Zur Autorin:
Clarice Lispector wurde als Chaja Pinkussowna Lispektor am 10. Dezember 1920 in der Ukraine als Tochter jüdischer Eltern geboren. Kurz nach ihrer Geburt floh die Familie vor immer wieder aufflammenden Pogromen zunächst nach Hamburg und von dort ein Jahr später nach Brasilien. Clarice Lispector absolvierte ein Jurastudium, heiratete einen katholischen Diplomaten und veröffentlichte 1944 ihren ersten Roman Nahe dem wilden Herzen. Aufgrund der Tätigkeit ihres Mannes lebte sie in den folgenden Jahren in Neapel, Bern und Washington. Nach der Scheidung ließ sie sich mit den beiden Söhnen in Rio nieder, wo sie erfolgreich als Schriftstellerin, Journalistin und Übersetzerin arbeitete.
Sie starb am 9. Dezember 1977 mit knapp 57 Jahren an einem Krebsleiden.
Übrigens verlegte sie eigenständig das Jahr ihrer Geburt und machte sich um 5 Jahre jünger.
Klappentext (Quelle: amazon):
Das Romandebüt einer Dreiundzwanzigjährigen ist die literarische Sensation. Zum ersten Mal wagt es eine brasilianische Schriftstellerin, das komplexe Innenleben ihrer Heldin offenzulegen und die konventionellen Gesellschaftsmuster zu hinterfragen. In "Nahe dem wilden Herzen" konzentriert sich Clarice Lispector auf die Reflexionen ihrer Heldin Joana und dringt in die Tiefen ihrer Gefühlswelt vor. Das Lebensumfeld der jungen Frau blitzt darin nur gelegentlich auf: Da ist der frühe Tod des Vaters, die unglückliche Kindheit bei der Tante, die Einsamkeit im Internat, die am gegenseitigen Betrug scheiternde Ehe mit dem Rechtsanwalt Otávio. Auch wenn sie Isolation dafür in Kauf nehmen muss, beschreitet Joana gegen innere und äußere Widerstände unbeirrbar ihren Weg zu ihrem eigenen inneren Reichtum, ihrem "wilden Herzen".
Mein Lese-Eindruck:
Clarice Lispector gilt in Brasilien als hoch verehrte Kultfigur; ein Status, der ihr zu ihren Lebzeiten nicht vergönnt war. Das macht natürlich neugierig. „Nahe dem wilden Herzen“ ist ihr literarisches Debut.
Die Autorin stellt ihrem Roman ein Zitat von James Joyce voran:
"Er war allein. Er war verlassen, glücklich, nahe dem wilden Herzen des Lebens."
Mit diesem Zitat werden die wesentlichen Themen des Romans genannt: Einsamkeit, Leid, Unangepasstheit, Rückzug ins innere Ich.
Der Roman ist nicht handlungsreich, und das äußere Leben Der Protagonistin Joana scheint nur gelegentlich durch ihren Gedankenstrom durch: der frühe Tod der Eltern, eine einsame Jugend, ihr Interesse für Spinoza, das Scheitern der Ehe.
Im Mittelpunkt steht statt dessen das innere Geschehen Joanas, und hier folgt die Autorin ihrer Protagonistin beharrlich und unnachgiebig in alle Verzweigungen ihres Innenlebens. Mit großem psychologischem Gespür und großer Sprachkraft vermittelt sie dem Leser die Befindlichkeiten ihrer Figur. Joana wird zerrissen zwischen ihrer bürgerlichen und einer eher triebhaften Existenz. Sie leidet unter dem Machtgefälle Mann – Frau . Sie ist unmoralisch, aggressiv, grausam und egozentrisch und entwickelt Schuldgefühle, von denen sie sich befreien will und nur den Tod als Erlösung akzeptieren kann.
Trotz dieser starken Themen wurde ich mit dem Roman nicht warm und kann in die allgemeinen Lobgesänge nur verhalten einstimmen. Die expressive Sprache der Autorin empfand ich zwar als schön, aber auf Dauer als zu maniriert und sehr anstrengend zu lesen.
Zwei kurze Beispiele:
ZitatUnd plötzlich hob sich in ihrem Bewusstsein die Umgebung mit einem Schrei heraus, nahm in allen Einzelheiten Form an und überflutete die Menschen mit einer großen Welle... Ihre eigenen Füße schwammen. Das Zimmer, in dem sie schon so viele Nachmittage verbracht hatte, leichtete im Crescendo eines Orchesters stumm auf,, als Rache für ihre Ablenkung. (S. 22)
ZitatZwischen einem Augenblick und dem folgenden, zwischen dem Block der Vergangenheit und den Nebeln der Zukunft, die weiße Unbestimmtheit der Zwischenzeit. Leer wie die Entfernung von einer Minute zu anderen auf dem Zifferblatt der Uhr. Der Untergrund der Ereignisse schweigend und tot aufsteigend, ein wenig Ewigkeit. ... Tief, von weitem kommend – ein schwarzer Vogel, ein anwachsender Punkt am Horizont, sich dem Bewusstsein nähernd wie ein Ball, der vom Ende zum Anfang zurückgeworfen wird. Und explodiert vor den erstaunten Augen in eine Essenz aus Schweigen. Hinter sich lässt er den vollkommenen Zwischenraum wie einen einzigen Ton, der in der Luft vibriert. (S. 206)
Fazit:
Wer expressiv-existenzialistische Literatur liebt, hat an diesem Roman seine Freude.