Terhi Kokkonen - Arctic Mirage / Rajamaa

  • Kurzmeinung

    drawe
    Ein Roman um Wahrheit und Täuschung, Psychogramm einer Beziehung

  • Klappentext:

    Eine einsame Schneelandschaft und zwei Menschen auf der Suche nach Erholung: die Geschichte einer Eskalation


    Der Urlaub in Lappland soll die lang ersehnte Erholung für Karo und Risto bringen. Doch dann kommt es zu einem Autounfall und die beiden sitzen fest, in einem Hotel namens Arctic Mirage. Leicht verletzt und noch halb unter Schock bewegen sie sich sehr unterschiedlich durch die luxuriöse Anlage inmitten der Schneelandschaft. Während Karo das Gefühl hat, in einer Falle zu sitzen, scheint Risto die Situation geradezu zu genießen: Er flirtet mit den Hotelangestellten, plant Freizeitaktivitäten und lässt sich von Karos seltsamer Stimmung nicht beirren. Bis die beiden sich plötzlich als Feinde gegenüberstehen. Terhi Kokkonen beschreibt den gefährlichen Drahtseilakt eines Paares, das ein dunkles Geheimnis hütet. Und die Anziehungskraft einer Landschaft, deren gedämpftes Weiß Gefahr verheißt.

    Zur Autorin (Quelle: Verlag):


    Terhi Kokkonen lebt als Musikerin und Schriftstellerin in Helsinki. Sie ist Teil der Scandinavian Music Group sowie eine der Sängerinnen der Band Ultra Bra. Arctic Mirage ist ihr Debütroman, für den sie 2020 mit dem Helsingin-Sanomat-Literaturpreis ausgezeichnet wurde.

    Mein Lese-Eindruck:


    „Sobald Karo nach ihnen greifen will, entziehen sie sich“ (S. 185).


    Dieser Satz bringt das Lese-Erlebnis auf den Punkt. Ein surreal, kafkaesk anmutendes Hotel in einer kalt-weißen Winterlandschaft, und in dem Hotel ein Paar, das dort nach einem rätselhaften Unfall gestrandet ist und ein paar Tage verweilen will.


    Das Paar wirkt nach außen hin arriviert und wohlhabend, aber nun werden ihre inneren Zustände Schnitt für Schnitt freigelegt. Dabei entfaltet die Autorin ein raffiniertes Spiel um Wahrheit und Täuschung, um Eigenwahrnehmung und Fremdwahrnehmung. So wie die Wahrnehmung der Hauptfigur Karo immer wieder bezweifelt wird und sich ändert, genau so ändert sich die Wahrnehmung des Lesers. Jede vermeintliche Klarheit wird schon im nächsten Kapitel wieder revidiert. Damit bringt die Autorin ihren Leser in dieselbe verwirrende Situation, in der sich ihre Protagonistin befindet. Chapeau!


    Um das Paar herum treten einige Personen auf, von denen jeder für sich die emotionale Kälte des Paares und zugleich deren Wahrnehmung widerspiegelt. Keine einzige dieser Figuren ist von der Komposition her verzichtbar. Auch scheinbare Nebenfiguren dienen als Projektionsfläche oder sie übernehmen, wie z. B. die Figur der Dina mit ihrer Stärke und Kompromisslosigkeit, eine Vorbildfunktion für Karo, die durch die Psycho-Attacken ihres Ehemannes ihren inneren Halt zu verlieren scheint. Alle Figuren wirken wie Nebelgestalten, deren Umrisse sich ständig ändern. „Sobald (man) nach ihnen greifen will, entziehen sie sich.“ Die einzig verlässliche Wahrnehmung für Karo ist die Musik, in der sie ihre Ruhe findet und die letztendlich auch ihren Befreiungsversuch initiiert.


    Mir hat es sehr gut gefallen, wie geschickt die Autorin die einzelnen Figuren mit Motiven und Handlungsfäden zu einem kunstvollen Netz verknüpft. Alle Figuren haben mehrere Gesichter bzw. werden unterschiedlich wahrgenommen, aber sie haben ein gemeinsames Lebensgefühl: Einsamkeit, Verlassenheit, Manipulation, Angst, Realitätsflucht, und immer wieder Gewalt. Dabei muss man sich als Leser allerdings vergegenwärtigen, dass Karo die Erzählinstanz ist und wir als Leser quasi durch ihre Brille schauen.


    In kurzen Rückblenden wird die Vorgeschichte ansatzweise erzählt, und diese Ansätze reichen aus, um die seelischen Traumata zumindest im Ansatz zu erkennen. Diese fehlende Unterfütterung kann man bemängeln, aber diese Unschärfe passt wiederum zur unscharfen Wahrnehmung Karos und zur Unzuverlässigkeit jedes Erinnerns. Im letzten Abschnitt verschränkt die Autorin sprachlich wunderbar die beiden Zeitebenen, in denen sie bisher erzählte. Vergangenheit und Gegenwart durchmischen und verzahnen sich miteinander, und deutlicher kann man kaum zeigen, welche Bedeutung Karos traumatisierende Vergangenheit für ihre Gegenwart hat.


    Die stakkatohafte Sprache unterstützt diese Verunsicherung des Lesers, weil sie eine zusätzliche Distanz zu den Figuren schafft. Die Sprache ist ausgesprochen nüchtern, und der Prolog – ein Paukenschlag im 1. Satz! - stimmt den Leser schon darauf ein. Dort wird der Mord in einfachen Sätzen teilnahmslos berichtet. Die Sprache erlaubt keinerlei Identifikation.


    Hätte die Landschaft Lapplands eine Rolle spielen sollen? Die Autorin ist Finnin, und sie braucht für ihren Roman lediglich das Kalte, Weiße, Flirrende und Irrisierende einer Landschaft, die das Innere ihrer Personen widerspiegelt. Da bietet sich das finnische Lappland an. Wer hier Lappland-Flair, Rentiere, Polarlicht-Romantik etc. erwartet, sollte bedenken, dass es in diesem Roman um innere und nicht um äußere Landschaften geht.


    :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertungHalb:

    :study: Edvard Hoem, Der Heumacher.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Das Original:


    ISBN 9789511367253 wurde leider nicht akzeptiert.

    :study: Edvard Hoem, Der Heumacher.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • drawe

    Hat den Titel des Themas von „Terhi Kokkonen - Arctic Mirage“ zu „Terhi Kokkonen - Arctic Mirage / Rajamaa“ geändert.
  • Ich kann mich deinem Eindruck völlig anschließen und kann auch nichts hinzufügen.

    Mir gefiel sehr gut, wie sich der Blick des Lesers auf Karo und Risto wandelte durch den Wechsel der Erzählperspektive. Die nüchterne Sprache passt, ebenfalls die Vorwegnahme des Endes (Prolog)

    Nochmals vielen Dank für den Tausch, drawe