Manichi Yoshimura - Kein schönerer Ort / Borādo byō ボラード病

  • Kurzmeinung

    SaintGermain
    Wem "1984" gefallen hat, der kann sicher auch diesem Buch etwas abgewinnen.
  • Originaltitel: Borado-byo


    Über den Autor (Amazon)

    Manichi Yoshimura, geb. 1961 in Ehime, aufgewachsen in Osaka. Studium in Kyoto. Gab erst spät sein literarisches Debüt. Akutagawa-Preisträger des Jahres 2003. Kein schönerer Ort (OT: Borādo-byō) erschien in Japan zuerst im Januar 2014. Anlass des Schreibens waren der Tsunami und die Reaktorkatastrophe in Fukushima vom 11.3.2011.

    Produktinformation (Amazon)

    Taschenbuch: 176 Seiten

    Verlag: Cass; Auflage: 1 (13. August 2018)

    Sprache: Deutsch

    ISBN-10: 3944751191

    ISBN-13: 978-3944751191

    Originaltitel: Borado-byo


    Einfach nicht mein Fall

    Ihre Mutter hatte sie vor der weißen Blume gewarnt….

    Als sie von der Schule wieder nach Hause kam, war die Blume verschwunden…

    Akemi-san ging es nicht gut, aber man brachte sie nicht zur Krankenstation…

    Am nächsten Tag war sie tot…

    Auch Fujimara-sensei kam plötzlich nicht mehr… Man sagte den Kindern, es ginge ihm nicht gut…

    Kyoko-chan wurde von ihrer Mutter verprügelt, weil sie ein Tagebuch schrieb und Zeichnungen darin anfertigte… Die Mutter zerriss das Buch in kleine Fetzen…

    Und immer hieß es, dass in Umizuka alles bestens wäre… Und alle stimmten ein…

    Warum hatte Kyoko-chans Mutter sie vor dieser weißen Blume gewarnt? Und warum hat sie diese vernichtet? Weshalb brachte man Akemi-san nicht zur Krankenstation? Obwohl sie es, lt. Aussage von Kyoko-chan wollte? Auch wenn dies hinterher wieder abgestritten wurde? Was war mit dem Lehrer Fujimara-sensei passiert? Inwiefern ging es ihm nicht gut? Weshalb verprügelte die Mutter Kyoko-chan? Nur wegen des Tagebuchs? Und dann nimmt sie es ihr weg, und zerreißt es? Warum? War in Umizuka wirklich alles in Ordnung? Warum sagte jeder dies, obwohl es ja eigentlich nicht so war? Nicht alle diese Fragen – aber noch viel mehr – werden in diesem Buch beantwortet.


    Meine Meinung

    Das Buch ließ sich für mich nicht leicht lesen. Das fing schon mit den vielen japanischen Namen an, die ich mir einfach nicht merken konnte. Wofür das Buch aber nichts kann. Auch war mir immer mal wieder etwas unklar. Z. B. wieso Kyoko-chan plötzlich umschwenkte. Und wohin ihre Mutter verschwunden war. Im letzten Kapitel lese ich, dass Kyoko über dreißig Jahre ihres Lebens spricht. Da kann doch was nicht stimmen. Sie war drei, als sie evakuiert wurden und das Buch spielt in ihrem elften Lebensjahr. Es ist schlichtweg verwirrend und mich hat leider das ganze Buch immer wieder verwirrt. Es heißt, dass der Anlass dieses Buch zu schreiben, die Reaktorkatastrophe in Fukushima gewesen sei. Und die war 2011. Daher: wieso dreißig Jahre? Kyokos Mutter war vorsichtig, mit allem. Auch mit dem Essen. Ich frage mich allerdings, warum sie überhaupt wieder in diesen Ort gezogen sind, wenn sie doch wussten oder zumindest ahnten, dass bei weitem nicht wieder alles in Ordnung war. Nur Heimatverbundenheit?? Und dann kann ich noch nicht mal mein eigenes Gewächs essen? Ich muss sagen, dass mir das Buch nicht sonderlich gefallen hat. Es kam mir fast vor, wie ein Tatsachenbericht, jedoch ohne das Kind beim Namen zu nennen. Es war einfach nicht mein Fall und daher bekommt es von mir nur zwei von fünf Sternen, bzw. vier von zehn Punkten.

