt auf deine Meinung!

  • "Haarweg zur Hölle" war wirklich ein Riesenspaß! Humor zählt normalerweise nicht unbedingt zu meinen Lieblingsbüchergenres, dies war definitiv eins der besten Bücher aus diesem Bereich, die ich je gelesen habe. In erster Linie kann ich dieses Buch natürlich an Leute empfehlen, die mit dieser Musik etwas anfangen können und vielleicht, wie ich, damit aufgewachsen sind. Wir begegnen sämtlichen wichtigen Bands dieses Genres und auch diversen Randerscheinungen und Vorreitern, von Kiss und Van Halen über Mötley Crüe (Pamela Andersons Stecher oder Lebensgefährte oder wie immer man das nennen will konnte nicht nur Privatpornos drehen, sondern auch exzellent rocken! :wink: ) und Ratt, bis hin zu den obskuren Extrem-Christen Stryper, die in Bienenoutfit aufgetreten sind. Natürlich kommt auch die "Schnauzbartfraktion" nicht zu kurz, die eher auf der martialischen Ebene unterwegs war und keinen Wert auf Lippenstift und auftoupierte Haare legte. Ihre erste hautnahe Begegnung mit deren Fans wird die Band aus dem Buch, damals noch als Llord Nakcor unterwegs, wohl nie vergessen. :lol:


    Natürlich kann ich "Haarweg zur Hölle" auch jedem Nicht-Rocker ans Herz legen, der hier "nur" eine sehr spaßige und lustige Geschichte über eine junge Band serviert bekommt, gekrönt von Erfolgen und Rückschlägen, die allesamt wunderbar unterhaltsam erzählt werden und nie in Albernheit abdriften.


    Fröhlich gestimmt haben mich auch die kleinen Seitenhiebe auf Plattenfirmen, die nur das schnelle Geld wittern und jeden Trend ausschlachten. Ein weinendes Auge gab es dann bei mir noch am Ende als die Grunge-Phase kam und Hair-Metal und glattgebügelter Hard Rock von dieser Musikrichtung abgelöst und für lange Zeit zurückgedrängt wurde. Diese war nüchtern betrachtet vielleicht notwendig, aber mit gerade mal einer Handvoll in Erinnerung gebliebener Alben, bleibt sie eine der überbewertetsten Trends aller Zeiten.


    Ganz klar: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: