Was passiert in einem Lesekreis?

  • Hallo zusammen,


    es mag eine seltsame Frage sein, aber was genau passiert in einem Lesekreis?


    Ich war bisher auf keinem und ich bin halt gerade neugierig, wie das so abläuft und was so gemacht wird.

    Persönlich stell ich es mir in etwa so vor wie in Jo Walton's Roman "In einer anderen Welt", aber das mag vielleicht nur eine Wunschvorstellung sein.


    Ich meine, über Bücher reden - das ist eine durchaus spannende Angelegenheit, aber wie viel Anspruch steckt in einem Lesekreis?

    Was ist meistens von Interesse, wenn es im Lesekreis um Buchbesprechungen geht?

    Wie kann ich mir das vorstellen?


    Hier gibt es doch bestimmt den ein oder anderen, der einen Lesekreis hat, oder?

  • Hallo @Soulprayer ,

    Jo Walton's Roman "In einer anderen Welt" kenne ich nicht, aber ich kann aus meiner Erfahrung mit 2 Lesekreisen plaudern, denen ich mal angehörte, einer total unstrukturiert, wo ich lange Jahre freundschaftlich dabei war, und der andere sehr strukturiert.


    Im unstrukturierten Mittwochabend-Lesekreis trafen wir uns einmal im Monat an einem Mittwochabend in der Wohnung des Mitglieds, der das zu besprechende Buch vorgeschlagen hatte. (Zum Auswahlprozedere später mehr). Wir waren insgesamt ca. 12 Mitglieder (8 w, 4 m, Alter zwischen 20 und 70, alles Akademiker mit ein bis mehrjähriger Auslandserfahrung), wobei meistens 8 zu den Abenden kamen. Die Fehlenden waren auf Geschäftsreise, krank oder hatten privat ein unabkömmliches Engagement (Omas Geburtstag, etc.). Ab und an stieß ein neues Mitglied dazu (kooptiert) oder ein altes verabschiedete sich. Jeder brachte zum Lesekreis etwas zum Trinken und zum Knabbern für die Gruppe mit; das stand vor uns auf dem Tisch, und wir bedienten uns ungezwungen.


    Zuerst diskutierten wir über ca. eine bis anderthalb Stunden über ‚unser‘ Buch des Monats, unstrukturiert eben. Dadurch waren diese Diskussionen auch sehr unterschiedlicher Qualität, sie konnte total packend sein, oder im Sande verlaufen, weil niemand mehr abends nach einem Arbeitstag die Energie aufbrachte das gelesene Buch zu hinterfragen. Ich gehörte zu den 2 oder 3 Mitgliedern, die sich im Vorfeld Fragen zu dem Buch stellten/ ausdachten und sie manchmal recht provozierend im Kreis stellten, das konnte eine Diskussion lancieren. Alles war möglich, nichts war vorgegeben, schon gar nicht sollte einer als Moderator der Diskussion fungieren. Es hing also von jedem einzelnen ab, welchen Gewinn er von dem Mittwochabend mit nach Hause nahm.


    Nach der Buchdiskussion kam es zur Vorschlagsrunde, welches Buch im kommenden Monat gelesen und diskutiert wurde. Das war immer sehr erheiternd und manchmal sicher lebendiger als der erste Teil des Abends. Unser Leseprogramm ging von Klassikern zur zeitgenössischen Literatur, über Sachbücher zu Biografien, nur mit der Lyrik hatten wir es nicht so. Jeder schlug ein oder mehr Bücher vor, erklärte wieso und warum. Die Bücher hatten wir auch dabei, so dass sie in der Runde rumgereicht wurden. Ab und an gab es schon Kommentare im Vorfeld, wenn jemand ein vorgeschlagenes Buch kannte, der Spaßvogel vom Dienst jedes Buch mit mehr als 249 Seiten monierte, einer sich als Lobbyist der amerikanischen oder japanischen Belletristik outete, oder ich versuchte einen französischen Roman dem Lesekreis schmackhaft zu machen. Danach kam es zur Wahl. Im 1. Durchgang hatte jeder so viele Stimmen wie er wollte. Danach kamen die 2 oder 3 Bücher mit den meisten Stimmen in die Stichwahl, wobei jeder Anwesende nur über 1 Stimme verfügte.


    Nachdem auch noch das wann und wo des Treffens im nächsten Monat geklärt war, verabschiedeten sich die ersten mit langem Nachhauseweg (ich brauchte manchmal mehr als eine Stunde mit den Öffentlichen), oder man blieb noch ungezwungen beim Plaudern um Wirtschaft und Politik oder Kulturerlebnisse, des vergangenen Monats.


    Bei Interesse kann ich auch über den anderen sehr strukturierten Lesekreis berichten.

  • Danke @Yurmala 

    Bitte erzähl über den strukturierten Lesekreis, das interessiert mich sehr :)

    Weil, wenn ich im K-W-D Umfeld (also Köln-Wuppertal-Düsseldorf) keinen Phantastik-Lesekreis finde, versuch ich selber mal einen zu organisieren.

  • Bei Interesse kann ich auch über den anderen sehr strukturierten Lesekreis berichten.


    Danke für die Schilderung und danke auch an @Soulprayer für die Frage, denn um ehrlich zu sein, habe ich mir die Frage auch schon öfter gestellt :uups:

    Ich würde gerne auch noch hören, wie es in dem strukturierten Lesekreis gelaufen ist :)

  • Über einen strukturierten Lesekreis kann auch bestimmt Frühlingsfee berichten, meines Wissens ist sie bei einem dabei.


    Mein Lesekreis ist 2001 entstanden als eine Freundin zurück in ihre Heimat zog. Wir waren hier drei vor Ort, die sich noch nicht sooo lange kannten, und deshalb war uns klar, dass sich die Freundschaft vermutlich verlaufen würde ohne einen Fixpunkt. Unser Fixpunkt waren dann die Bücher. :wink: Anfangs waren wir zu viert, mittlerweile sind wir zu sechst. Die fünf anderen leben in Reutlingen bzw. Tübingen, ich bin mittlerweile die einzige, die noch in BC lebt. Wir treffen uns im Abstand von ca. 6 Wochen an einem Wochenende bei einem der andren zu Hause. Für die Verpflegung sorgt in der Regel derjenige, bei dem wir sind.


    Prinzipiell geht es bei uns ähnlich zu wie bei Yurmala. Die spannendsten Diskussionen entstehen über Bücher, bei denen wir sehr uneins sind. Sind wir alle begeistert, wird es eher lau. :loool: Voraussetzung ist natürlich immer, dass alle das Buch gelesen haben. Das sorgt manchmal ein wenig für Uneinigkeit - da stehen sich dann die gegenüber, die ein Buch lieber abbrechen wenn es ihnen nicht gefällt, und diejenigen, die es auf jeden Fall fertig lesen. Aber wie will man über ein Buch sprechen wenn man es nicht gelesen hat? Nicht immer einfach....

    Auch die Entscheidung über das nächste Buch ist nicht immer leicht, da die Geschmäcker doch unterschiedlich sind. Der eine möchte möglichst nur deutsche Literatur lesen, andere schauen lieber ins Ausland, Sachbücher gehen eher schlecht (leider) - es ist oft spannend.


    Aber ich möchte den Austausch echt nicht mehr missen, denn wir haben auf diese Art schon ganz tolle Schätze entdeckt.:D

    viele Grüße vom Squirrel



    :study: Kai Seyfarth - Entscheidung in Aleppo: Walter Rößler, Helfer der verfolgten Armenier


  • Aber ich möchte den Austausch echt nicht mehr missen, denn wir haben auf diese Art schon ganz tolle Schätze entdeckt. :D

    Das kann ich nur unterstreichen. Mir wäre so manches gute Buch entgangen, wenn es nicht den Lesekreis gegeben hätte.

  • Der strukturierte Lesekreis war ein Ableger eines schon Jahrzehnte bestehenden Kreis von Teilnehmern, die gerne Bücher lesen und darüber diskutieren (klingt bekannt). Daneben schrieben die meisten selber gerne (Tagebuch, Erzählungen, moderne Lyrik). Ich gehörte zu der Hälfte, die nicht selber schreiben, sondern nur gerne lesen und über das Gelesene diskutieren.


    Wir waren 16 Teilnehmer (9 w, 8 m, altersmäßig zwischen 35 und 75, beruflich musste man am Montag ab 16 Uhr frei haben, daher Selbständige, Lehrer, Friseuse, MTA, etc.). 12 Treffen pro Jahr aber nicht monatlich, sondern 3 Mal jährlich vier Wochen in Folge (die letzten 2 Montage im Januar und ersten 2 Montage im Februar; Mai / Juni; September / Oktober). Jedes Mal wurde ein Roman besprochen. Wir kannten am Ende einer Periode die 4 Bücher der nächsten.


    Die Auswahl der Bücher traf ein kleines Komitee, von denen auch einer die Diskussion moderierte. Voraussetzung war, dass der Roman / die Sammlung Erzählungen verfilmt worden war, denn wir diskutierten im Anschluss an das Buch auch die Verfilmung(en).


    Die Diskussion begann mit der Frage: Was hat am Buch gefallen / missfallen? Reihe um fasste jeder Teilnehmer in einem Satz seine Meinung zusammen. Keiner wurde so übergangen, keiner durfte sich ausschließen und nicht antworten. (Zeit ca. 30 Minuten)

    Ein Teilnehmer brachte ein Flipchart aus seinem Büro mit und wir notierten bunt durcheinander, was jeder der Reihe nach als das Hauptthema des Buches auffasste. Ein Thema, bitte, und nicht das ganze Buch nacherzählen. Häufig überraschend wie viele unterschiedliche Hauptthemen so notiert werden. Die Auffassung der einzelnen Leser kann sehr weit auseinander gehen.

    Das am häufigste genannte Thema, manchmal auch ein zusätzliches Nebenthema, wurde anschließend diskutiert (wie angeschnitten, wie umgesetzt, wie aufgelöst, etc.) (Zeit ca. anderthalb Stunden)

    Wenn nach dieser Diskussion jemand meinte, dass wir etwas vergessen hatten, oder doch noch auf einen weiteren Punkt eingehen sollten, jetzt war dazu Zeit.


    Zum Abschluss las jeder Teilnehmer einen Satz, Redewendung oder einen Paragrafen aus dem Buch vor, der ihn besonders angesprochen hatte, an den er sich erinnern möchte und seinem persönlichen Zitatenschatz beigefügt wurde. (Zeit ca. 30 Minuten)


    Leider passte der Rhythmus dieser Lesekreistreffen so gar nicht zu meinem Arbeitsrhythmus. Ich bin nur 4 Jahre dabei geblieben, habe aber bei den Diskussionen manche neue Einsicht über das diskutierte Buch gewonnen. Dieser Lesekreis hat nach 40 Jahren(!) seine Treffen eingestellt, da einige jüngere Teilnehmer ins Ausland gezogen sind, und die Älteren der Gründergeneration :wink: im Ruhestand die Großstadt verließen.

  • Danke für die Schilderung und danke auch an Soulprayer für die Frage, denn um ehrlich zu sein, habe ich mir die Frage auch schon öfter gestellt

    Auch ein Dankeschön von mir. So ein Leserkreis würde ich auch als sehr spannend empfinden. Und wenn man sich mit den Leuten gut versteht, dann schon gleich mal doppelt so schön!

    Nimm dir Zeit für die Dinge, die dich glücklich machen.


    SuB-Leichen-Challenge 2024: Alle Bücher bis inkl. 2022 [-X

    Klassiker-Challenge 2024


  • Mein Lesekreis lief folgendermaßen ab:


    Wir waren ca. 8 - 10 Teilnehmer, je nachdem, wie die anderen Verpflichtungen aussahen. Einer war immer der König

    bzw. die Königin des Abends (das hatte ich bei Boccaccio und seinem Decamerone geklaut): er war verantwortlich für die

    Diskussion. Er/sie hatte sich entsprechend vorbereitet, vielleicht auch bisschen Zusatzmaterial mitgebracht, auf alle

    Fälle einiges an Diskussionspunkten notiert, sollte das Gespräch stocken.

    Der Abend startete damit, dass jeder seinen ersten Eindruck äußerte: Hauptthema, hats gefallen oder nicht, warum nicht und so

    fort. Die Diskussion kam fast immer von selber in Gang. König/Königin hat moderiert, manchmal auch zum Thema zurückgeführt,

    wenn die Diskussion ausuferte, bisschen zusammengefasst, einen neuen Aspekt zur Diskussion gestellt.

    Der Abend endete mit der Auswahl der neuen Buches, das ging eigentlich immer zügig.

    Und der König des nächsten Abends war dann derjenige, für dessen Buch wir uns entschieden hatten. Wobei wir darauf geachtet haben, dass

    nicht immer dieselben König waren.


    Wir haben uns fast immer bei mir getroffen, weil wir viel Platz haben. Mir wäre ein Reihum-Wechsel inzwischen lieber.

    Für Getränke und Schnabulierereien war der jeweilige Gastgeber

    verantwortlich.


    Den Lesekreis gibt es nicht mehr, schade. Ich hätte gerne einen neuen. Der Kreis hatte für mich eine gute Mischung aus Struktur und

    Zwanglosigkeit.