    Liebe Grüße
    Lerchie



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    nur wer aufgibt, hat schon verloren

  • Darum gehts:

    Das Haus hatte einen kleinen Garten. Mit diesem unscheinbaren Satz beginnt das Buch, eine Erzählung aus der Perspektive eines kleinen Mädchens, einer 11jährigen Grundschülerin. Aber die Unscheinbarkeit verliert sich schnell, der Leser ahnt schon nach wenigen Seiten, dass es um etwas Außergewöhnliches geht. Nicht um den Garten und das Haus, in dem das Mädchen allein mit ihrer strengen, von einem Reinlichkeitswahn besessenen Mutter zusammenlebt, nicht um die Nachbarn, von denen die Mutter sich abschottet, nicht um die Einsamkeit des Mädchens in der Schule. Eine Reihe eher merkwürdiger häuslicher und schulischer Ereignisse, vorgetragen aus der unschuldigen Sichtweise des Mädchens, macht bald klar, dass sich in Umizuka, der Stadt am Meer, in der das Mädchen und seine Mutter leben, etwas Ungeheuerliches ereignet hat und dass die Bewohner alles dafür tun, dieses Ungeheuerliche nicht zur Kenntnis zu nehmen. Man ist eine Gemeinschaft, die Schlimmes überstanden hat und deshalb um so mehr Gemeinschaft sein muss. Niemand darf ausscheren, niemand er selbst sein. Das Gemüse, das man zieht und isst, ist gesund, weil es gesund sein muss. Die Fische, die man aus dem Meer holt, sind nicht nur essbar, sondern schmackhaft. Sie müssen es sein. Die Leute sind alle nett. Sie müssen es sein. Man hat eine Hymne, die Umizuka-Hymne. Man singt sie gemeinsam, man hilft sich, wo man kann, und man bespitzelt sich. In der Schule aber sterben die Kinder, Lehrer verschwinden, Männer in Anzügen tauchen auf. Mit jedem Satz, jedem Kapitel wird klarer, dass die Fassade nur eine Fassade ist. Und zugleich: dass Risse in der Fassade nicht geduldet werden. Sie werden erbarmungslos übertüncht.
    Welches Unglück die Bewohner von Umizuka heimgesucht hat, wird nicht ausgesprochen. Man denkt sofort an die Reaktorkatastrophe von Fukushima. Aber das wäre zu kurz gegriffen. Das Buch beschreibt in sehr leisem, aber nach und nach immer eindringlicher werdendem Tonfall, was passiert, wenn man, koste es, was es wolle, die Augen und Ohren vor Dingen verschließt, die nicht sein können, weil sie nicht sein dürfen; es beschreibt, wie aus Not Gemeinschaft ensteht und ein falsch verstandenes Gemeinschaftsgefühl, das zu Bespitzelung, Unterdrückung und schließlich Gleichschaltung führt. In Umizuka. In Japan. Überall.
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    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • K.-G. Beck-Ewe

    Hat den Titel des Themas von „Manichi Yoshimura - Kein schönerer Ort“ zu „Manichi Yoshimura - Kein schönerer Ort / Borādo byō ボラード病“ geändert.
  • Kyoko Oguri ist ein 11-jähriges Mädchen, welches in der Schule geht, dort aber kaum Freunde hat. Ihre alleinerziehende Mutter hat einen Reinlichkeitsfimmel und versucht ja nicht aufzufallen. Kyoko hingegen ist neugierig, auch als Schüler und Lehrer aus ihrer Klasse sterben bzw. verschwinden.


    Das Cover des Buches ist zwar einfach, aber trotzdem auffällig und macht neugierig.

    Der Schreibstil des japanischen Autors ist zunächst ungewöhnlich. Zum einen sind für einen Europäer die Namen natürlich kaum zu merken, zum anderen wirkt das Buch nicht von einer 11-jährigen geschrieben, was aber schließlich aufgeklärt wird.

    Umizuka als Stadt wirkt genauso, wie sie sein soll. Man merkt sofort, dass nicht alles so ist, wie es sein soll bzw. dargestellt wird.

    Das ganze Buch erinnert sehr an "1984" von George Orwell und ist trotzdem ganz anders geschrieben. Die dystophische Stimmung wird mit jedem Satz eingefangen.

    Unglaublich eigentlich, dass man sich so sehr alles positiv reden kann, wenn die negativen Auswirkungen einer Katastrophe so spürbar sind. Aber hier wird es nicht nur alles positiv geredet, die Wahrheit wird trotz aller Folgen einfach ignoriert, Andersdenkende haben keinen Platz in dieser Gesellschaft.

