Elizabeth Graver – Kantika

  • Kurzmeinung

    kleine_hexe
    Eine starke Frau in schweren Zeiten
  • Kurzmeinung

    Abroxas
    Mit schöner Sprache erzählte Familiengeschichte, die die Komplexität von Migration und Identität erahnen lässt
  • Klappentext/Verlagstext

    Rebecca Cohen genießt als Tochter eines sephardischen Unternehmers die Privilegien der Istanbuler Oberschicht. Doch als sich in den 1920er-Jahren die Stimmung in Europa verdüstert, beginnt für sie eine jahrelange Odyssee, die sie über Barcelona und Havanna bis nach New York führt. Auf ihrer Flucht wird Rebecca, kaum Ehefrau und Mutter, zur Witwe, muss ihre Eltern zurücklassen, um ihren Kindern eine Zukunft zu bieten, und ihr Schicksal einem Mann anvertrauen, den sie nur aus Briefen kennt. Doch an jeden neuen Ort trägt sie ihre Erinnerung und ihre Lieder und baut sich daraus gegen alle Widerstände eine neue Heimat. »Kantika« (»Lied«) ist eine eindringliche, lyrische Erzählung über Identität und Exil und eine inspirierende Geschichte weiblicher Resilienz, mit der Elizabeth Graver ihrer Großmutter Rebecca Cohen ein Denkmal setzt.


    Die Autorin

    Elizabeth Graver, geboren 1964 in Los Angeles, aufgewachsen in Massachusetts, ist Autorin mehrerer prämierter Romane und Kurzgeschichten. 2016 erschien »Die Sommer der Porters«, das für den National Book Award nominiert war und auch in Deutschland Presse und Publikum begeisterte. Die Mutter zweier Töchter lehrt Englisch und Creative Writing am Bosten College.


    Inhalt

    Die Anfang des 20. Jahrhunderts geborene Rebecca Cohen wächst als Tochter sephardischer Juden in Konstantinopel/Istanbul behütet und in bürgerlichem Wohlstand auf. Ihr Vater Abraham/Alberto ist als Textilfabrikant in Familie und Handel bestens vernetzt; der Wohlstand der Cohens war erarbeitet und erheiratet. Da er nach einer geschiedenen kinderlosen Ehe zum zweiten Mal verheiratet ist, gilt Alberto in der damaligen Zeit als alter Vater. Seine zweite Frau Sultana, Tochter eines Tabakhändlers, hat als Kind lange in Irland gelebt, so dass mit Türkisch und Ladino im Haus ein halbes Dutzend Sprachen gesprochen werden. Rebecca besucht eine private katholische Schule, die von christlichen, muslimischen und jüdischen Mädchen besucht wird. In der weltoffenen Hafenstadt wächst sie in einer sorgenfreien Oase inmitten einer reglementierten Welt auf. Für Mädchen gelten darin strengere Regeln als für ihre Brüder, sie sind in ihrer Schicht das Kapital, das geschäftliche Beziehungen des Vaters und der Onkel besiegelt. Ein bürgerliches sephardisches Mädchen gehört seinem Vater so lange, bis es dem Ehemann gehören wird. Innig verbunden mit ihrer Freundin Rahelika/Lika kann sich Rebecca nicht vorstellen, einmal woanders als mit dem Blick auf das Goldene Horn zu leben.


    Mit dem Erstarken des Nationalismus im Windschatten des Ersten Weltkriegs endet die kulturelle Vielfalt der Stadt; die bis dahin blühende Wirtschaft gerät in Straucheln. Alberto Cohen hatte zu diesem Zeitpunkt seine Fabrik zu oft allein gelassen und sich zu lange auf dem Erfolg seiner Familie im Handel ausgeruht, um in der Krise souverän reagieren zu können. Die Auswanderung 1926 nach Barcelona, wo angeblich eine kleine sephardische Gemeinde auf Cohen als Vorbeter wartet, scheint für die Cohens der einzige Ausweg zu sein. Frauen der sephardischen Gemeinschaft waren stets streng reglementiert worden, in der Emigration wird von ihnen jedoch fortan größere Anpassungsfähigkeit erwartet ...


    Fazit

    Elizabeth Graver lässt einen allwissenden Erzähler auf die kleine Rebecca und weiter auf die als Schneiderin erfolgreiche berufstätige Mutter blicken, die es schließlich nach New York verschlagen wird. Die Erzählerstimme zeichnet sich (gerade in den in Europa spielenden Kapiteln) durch ihren genauen Blick aus – auch auf die Schattenseiten der sephardischen Kultur und Religion für Mädchen und Frauen. Ganz nebenbei lässt sich gerade an den Schauplätzen Istanbul und Barcelona verfolgen, wie das Beschneiden von Vielfalt und religiöser Toleranz zum Verlust qualifizierter Arbeitskräfte und damit zu wirtschaftlichem Abstieg führt. Der Roman dreier Generationen (Rebeccas Mutter Sultana, Rebecca und 7 Kinder aus mehreren Ehen) spielt zwischen 1907 und 1945. Er lehnt sich eng an Gravers eigenen Familienstammbaum an, so dass die Sicht der realen (zwischen 1926 und 1935 geborenen) Kinder Rebeccas einfließen konnte. Der Blick in die Kultur von Sephardim, die in ein Land zurückgehen, aus dem ihre Vorfahren einst vertrieben wurden, konnte mich speziell mit den Ereignissen in Istanbul und Barcelona fesseln, der in den USA spielende Abschnitt weniger.


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    :study: -- Damasio - Gegenwind

    :study: -- Naylor - Die Stimme der Kraken

    :study: -- Landsteiner - Sorry, not sorry

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    "The three most important documents a free society gives are a birth certificate, a passport, and a library card!" E. L. Doctorow

  • Das Maß meiner Tage


    Von starken Frauengestalten lebt diese Familienchronik, die die anfangs höhere jüdische Tochter Rebecca aus ihrer ursprünglich luxuriösen Umgebung in Istanbul über Barcelona bis nach New York führt. Den widrigen Umständen der Diskriminierung an allen ihren Wohnorten, aber auch des frühen geschäftlichen Scheiterns ihres Vaters setzt sie selbstbewusst ihre Talente und ihre Lebenstüchtigkeit entgegen. In farbigen Bildern erschließt uns Graver die Welt der sephardischen Juden, die sich nicht nur durch ihre ladinische Sprache von den Ostjuden unterscheidet.


    Nirgends so recht gelitten gelingt es Rebecca nach heftigen Schicksalsschlägen nicht nur jedes Mal selbst wieder auf die Füße zu kommen, sondern auch ihren Kindern eine tragfähige Lebensgrundlage aufzubauen. Ihre behindert geborene Ziehtochter bildet sie zu einer stolzen jungen Frau mit Beruf und Familie aus.


    Voller Empathie charakterisiert Graver alle Personen anhand detailreich ausgedachter Szenen, denen sie Spannung verleiht mit einem Gespür für Pointen.


    Wie diese bemerkenswerte Frau, neben der die Männer verblassen, all die Herausforderungen meistert, beschreibt die Autorin in einer durchweg optimistischen Geisteshaltung, die ich so selten erlebe und mir beim Lesen große Freude bereitete.

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  • Kantikas sind Gesänge die das Leben begleiten

    Es sind die Erinnerungen an eine schöne, sorglose Kindheit und an eine Zeit, die so nie wiederkehren wird, die mich zu Anfang fasziniert haben. Sie ließen mich an meine Großmutter denken, die in einer anderen, ebenfalls kosmopolitischen Stadt aufwuchs und in einer ähnlichen Atmosphäre. Da wohnten Menschen unterschiedlicher Religionen und Zugehörigkeit friedlich beisammen, man handelte untereinander und ins Ausland, man half sich gegenseitig, das Motto lautete “Leben und Leben lassen”. Und genauso war es in Istanbul, bis die Politik sich überall einmischte, bis in die privatesten Belange der Menschen. Zuerst verschwanden die Armenier, dann die Griechen, und dann kamen die Juden ran. Es entstand eine Atmosphäre des Hasses, gegen alles, was nicht türkisch war. Die Partei der “Jungen Türken” sorgte dafür. So kam es, dass Rebecca mit ihrer Familie nach Barcelona fliehen musste.

