Chris Harding Thornton – Pickard County / Pickard County Atlas

  • Kurzmeinung

    Jean van der Vlugt
    Ein vollendeter Schluss eines sich unerbittlich aufschaukelnen Noir-Romans voll trauriger, versehrter Menschen.
  • Klappentext/Verlagstext
    In einer staubigen Stadt in den schroffen Sandhügeln von Nebraska patrouilliert der erschöpfte Sheriff-Stellvertreter Harley Jensen nachts durch die Straßen auf der Suche nach etwas – irgendetwas – Außergewöhnlichem. Es ist Juli 1978 und die Hitze macht die Menschen unruhig und nervös. Als der Patriarch der Familie Reddick beschliesst, für seinen verschwundenen Jungen einen Grabstein zu legen, entzündet diese Entscheidung einen Funken, der Pickard County in Brand zu setzen droht. In einer schicksalhaften Nacht nach dem Gedenkgottesdienst beschattet Harley den jüngsten Reddick und Stadtbösewicht Paul an verlassenen Farmen und Häuser außerhalb ihrer heruntergekommenen Stadt vorbei. Die Verfolgung bringt Harley auf die Spur von Pam Reddick, einer rastlosen jungen Frau, die nach einem Ausweg sucht. Sie ist dabei, die Bande von Mutterschaft und Ehe zu durchtrennen. Voll verzweifelter Frustration fühlt sich Pam zu Harleys dunkler Geschichte hingezogen, die der ihres Mannes Rick nicht unähnlich ist – eines Mannes, der zwischen den Trümmern des gewaltsamen Todes eines Bruders und der verhärteten Wut seiner Mutter aufgewachsen ist. Pickard County entfaltet sich über sechs angespannte Tage und bringt Harley und Reddick auf Kollisionskurs – und treibt sie auf einen aufrührerischen Moment zu, der sie entweder erlösen oder zerstören wird. Fesselnd, düster, komisch und echt – Chris Harding Thorntons Debüt strahlt Authentizität und ein nuanciertes Ortsgefühl aus, auch wenn es vor Bedrohung summt und eine erstaunliche neue Stimme in der Spannungsliteratur einführt.


    Die Autorin
    Chris Harding Thornton, eine Nebraskanerin der siebten Generation, hat einen MFA von der University of Washington und einen PhD von der University of Nebraska, wo sie Schreiben und Literatur unterrichtet. Ihre anderen Berufe waren u. a. Qualitätsbeauftragte in einer Kondomfabrik, Glasdeckelschrauberin in einer Kunststofffabrik, Closer bei Burger King, Verkäuferin in einem Plattenladen, Clubmanagerin für alle Altersgruppen und PR-Autorin. Pickard County ist ihr erster Roman.


    Inhalt
    Die Farmen in den Sandhills von Nebraska heißen nach ihren Erbauern Knudsen, Jipp, Ziske, Lucas, Jensen, nicht nach ihren heutigen Besitzern. Jensen ist das verlassene Elternhaus von Deputy-Sheriff Harley Jensen. Nur Ziske ist noch bewohnt; der Name steht im Container-Büro von Jensen und Cox für nervige Anrufe des alten Farmers, sein Gratis-Wochenblatt wäre wieder gestohlen. Harley zieht es zu den verlassenen Farmhäusern, in denen sich offensichtlich ungebetene Besucher aufhalten. Er hat Paul auf dem Kieker, der schon vor 20 Jahren stets in der Nähe war, wenn gezündelt wurde oder sich Jugendliche bei wagemutigen Streichen das Genick brachen. Aber auch Pauls viel zu junge Schwägerin Pam hat er im Visier, deren kleine Tochter Anna sie an ein ödes Leben im Trailer bindet. Ihr Mann Rick und dessen Vater leben von der Reparatur abgewohnter Mobilhomes; denn Pickard County nahm vor 100 Jahren Einwanderer und Kinder befreiter Sklaven auf, die sich nichts anderes als Trailer leisten konnten und vermutlich - wie Pam – die Miete versteckt im Küchenschrank ansparten.


    Solange Chris Harding Thorntons Leser:innen nicht erfahren, was den einzelgängerischen Harley mit den Lost Places verbindet, ist als Mittelpunkt der Handlung noch alles denkbar: die nie gefundene Leiche des ermordeten kleinen Sohns der Dells könnte ihn umtreiben, seine eigene Vergangenheit auf der Jensen-Farm, Brandstiftung, aber auch Ricks sonderbare Art, mehr Alibis in petto zu haben als ein Dachdecker normalerweise benötigt. Der Überblick über das Geschehen fällt nicht immer leicht, da lange unklar bleibt, ob es überhaupt einen zentralen Fall oder eine Hauptfigur gibt. Während die Dinge zwischen Paul, Rick, Pam und Harley eskalieren, wuchs mein Verständnis für Harleys hemdsärmelige Art, auch mal souverän ein Sheriff-Auge zuzudrücken.


    Fazit
    Das Genre „Rural Noir“ wählt Chris Harding Thornton als Rahmen einer akribisch beobachteten Sozialstudie über „Loser und User“, die sich am Rand des Scheiterns entlang hangeln müssen. Sie beschreibt Milieu und Landschaft, die ihr vertraut sind, und verfasst hinreißend lakonische Dialoge. Krimi-Fan muss man nicht sein, um Harding Thornton (und dem Verfasser des Nachworts) zu verfallen; wer E. Annie Proulx mag, macht hier nichts falsch. Ein weiterer Roman von Thornton „Little Underworld“ wird Ende 2024 erscheinen.


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