    :study: Edvard Hoem, Der Heumacher.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Herzlichen Dank für eure Antworten drawe  @Yurmala  Squirrel :tanzen:


    Gerade wollt ich hier mal nach dem rechten sehen und da hab ich gemertk, ich habe vergessen das Thema zu abonnieren...

    Und ich wunderte mich schon, warum meine Bimmelglocke nicht bimmelt.:pale:



    Eure Beschreibungen machen auf jeden Fall Lust auf mehr.

    Ich glaube, ich versuche mal einen selbst zu organisieren.

    Ich vermisse ein wenig anspruchsvolle und geistreiche Diskussionen.

    Wenn ich selbst organisiere wird das allerdings Phantastik sein, mal schauen, wann ich dazu komme... :)

    (PS: Interessenten im Großraum Solingen könnten mich theoretisch gern schonmal anschreiben )

  • Eure Beschreibungen machen auf jeden Fall Lust auf mehr.

    Ich glaube, ich versuche mal einen selbst zu organisieren.

    viel Spaß und Erfolg :)

    viele Grüße vom Squirrel



    :study: Kai Seyfarth - Entscheidung in Aleppo: Walter Rößler, Helfer der verfolgten Armenier


  • Hallo an alle,

    ja, ich bin auch in einem Lesekreis. Schon seit 2009, und es klappt sehr gut. ich glaube, wir sind bei 64 gelesenen Büchern seither. :)

    Wir haben eine Deutschlehrerin, die den Lesekreis moderiert. sie überlegt sich immer ein paar kritische Gedanken/Fragen zu dem Buch,z.B. wie seht ihr die Hauptperson in Bezug auf ...? Wäre das heute auch so möglich? oder ähnl. Außerdem stellt sie meist ein paar Infos über den Autor zusammen, und über die Zeit, in der unser Buch spielt.

    jeder darf und soll sagen, wie ihm das Buch gefallen hat. es kommt oft vor, dass das Buch jemand nicht gefällt. Aber wie schon gesagt, über solche Bücher kann man besser diskutieren, das ist auch unsere Erfahrung.

    Ich versuche immer, das Buch zu lesen, damit ich eine qualifizierte Meinung abgeben kann.


    Unser letztes Buch war z.B. "Fabian" von Erich Kästner, das spielt in Berlin in der Weimarer Republik. Ich hatte es schon mal angefangen, es hat mich aber nicht gepackt, und ich hatte es halb ungelesen wieder weggelegt. jetzt habe ich es mir wieder vorgenommen. beim Besprechen kamen soviele Aspekte zutage, die mir vorher gar nicht aufgefallen waren. Das findet ich sowieso am Interessantesten: jeder sieht etwas anderes in einer Geschichte! So kam zumindest die Neugier auf das Buch. Nun habe ich mir vorgenommen, zumindest ein paar der besprochenen Teile nochmals zu lesen. Mal sehen, wie weit ich komme! :uups:

    Wenn du selbst einen neuen Lesekreis gründen möchtest, suche dir Unterstützung, sprich den Buchhändler deines Vertrauens an, hänge Infozettel aus, damit deine potentiellen Mitleser dich auch finden können. Dann kommt es natürlich auf jeden einzelnen an - wenn sich jemand Geeigneter findet, der regelmäßig die Leitung übernimmt, umso besser. Es könnte aber auch jedes mal jemand anderer die Leitung übernehmen, dann hat jeder eine Vorstellung, wieviel Arbeit das ist und unterbricht beim nächsten mal nicht so viel. :-,

    Auch der Ort, wo man sich trifft, ist wichtig. Wir machen das in einem Familienzentrum. Vielleicht gibt es das bei euch auch? oder in einer Buchhandlung? Stadtbibliothek?

    Bei der Auswahl des nächsten Buches darf bei uns jeder einen Vorschlag machen. Unsere Leiterin achtet auf eine gewisse Ausgewogenheit, mal einen Klassiker, mal was Modernes, etwas deutsches, dann einen Franzosen oder Amerikaner. Aber natürlich haben wir auch unsere Vorlieben, das sieht man an der Leseliste schon deutlich. (ist auf meinem Profil nachzulesen).

    Und wenn wir uns partout nicht auf ein nächstes Buch einigen können, wird zu erst das eine, und danach das andere gelesen.


    Ich wünsche dir viel Erfolg bei deinem Lesekreis!

    Wenn du noch Fragen hast, dann frag ruhig!

    Nicht jeder, der das Wort ergreift, findet ergreifende Worte :-,


    (frei nach Topsy Küppers)