    Fazit: Wem "1984" gefallen hat, der kann sicher auch diesem Buch etwas abgewinnen. 5 von 5 Sternen

  • Kyoko Oguri geht in die 5. Klasse einer japanischen Grundschule. Mit ihrer allein erziehenden Mutter hat sie es nicht leicht; denn die pflegt einen außergewöhnlichen Sauberkeitswahn und hat Bedenken, die Nachbarn könnten etwas an ihrem Lebenswandel auszusetzen haben und sie irgendwo denunzieren. Die Wortwahl wirkt für die Gedanken einer elfjährigen Schülerin anfangs sonderbar, selbst dann noch, als ich als Leser realisiert hatte, dass die Ereignisse 20 Jahre her sind und die Ich-Erzählerin inzwischen Anfang 30 ist. Mutter und Tochter haben spürbar Probleme, miteinander eine angemessene Sprache zu finden für Themen, die nur sie betreffen, im Unterschied zur öffentlichen Sprache gegenüber Fremden. Eigentlich sollte Japanisch unterschiedliche Vertrautheit abbilden können, dachte ich verblüfft.


    Kyokos Lehrer wendet für asiatische Verhältnisse ungewöhnliche Lehrmethoden an. Jeder Schüler soll ein Selbstlern-Heft zu einem frei gewählten Thema anlegen, doch nicht alle Schüler finden ein Thema. Dass seine Schüler mit der Aufgabe überfordert sein könnten, scheint Fujimura-sensei nicht in den Sinn zu kommen. Kyoko darf das Thema nicht wählen, das sie am stärksten interessiert, Vorgänge, die es nur in ihrem Kopf gibt. Sie beschließt, für dieses Thema heimlich ein eigenes Heft zu beginnen. Ihre Klassenkameradin Hiroko schreibt einfach über Armut und warum sie sich selbst als arm einstuft. Kyoko bewundert, wie offen und prägnant Hiroko sich ausdrücken kann und wie klar ihre Schrift wirkt. Lehrer Fujimuras Selbstlernhefte wirken umso sonderbarer, als Selbstständigkeit und eigenständiges Denken der Schüler unerwünscht ist und ihnen allein Parolen abgefragt werden, deren Inhalt niemand füllt. In der Schule gibt es ebenfalls Probleme mit unterschiedlichen Sprachniveaus. Die Tabu-Themen Mobbing und dass es einigen Schülern gesundheitlich nicht gut geht, treten erst zutage, als eine Schülerin stirbt. Sie ist offenbar nicht die erste. Kyoko fragt sich nun, welches die Welt ist, ihre kleine Familie, die Schule oder etwas bisher Unbekanntes.


    Wie auf dem Plan eines Verkehrsverbundes betreten Yoshimuras Leser von innen nach außern nach Familie, Nachbarschaft und Schule gemeinsam mit Kyoko die nächste Zone, die Gemeinschaft von Umizuka, einem kleinen Ort, der zur Stadt Kaizuka in der Bucht von Osaka gehören könnte. Ein fatales Problem mit Krankheiten und Umweltschäden, die an eine Atomkatastrophe denken lassen, wird dort mit einigem Aufwand vertuscht. Mit diesem Wissen lassen sich die Ängste von Kyokos Mutter völlig anders einordnen. Wem bewusst wird, wo Kyoko sich heute befindet, als sie diesen Text schreibt, der wundert sich vermutlich auch nicht mehr über die sonderbare Wortwahl im ersten Kapitel.


    Die japanische Kultur zeichnet sich durch strenge Hierarchien aus und durch die Eigenheit, Konflikte selbst dann noch zu leugnen, wenn sie allen anderen außer den Japanern längst bewusst sind (siehe Japans Kriegsverbrechen und die fehlende Auseinandersetzung mit menschlichen Fehlern). Wer bereit ist, sich auf die Erzählperspektive einzulassen, kann hier einer Elfjährigen dabei folgen, wie sie allmählich ein Pauksystem als Vorstufe zu totalitärer Herrschaft und sektenartiger sozialer Kontrolle erkennt.


    Wer Atwood und Ishiguro mochte, sollte mit Yoshimuras Dystopie einen Versuch wagen …

    :study: -- Damasio - Gegenwind

    :study: -- Naylor - Die Stimme der Kraken

    :musik: --


    "The three most important documents a free society gives are a birth certificate, a passport, and a library card!" E. L. Doctorow