    Aber Barcelona liegt in Spanien. Rachels Familie sind Sepharden. Vor 400 Jahren wurden sie aus Spanien brutal vertrieben und der Schock dieser Vertreibung sitzt der Familie immer noch in der Seele. Nach 400 Jahren und so vielen Generationen, ist die Angst vor Spanien eigentlich noch allgegenwärtig. Die wenigen Juden, die nach Spanien kommen, verhalten sich ängstlich, möglichst unauffällig, leben zurückgezogen. Nicht einmal einen Wegweiser zur Synagoge wagen sie aufzustellen. Es ist dieses kollektive Trauma, dass über Generationen hinweg in der Seele der Menschen bleibt. Heute gibt es kaum noch Überlebende von Auschwitz, Dachau, Buchenwald, Treblinka, usw. Doch ihre Kinder, Enkel, Urenkel und viele Generationen die noch folgen werden, werden daran leiden. Die gnadenlose Vertreibung zur Zeit der Reconquista, die vielen Pogrome im mittelalterlichen Europa und die Konzentrationslager des 20. Jahrhunderts sind unauslöschlich in der Seele dieses Volkes eingebrannt.

    Als Rebecca jung verwitwet und mit zwei kleinen Jungen nach New York aufbricht, betritt sie, ähnlich wie in Barcelona, eine neue Welt. Sie lernt die Sprache, baut sich eine eigene gut gehende Schneiderei auf, kümmert sich um ihre Söhne und um die behinderte Tochter ihres Mannes. Luna hat eine Zerebralparese. An diesem Kind vollbringt Rebecca ein Wunder, sie bringt das Mädchen so weit, dass sie allein gehen kann, sich allein versorgen kann, einen guten Schulabschluss macht und später eine gute Arbeit findet und auch heiratet. Ohne Rebecca wäre Luna nur dahin gesiecht, ein gequälter Mensch den anderen nur eine Last.

    Das sind die Stationen in Rebeccas Leben. Spektakulär? Ja und nein. Flucht aus Istanbul, Leben in einer zunehmend feindlichen Umgebung in Spanien, die Auswanderung in die Staaten und Heirat mit einem unbekannten Mann, dessen Familie ihr zuerst feindlich gegenübersteht. Es ist keine leichte Aufgabe, ein schwerst behindertes Kind zu fördern und zu fordern, in einer Zeit, in der man die modernen Methoden der Betreuung dieser Menschen nicht kannte. Rebecca lässt sich nicht beirren, weder von Schwiegermutter oder Schwägerin, noch von dem Widerstand des Kindes. Und ja, das ist in der Tat spektakulär. “Luna ist schwanger. Es hieß, sie könne nicht laufen, und mit Rebeccas Hilfe lernte sie laufen, und dann hieß es, sie könne nicht zur Schule gehen, und mit Rebeccas Hilfe ging sie zur Schule, und dann hieß es … dass sie nie heiraten würde, doch Rebecca ließ sie Gegenstände für ihre Aussteuer nähen, weil es gut für ihre Hände war und weil … auch die Geringsten unter uns hoffen dürfen und Luna traf Gene” (S. 357)

    Kantika ist ein jüdisch-ladinisches Lied, die Worte sind teils jüdisch, teils latein, die Kantikas begleiten Rachels leben, sie singt sie zum Trost oder zur Freude, sie sind Teil ihres Lebens.

    Der unaufgeregte, schlichte Stil den Elizabeth Graver verwendet für dieses Buch geht zu Herzen. Man spürt die Verbundenheit der Autorin zu Rebecca, ihre Achtung vor dieser großartigen und doch so bescheidenen Frau.